Die Offenbarung (11)

Offenbarung 9

Fünfte Posaune

«Und der fünfte Engel posaunte: Und ich sah einen Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war; und ihm wurde der Schlüssel zum Schlund des Abgrunds gegeben. Und er öffnete den Schlund des Abgrunds; und Rauch stieg aus dem Schlund auf wie der Rauch eines grossen Ofens, und die Sonne und die Luft wurden von dem Rauch des Schlundes verfinstert» (V. 1.2). Dieses und das nächste Wehe sind von ihrem offensichtlich satanischen Hintergrund geprägt. Der Fall eines Sterns deutet wie zuvor in Kapitel 8,10 auf den Abfall einer grossen, aber untergeordneten Macht hin, die nicht irdischen Ursprungs ist. Es geht um eine Macht der «Fürstentümer und Gewalten», die die Finsternis dieser Welt beherrschen, eine der «geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern».

Diesem bösen Stern wird erlaubt, satanische Finsternis und Qual über die Erde zu bringen. Er besitzt «die Schlüssel zum Schlund des Abgrunds». Es ist der unergründliche, bodenlose Abgrund, in dem das Böse zurückgehalten wird, bevor es sein letztes Schicksal empfängt. In jenem Abgrund wird der Teufel vor seiner letzten Rebellion und seiner ewigen Verurteilung für tausend Jahre eingeschlossen sein (Kap. 20,1-3). Dort befinden sich vermutlich auch die Engel, die gesündigt haben, die «Ketten der Finsternis überliefert sind, damit sie aufbewahrt werden für das Gericht» (2. Pet 2,4). Zur Zeit Jesu fürchteten die Dämonen, an jenen Ort zu kommen, als sie Ihn baten, «dass er ihnen nicht gebiete, in den Abgrund zu fahren» (Lk 8,31). Aus diesem trostlosen Gefängnis steigt ein dichter Rauch auf, der das Herz für Gottes Licht verdunkelt und alle gesunden Einflüsse beeinträchtigt, was durch die Verfinsterung der Sonne und der Luft angedeutet wird.

Aber dies ist nicht alles. Es werden auch direkt dem dämonischen Bereich entstammende Kräfte entfesselt. «Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken hervor auf die Erde, und ihnen wurde Gewalt gegeben, wie die Skorpione der Erde Gewalt haben. Und ihnen wurde gesagt, dass sie nicht das Gras der Erde noch irgendetwas Grünes, noch irgendeinen Baum beschädigen sollten, sondern die Menschen, die nicht das Siegel Gottes an ihren Stirnen haben. Und ihnen wurde gegeben, dass sie sie nicht töteten, sondern dass sie fünf Monate gequält würden; und ihre Qual war wie die Qual eines Skorpions, wenn er einen Menschen sticht. Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden und werden zu sterben begehren, und der Tod flieht vor ihnen» (V. 3-6). Das Bild der Heuschrecken ist wahrscheinlich eine Anlehnung an den Propheten Joel, wo diese als Gottes «grosses Heer» bezeichnet werden und wo ihr Wüten genau beschrieben wird.

Heuschrecken sind im Orient eine bekannte und gefürchtete Plage. Wenn sie erscheinen, verfinstert sich die Luft, und keine Pflanze entgeht ihrer Gefrässigkeit. Ihre überwältigende Zahl und die völlige Hilflosigkeit des Menschen ihnen gegenüber sind Kennzeichen, auf die im vorliegenden Abschnitt besonders angespielt werden. Die hier beschriebenen Heuschrecken unterscheiden sich von realen Heuschrecken dadurch, dass sie die Pflanzenwelt unversehrt lassen, aber die Menschen, die nicht das Siegel Gottes an ihren Stirnen haben, angreifen.

