Esra (9)

Esra 7,1-28

Kapitel 7

Wir kommen nun zum zweiten Teil dieses Buches. Im ersten Teil wurden uns die Rückkehr des Volkes von Babylon und der Bau des Tempels erzählt; im zweiten hingegen haben wir die persönliche Aufgabe und das Werk Esras. Auch da sollten wir wieder beachten, dass die Zeichen der Übergabe der Regierungsgewalt auf der Erde – von den Juden zu den Nationen – überall sichtbar sind. So wird erwähnt, dass die Mission Esras «unter der Regierung Artasastas, des Königs von Persien» begonnen hat. Tatsächlich wird der Auftrag des Königs zum Werk Esras in den Versen 11-26 ausführlich beschrieben, als Beweis, dass das Volk Gottes in diesem Zeitpunkt unter der Herrschaft der Nationen stand, und dass Gott jederzeit die Gewalten anerkennt, die ihre Quelle in seinen eigenen erhabenen Ratschlüssen haben.

Es mag dem Leser eine Hilfe sein, wenn wir den Aufbau der Kapitel 7 und 8 zuerst kurz skizzieren.

  • Nach dem Geschlechtsregister Esras (Kap. 7,1-5) folgt eine kurze Zusammenfassung von der Erlaubnis des Königs für ihn, nach Jerusalem hinaufzuziehen, von seiner Reise dorthin und vom Gegenstand seiner Mission (Verse 6-10).
  • Dann folgt der Brief des Königs, worin er Esra Vollmacht zum Handeln gibt und die nötige Unterstützung für die Ausführung seines Werkes anordnet (Verse 11-26).
  • Dieses Kapitel schliesst mit Esras Lobpreis zur Ehre Gottes, der das Herz des Königs dem Tempel des HERRN zugeneigt und ihm vor dem König Güte zugewandt hat (Verse 27.28).
  • In Kapitel 8,1-14 folgt das Verzeichnis derer, die von der königlichen Erlaubnis, mit Esra aus Babel heraufzuziehen, freiwillig Gebrauch machten.
  • Als sich diese alle beim Fluss versammelten, der nach Ahawa fliesst, stellte Esra fest, dass sich keiner der Söhne Levis unter ihnen befand und ergriff Massnahmen, um «Diener für das Haus Gottes» zu bekommen (Verse 15-20).
  • Nachdem so alles vorbereitet war, folgten zwei Dinge: Zuerst Fasten und Flehen vor Gott (Verse 21-23)
  • und dann Aussonderung von zwölf Obersten der Priester, die die Verantwortung für das Silber, das Gold und die Geräte übernehmen sollten, die «für das Haus unseres Gottes» geschenkt worden waren (Verse 24-30).
  • Schliesslich wird die Reise und die Ankunft in Jerusalem beschrieben, wie auch die notwendigen Vorbereitungen zum Beginn des Werkes Esras (Verse 31-36).

Aus all diesem geht hervor, dass die Kapitel 7 und 8 zusammen gelesen werden sollten, da sie eine fortlaufende Erzählung darstellen, von der Kapitel 7,1-10 die Einleitung bildet.

Das Geschlechtsregister Esras wird bis auf Aaron zurückgeführt (Kap. 7,1-5). Er war daher einer, der auf alle Rechte und Vorrechte des Priestertums Anspruch hatte (siehe im Gegensatz dazu Esra 2,62). Zudem war er ein kundiger Schriftgelehrter im Gesetz Moses und somit befähigt, das Volk in den Satzungen des HERRN zu unterweisen (siehe 3. Mose 10,8-11; Maleachi 2,4-7).

