Die Liebe

1. Korinther 13

Es gibt wohl nichts, das so sehr verkannt wird, wie die Liebe. Oft ist es nur aus Egoismus, dass wir jemand lieben. Man will nicht durch die Not anderer in Mitleidenschaft gezogen werden; man wendet sich ab. Anderseits scheut man sich, jemand zu verletzen, aus Furcht, schlecht angesehen zu werden. Solche Gefühle sind das Gegenteil von Liebe. Die Liebe beschäftigt sich mit den anderen und vergisst sich für sie. Sie kann bei jemand das Böse aufdecken, aber setzt alles daran, um Heilung zu bringen. Gott ist Liebe und der Herr Jesus ist mit Worten der Wahrheit zu den Menschen gekommen: Er wurde nicht angenommen. In der Tat, Gott schont das Herz des Menschen nicht; Er zeigt ihm seinen Hochmut. Aber er erspart sich auch selbst nichts: Er gibt seinen Sohn für die Menschen. Jesus empfängt alles Böse und bewirkt alles Gute. Die Liebe Gottes macht das Böse sichtbar, aber vergibt es auch.

Sich selbst vergessen – ist also das Hauptmerkmal der Liebe. Ohne dieses nützen die besten Gaben Gottes nichts. Die Korinther rühmten sich der Gabe der Sprachen; das Fleisch missbrauchte sie. Paulus zeigt ihnen, dass die vorzüglichsten Gaben, wenn sie nicht von Liebe begleitet sind, nur den Menschen und seine Eitelkeit erheben. Ohne den Grundsatz der Liebe sind alle diese Gaben nichts.

Paulus spricht hier nur von den Auswirkungen der Liebe, nicht von der Liebe selbst. Die Liebe Gottes ist durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen. Man darf sie nicht mit eigener Liebe verwechseln, denn diese fürchtet sich, anderen wehtun zu müssen, weil man gut angenommen sein will. Liebe heisst: in Gott bleiben und Gott in uns. Gott ist ihre Quelle. Die Gegenwart Gottes und der Heilige Geist im Herzen wirkend, das ist die Quelle und die Kraft der Liebe.

Im Herzen sind die Liebe Gottes für uns und unsere Liebe für Gott nicht getrennt. Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde. Haben wir verstanden, dass Gott uns zuerst geliebt hat, dann beginnt die Liebe. Das natürliche Herz hat keinen Begriff von der Liebe Gottes; das Gewissen kann höchstens etwas von seiner Gerechtigkeit erkennen. Verwirkliche ich, dass Gott mich geliebt hat, verstehe ich, dass Er Liebe ist, weil Er einen Sünder lieben konnte? Keine Philosophie kann das verstehen.

Der Heilige Geist wohnt in meinem Herzen, um mir Gemeinschaft zu geben mit diesem Gott der Liebe (Röm 5,5). Ich kenne Gott, weil Er mich errettet hat, und ich rühme mich in Ihm. Die Seele ist in Ruhe und befriedigt, weil Gott in mir ist, durch seinen Heiligen Geist in mir wohnt. Habe ich das Bewusstsein, dass mir alles gehört, weil ich Gott besitze, so genügt mir die Fülle Gottes ganz, und ich muss nicht mehr nach dem gelüsten, was irgendein Mensch besitzt.

Haben wir Gott als unser Teil, sind wir befriedigt und wünschen nur, diese Fülle mehr zu geniessen. Das Herz ist glücklich, von allen äusseren Umständen befreit zu sein. In der Gegenwart Gottes sind wir uns unserer Kleinheit und unseres Nichts bewusst. Das vernichtet den Hochmut.

Hochmut ist das Bewusstsein, vor dem Menschen etwas zu sein. Im Gegensatz dazu unterwirft sich die Liebe den niedrigsten Diensten für den, den sie liebt. Die Liebe des Herrn Jesus für die Seinen lässt uns die lieben, die Er liebt, wenn die Gegenwart seines Geistes gespürt wird. Diese Liebe Christi lässt uns einen schwachen Bruder ertragen, wissend, dass Christus ihn liebt; das macht uns klarsehender für das Böse. Man muss nicht die Liebe suchen, um sie zu haben. Um Früchte zu bekommen, muss man den Baum beschneiden und den Boden düngen. Die Gegenwart Gottes in uns, die Gemeinschaft mit Gott und das Leben Christi in uns lassen uns diese Liebe finden. Das ist das Gegenteil von dem, was der Mensch Nächstenliebe heisst. Seinen Bruder in der Sünde lassen, aus Furcht, ihn zu verletzen, ihm weh zu tun, ist nicht Liebe.

Die Liebe ist das Vorzüglichste, und dem Grundsatz nach haben wir sie schon. Im Besitz der Liebe Gottes haben wir schon die Gewissheit der Ewigkeit unserer Freude. Gott ist ewig, und ich weiss, dass ich Ihn für immer besitzen werde, dass seine Liebe immer in mir sein wird.

Müsste ich befürchten, diese Liebe zu verlieren, wäre ich doppelt unglücklich. Aber die Liebe vergeht niemals; die besten der anderen Gaben sind nur Mittel zu vorübergehender Auferbauung. Wenn wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, wird seine Liebe mit uns sein.

Das Wesen der Liebe ist, sich nicht selbst zu schonen, um das Gute zu tun und dabei das Böse nicht zu übersehen. Es gibt kein anderes Mittel, um den Egoismus auszuschalten, als sich in der Gegenwart Gottes aufzuhalten. Und da gehen das Bewusstsein unseres Nichts vor Ihm und die Gewissheit, mit Ihm alles zu besitzen, miteinander.