Während die hier beschriebenen Gewalten in Zahl und Kraft Heuschrecken gleichen, verfügen sie über Stacheln wie Skorpione. Die durch die Stiche verursachten Qualen lassen die Menschen den Tod herbeisehnen. Der Tod aber «flieht vor ihnen». Diese Plage zielt nicht auf Verwüstung und Tötung hin, sondern führt zu unendlichen Qualen. Nur jene Personen werden betroffen, die nicht «das Siegel Gottes an ihren Stirnen haben». Da die Versiegelung nicht für die Nationen vorgesehen ist, sondern für eine ausgewählte Anzahl von Israeliten aus den zwölf Stämmen, können wir ableiten, dass diese schreckliche, aber nicht tödliche Qual, die dieses Heer von Peinigern aus dem bodenlosen Abgrund verursacht, nur für die Ungläubigen aus Israel bestimmt ist.

Die Erscheinung dieser Heuschrecken wird nun näher beschrieben: «Und die Gestalten der Heuschrecken waren gleich zum Kampf gerüsteten Pferden, und auf ihren Köpfen war es wie Kronen gleich Gold, und ihre Angesichter waren wie Angesichter von Menschen; und sie hatten Haare wie Frauenhaare, und ihre Zähne waren wie die von Löwen. Und sie hatten Panzer wie eiserne Panzer, und das Geräusch ihrer Flügel war wie das Geräusch von Wagen mit vielen Pferden, die in den Kampf laufen; und sie haben Schwänze gleich Skorpionen, und Stacheln, und ihre Gewalt ist in ihren Schwänzen, die Menschen fünf Monate zu beschädigen. Sie haben über sich einen König, den Engel des Abgrunds; sein Name ist auf Hebräisch Abaddon, und im Griechischen hat er den Namen Apollyon» (V. 7-11). Man kann vielleicht sagen, dass die historischen Eroberungszüge der Mohammedaner ein Schatten dieser Schwärme waren. Aber jene Eroberungszüge waren von viel Blutvergiessen begleitet, während bei den hier genannten «Heuschrecken» ausdrücklich gesagt wird, dass sie die Menschen nicht töten werden.

Die Hauptanwendung dieser Verse muss also etwas ganz anderes sein und liegt noch in der Zukunft. Wenn sich diese Umstände ereignen werden, wird die Übereinstimmung zwischen dem, was sich tatsächlich ereignet, und der Vorhersage für das Auge des Glaubens offensichtlich sein.

Aus der Beschreibung der Heuschrecken können wohl gewisse moralische Eigenschaften abgeleitet werden. Die Kampfpferde und die Kronen versinnbildlichen Angriffswut und Machtdarstellung. Die Erscheinung von Unverfrorenheit und Unabhängigkeit, gepaart mit echter Schwachheit und Unterwürfigkeit, finden ihr Gegenbild in den Angesichtern von Menschen und Haaren wie Frauenhaare. Die Löwenzähne deuten auf zerstörerische Gewalt hin. In den eisernen Panzern sehen wir ein Gewissen so hart wie Stahl, das unempfindlich und ohne Mitleid ist. Das Geräusch bei ihrer Fortbewegung, das dem Lärm von Kampfwagen gleicht, bezieht sich auf das grosse Chaos, das diese Heuschrecken verursachen werden. Mit ihren Schwänzen fügen sie Schaden zu, was sich wohl an Jesaja 9,14 anlehnt: «Der Prophet, der Lüge lehrt, ist der Schwanz.» Es handelt sich bei diesen Erklärungsversuchen um Mutmassungen.

Aber auch ohne das Rätsel dieser geheimnisvollen Prophetie ganz entschlüsseln zu können, kann eine allgemeine Aussage gemacht werden. Es geht nicht um materielle, sondern um moralische Schäden, die die Nachfolger von Apollyon, dem «Verderber», anrichten. Die Heuschrecken hinterlassen eine geistige Wüste. Die Skorpione fügen dem Herzen und Gewissen Schaden zu. Das physikalische Leben wird hingegen nicht vernichtet. Das Wüten der Feinde aus dem Abgrund beschränkt sich auf die ungläubigen Menschen aus dem Volk Israel und ist zeitlich auf die angeführten fünf Monate begrenzt.