Priester wurde Esra durch Geburt und Weihe, aber «ein kundiger Schriftgelehrter im Gesetz Moses, das der HERR, der Gott Israels, gegeben hatte», konnte er nur durch persönliches Erforschen des Wortes werden. Selbst bei den Juden konnte das geerbte Amt nicht die Eigenschaften hervorbringen, die zu dessen Ausübung erforderlich waren; diese konnten nur durch persönlichen Umgang mit Gott aufgrund der Schriften kommen; denn während der Priester mittels seiner Hingabe durch die Gnade befähigt war, vor Gott zu dienen, konnte er dies nur dann in einer Ihm wohlgefälligen Weise tun, wenn es in Gehorsam gegenüber dem Wort geschah, und es war ihm unmöglich zu lehren, wenn er nicht selbst mit den Gedanken Gottes vertraut war. Die Vernachlässigung dieses zweiten Teiles ihres Amtes war es, die zum Niedergang und zum Ruin des Priestertums führte: In den Tagen Josias war das Wort Gottes so völlig vergessen, dass das Auffinden einer Abschrift des Gesetzes zu einem Wendepunkt in seiner Regierung wurde.

Es ist daher umso erfreulicher – wie das Entdecken einer schönen Blume inmitten einer sandigen Wüste – in Esra einen Mann zu finden, der an seiner priesterlichen Abkunft festhielt und gleichzeitig seine Freude und Kraft im Gesetz seines Gottes fand. In Vers 10 wird das Geheimnis seiner grossen Erkenntnis gezeigt: Esra «hatte sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz des HERRN zu erforschen und zu tun». Möge der Leser über diese bedeutungsvolle Feststellung nachsinnen: «Esra hatte sein Herz darauf gerichtet». So betete auch der Apostel für die Heiligen in Ephesus, dass sie an den Augen ihres Herzens erleuchtet sein und wissen möchten, welches die Hoffnung ihrer Berufung ist (Eph 1,18). Ja, dem Herzen werden die Offenbarungen Gottes gegeben, so wie sich der auferstandene Herr der Maria Magdalene am Grab offenbarte und nicht so sehr dem Verständnis seiner Jünger. Wir können diese Wahrheit nicht zu sehr betonen. Zubereitung des Herzens (und auch diese kommt vom Herrn) ist von grosser Bedeutung, sowohl für das Wortstudium, für das Gebet als auch für den Dienst der Anbetung (siehe 1. Kor 8,1-3; Heb 10,22; 1. Joh 3,20-23.)

Da ist noch etwas anderes. Wenn Esra sein Herz darauf richtete, das Gesetz des HERRN zu erforschen, so vor allem deshalb, weil er es tun wollte. Er las es nicht, um seine Erkenntnis zu vergrössern und seinen Ruf als Lehrer zu festigen, sondern damit sein Herz, sein Leben und seine Wege dadurch gebildet werden und sein eigener Wandel die Darstellung der Wahrheit und dadurch dem Herrn wohlgefällig sein möchte. Dann erst folgte das Lehren: «… und in Israel Satzung und Recht zu lehren.» Diese Reihenfolge kann nie ungestraft missachtet werden; denn wo die Lehre nicht aus einem Herzen fliesst, das selbst der Wahrheit unterworfen ist, wird sie nicht nur kraftlos sein, andere zu beeinflussen, sondern dies wird auch das Herz des Lehrers selbst verhärten. Dies ist ein Grund für so manches Versagen in der Kirche Gottes. Die Gläubigen sind immer wieder erstaunt über das plötzliche Abweichen von der Wahrheit oder gar über den Fall solcher, die den Platz von Lehrern eingenommen haben; aber immer, wenn der Diener den Zustand seines Herzens übersieht und die Wirksamkeit des Verstandes in göttlichen Dingen überbetont, ist seine Seele einer der gefährlichsten Versuchungen Satans ausgesetzt. Ein wahrer Lehrer sollte in seinem Mass wie Paulus auf sein eigenes Beispiel hinweisen können, so wie der Apostel zu den Thessalonichern sagte: «Ihr seid Zeugen und Gott, wie heilig und gerecht und untadelig wir gegenüber euch, den Glaubenden, waren» (1. Thes 2,10; siehe auch Apg 20 und Phil 3).