So sieht also das erste der drei Wehe aus. In Vers 12 wird angekündigt: «Das eine Wehe ist vorüber; siehe, es kommen noch zwei Wehe nach diesen Dingen.»

Sechste Posaune

«Und der sechste Engel posaunte: Und ich hörte eine Stimme aus den vier Hörnern des goldenen Altars, der vor Gott ist, zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte, sagen: Löse die vier Engel, die an dem grossen Strom Euphrat gebunden sind» (V. 13.14).

Beim goldenen Altar handelt es sich um den Räucheraltar, der – obschon durch den Scheidevorhang getrennt – vor der Bundeslade mit dem Sühndeckel stand. Im Bild ist es derselbe Platz, an dem der Engel den Gebeten der Heiligen Kraft gegeben hatte (Kap. 8,3). Aus den vier Hörnern dieses Altars geht als Antwort auf diese Gebete die Anweisung hervor, die vier Engel vom Euphrat zu lösen. Dies zeigt, dass sich dieses Ereignis in der Zukunft abspielen wird.

Manchmal wird bei diesen Versen an die Geschichte erinnert. Man denkt bei den Reitertruppen vom Euphrat an die unzähligen türkischen Horden, die das Oströmische Reich überrannten und schliesslich zerstörten. Doch in unserer Zeit der Gnade kann es keine Gebete der Gläubigen geben, die eine derartige Plage erbitten.

Aber wenn der Herr Jesus Christus das Gericht auf dieser Erde vollstrecken wird, werden die dann lebenden Gläubigen darum bitten, dass Gott sich an ihren Feinden rächt. Die Katastrophen, die die Menschheit dann heimsuchen, werden eine Antwort auf ihre Bitten sein.

Der Euphrat war die Aussengrenze des Römischen Reiches. Die Erwähnung des Euphrats deutet darauf hin, dass sich das zweite Wehe auf das wiederhergestellte Römische Reich bezieht, während das erste Wehe auf den ungläubigen Teil des Volkes Israel fällt. Wir werden sehen, dass vom Herrscher des Römischen Reiches die schwersten Verfolgungen der Gläubigen ausgehen werden. Daher werden diese Strafgerichte ihn und sein Volk besonders schwer treffen. Das Heer, das Vernichtung bringen wird, ist im Voraus bereitgestellt, wird aber bis zu diesem Zeitpunkt zurückgehalten.

«Und die vier Engel wurden gelöst, die sich bereitgemacht hatten auf Stunde und Tag und Monat und Jahr, damit sie den dritten Teil der Menschen töteten» (V. 15). In diesem Vers finden wir wiederum den Begriff «der dritte Teil», was den Schluss bestätigt, dass der Schlag dem wiederhergestellten Römischen Reich gilt. Man hat versucht, aus den Worten «auf Stunde und Tag und Monat und Jahr» die zeitliche Länge dieses Wehes zu bestimmen. Aber die «Stunde und Tag und Monat und Jahr» zeigen nicht die Länge des Wehes an, sondern deuten auf den Zeitpunkt seines Beginns hin. Der Ausbruch dieses Wehes ist auf die Stunde genau bestimmt.

«Und die Zahl der Reitertruppen war zweimal zehntausend mal zehntausend; ich hörte ihre Zahl. Und so sah ich die Pferde in dem Gesicht und die, die auf ihnen sassen: Und sie hatten feurige und hyazinthene und schweflige Panzer; und die Köpfe der Pferde waren wie Löwenköpfe, und aus ihren Mäulern geht Feuer und Rauch und Schwefel hervor. Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, von dem Feuer und dem Rauch und dem Schwefel, die aus ihren Mäulern hervorgehen. Denn die Gewalt der Pferde ist in ihrem Maul und ihren Schwänzen; denn ihre Schwänze sind gleich Schlangen und haben Köpfe, und damit beschädigen sie» (V. 16-19).

Das Gericht erscheint mit der Schnelligkeit eines Pferdes und in der zerstörerischen Kraft eines Löwen. Die zahllosen Reitertruppen – 200 Millionen – zeigen mit welch unbändiger Kraft diese auftreten und das heimgesuchte Gebiet überfluten werden. Feuer und Schwefel stellen die stärkste Form dieses Gerichts dar. Es sind Symbole der ewigen Strafe. Der Rauch mit seiner verdunkelnden Wirkung ist das Mittel zur Zerstörung. Daneben tritt eine teuflische Macht, die durch die Pferdeschwänze, die Schlangen gleichen, und die Köpfe charakterisiert ist, von denen eine schädigende Wirkung ausgeht. Als Folge tritt nicht nur ein moralischer Tod, sondern auch der physische Tod ein. Eine beispiellose Vernichtung von Menschenleben und daneben eine satanische Vergiftung der Seelen kennzeichnen dieses Wehe. Die konkreten Einzelheiten werden von den Verständigen begriffen werden, wenn sich diese Dinge ereignen werden. Jetzt können sie nur in allgemeiner Weise erfasst werden.

So schrecklich dieses Wehe ist, es wird keine Buße hervorrufen. «Und die Übrigen der Menschen, die durch diese Plagen nicht getötet wurden, taten nicht Buße von den Werken ihrer Hände, dass sie nicht anbeteten die Dämonen und die goldenen und die silbernen und die kupfernen und die steinernen und die hölzernen Götzenbilder, die weder sehen noch hören, noch gehen können. Und sie taten nicht Buße von ihren Mordtaten noch von ihren Zaubereien, noch von ihrer Hurerei, noch von ihren Diebstählen» (V. 20.21). Es ist nicht genau bekannt, welcher Form von Götzenanbetung die Menschen in der Endzeit nachgehen werden, obschon uns die Offenbarung später einige Hinweise liefert. Doch aus dieser und anderen Bibelstellen muss der demütigende Schluss gezogen werden, dass sich die Entwicklung des fortschrittlichen Zeitalters schliesslich zu einer Wiedereinsetzung des Götzendienstes in der einen oder anderen Form unter den zivilisierten Nationen der Erde bewegt. Ohne Zweifel wird dieser Kult dabei eine vordergründig intellektuelle Form annehmen, die sich an die natürlichen religiösen Gefühle wendet. So entwickelten sich die Naturreligionen schon in der frühesten Menschheitsgeschichte. Doch sie sind in Gottes Augen nichts anderes als heidnische Abscheulichkeiten.

Götzendienst und moralischer Verfall sind die beiden grossen Sünden, die die alttestamentlichen Propheten anprangerten und die den Niedergang des irdischen Volkes Gottes einläuteten. Die Geschichte wiederholt sich selbst. Trotz all der menschlichen Entdeckungen und Erfindungen ist die moralische Natur des Menschen immer dieselbe geblieben. Am Ende der Zeit der Nationen werden wieder diese zwei Sünden – Götzendienst und moralisches Verderben – das Gericht Gottes nach sich ziehen.

Welch ein ernstes Bild von dem, wie weit die Verstocktheit des menschlichen Herzens gegenüber Gott gehen kann. Selbst diese schrecklichen Heimsuchungen werden keine heilsame Wirkung zeitigen. Der «wirksamen Kraft des Irrwahns» ausgesetzt, werden jene, die einst Gott in seiner Gnade verachtet haben, Ihn schliesslich auch in seinen Regierungswegen gering schätzen. Mit jedem Schlag seiner Gerichte werden die Menschen verhärteter und trotziger werden, bis sie sich wie einst der Pharao blindlings in die Flut hineinstürzen, die sie verschlingen wird. So ist der Mensch. Wie wunderbar ist die Gnade, die sich so tief zu dem gefallenen Zustand der heruntergekommenen und ruinierten Geschöpfe niedergebeugt hat und sie zu einem unermesslichen Preis für die Herrlichkeit erworben hat. «Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!»