Ferner ist es offensichtlich, dass Esra in Gemeinschaft mit Gott hinsichtlich seiner Gedanken über sein Volk war. Sein Herz war mit ihnen, denn wir lesen, dass er beim König Erlaubnis einholte, nach Jerusalem hinaufzuziehen, und dass ihm der König all sein Begehr gab, weil die Hand des HERRN, seines Gottes, über ihm war (Vers 6). Was er wünschte, war also die Wohlfahrt und den Segen des Volkes seines Gottes, aber weil er vom König abhängig war, musste ihm die Erlaubnis zur Reise gegeben werden, denn der Herr will nicht, auch nicht für seinen eigenen Dienst, dass wir die Autorität missachten, unter die wir gestellt sind. Weil jedoch der Herr den Wunsch ins Herz Esras gelegt hatte, Ihm zu dienen, so beeinflusste Er auch den König, die Bitte seines Knechtes zu gewähren.

Wie gut ist es, uns seinen Händen zu überlassen. Wir sind oft versucht, die Hindernisse, die der Mensch uns in den Weg legen mag, zu überspringen und die Türen, die der Mensch geschlossen haben mag, mit Gewalt zu öffnen. Aber zu unserem Trost und zu unserer Stärkung ist es gut, sich daran zu erinnern, dass der Herr seinen Weg vor unserem Angesicht ebnen kann, wann immer Er will, und dass es unsere Sache ist, ruhig auf Ihn zu warten, bereit, vorwärts zu schreiten, wenn Er das Zeichen dazu gibt. Die Erkenntnis, dass die Hand Gottes über ihm war, kennzeichnete diesen hingebenden Knecht (siehe Verse 6.9; Esra 8,18.22.31 usw.), und dies war die Quelle seiner Geduld und auch seines Mutes.

Die Einzelheiten der Reise, die in den Versen 7-9 kurz erwähnt wird, werden im nächsten Kapitel näher beschrieben; und wir können daher sogleich zum Brief des Königs zur Bevollmächtigung Esras übergehen – ein Brief, der ihn zum Handeln ermächtigte, den Gegenstand seiner Mission umschrieb und ihm durch die Schatzmeister jenseits des Stromes die Mittel zur Ausführung seines Dienstes in Verbindung mit dem Haus des HERRN verschaffte, das in Ordnung gebracht werden sollte.

Sofort nach dem Gruss – ein Gruss, der zeigt, dass Esra ein treuer Zeuge unter den Nationen war – verfügt der König, «dass jeder  … vom Volk Israel und seinen Priestern und den Leviten, der bereitwillig ist, nach Jerusalem zu ziehen, mit dir ziehen mag» (Vers 13). Auch Kores hatte – wie wir im ersten Kapitel gesehen haben – dieses Vorrecht gewährt. Nun, nach Verlauf mancher Jahre, wirkte der Geist Gottes wieder durch einen anderen König, sein Volk zu befreien. Aber kein menschlicher Zwang sollte ausgeübt werden: wenn irgendjemand mit Esra hinaufzog, so musste es freiwillig geschehen. Denn Gott will nur willige Knechte haben. Wenn unter Zwang, so darf es nur der des Heiligen Geistes sein.

In den Versen 14-20 werden dann der Wirkungskreis und die Ziele des Auftrags Esras sorgfältig und in allen Einzelheiten umschrieben. Er wurde vom König und seinen sieben Räten gesandt, um nach dem Gesetz Gottes, das in seiner Hand war, eine Untersuchung über Juda und Jerusalem anzustellen (Vers 14). Ferner sollte er das Silber und das Gold unter seine Obhut nehmen, das der König und seine Räte dem Gott Israels freiwillig geopfert hatten, wie auch jenes, das er in der Landschaft Babel bekommen würde, zusammen mit den freiwilligen Spenden des Volkes usw. Dies sollte zum Ankauf von Opfertieren verwendet werden, oder was Esra und seine Brüder gut erschien, damit zu tun, «nach dem Willen eures Gottes».

Der Leser möge selber über die Einzelheiten des Auftrags Esras nachdenken. Wir möchten jedoch noch besonders auf eine oder zwei lehrreiche Einzelheiten hinweisen: Es kann nicht übersehen werden, dass dieser Monarch der Nationen alles auf den Willen Gottes bezog, oder, genauer ausgedrückt, dass alles diesem Willen unterordnet werden sollte. Es mochte sogar scheinen, dass dieser Heide in voller Gemeinschaft mit den Zielen Esras war; und wenn er den HERRN den Gott des Himmels nannte (Verse 21.23), so ist es nicht ausgeschlossen, dass die Gnade sein Herz berührt hatte. Wie dem auch sei, er traf in jeder möglichen Weise sorgfältige Vorkehrungen für die Ausführung der Mission Esras. Gleichzeitig bestellte er Esra über sein Volk «nach der Weisheit deines Gottes». Schliesslich wurden Strafen ausgesprochen für jeden Ungehorsam gegen das Gesetz Gottes und das Gesetz des Königs, die sich sogar bis zur Todesstrafe steigern konnten.

Die Lektion liegt auf der Hand, dass Gott in der Wahl seiner Werkzeuge souverän ist, und dass Er unter den Bewohnern der Erde wie auch im Heer des Himmels alles nach seinem Willen tut, und dass niemand seine Hand aufhalten und zu Ihm sagen kann: Was tust du? Eine Illustration für diese Tatsache findet sich in unserem Kapitel darin, dass Artasasta, der «König der Könige», und «der Priester Esra, der Schriftgelehrte in den Worten der Gebote des HERRN», zur Ausführung der Gedanken Gottes über sein Volk und über sein Haus in Jerusalem zusammen ins Joch gespannt werden.

Esra selbst wird mit Anbetung erfüllt, wenn er die wunderwirkende Kraft der Hand seines Gottes betrachtet. Denn nachdem er den Inhalt des königlichen Briefs wiedergegeben hat, bricht er in einen Lobgesang aus: «Gepriesen sei der HERR, der Gott unserer Väter, der dieses in das Herz des Königs gegeben hat, um das Haus des HERRN zu verherrlichen, das in Jerusalem ist, und der mir Güte zugewandt hat vor dem König und seinen Ratgebern und allen mächtigen Fürsten des Königs!» (Verse 27.28).

Dann fügt er hinzu: «Und ich erstarkte, weil die Hand des HERRN, meines Gottes, über mir war, und ich versammelte Häupter aus Israel, dass sie mit mir hinaufzögen.» Darin zeigte er sich als wahrer Mann des Glaubens:

  • Er führte alles auf Gott zurück;
  • er betrachtete nicht sich selbst;
  • für seine Seele war Gott alles in allem.
  • Es war nicht seine Bitte (Vers 6), die den König zum Handeln bewog, sondern Gott, der dies in das Herz des Königs gelegt hatte;
  • es war nicht der Einfluss Esras, der den König und seine Fürsten für sich einnahm, sondern Gott war es, der ihm in ihrer Gegenwart Güte zuwandte;
  • es war auch nicht seine eigene Macht, in der er die Häupter aus Israel versammelte, dass sie mit ihm hinaufzögen, sondern er erstarkte, weil die Hand seines Gottes über ihm war.

In diesem allem ist er ein auffallendes Beispiel für jeden Gläubigen. Glücklich der Mensch, der wie Esra gelernt hat, in der Gegenwart Gottes zu leben, den Blick über das Tun der Menschen auf die göttliche Macht zu erheben, die über sie gebietet und alles, Gunst oder Verfolgung, Hilfe oder Hindernisse aus der Hand des Herrn zu nehmen. Eine solche Seele hat inmitten der Verwirrung und des Aufruhrs der Welt und auch angesichts der Macht Satans das Geheimnis vollkommenen Friedens erfasst.