Die ersten Jahrzehnte des Christentums (45)

Apostelgeschichte 25,1-27; Apostelgeschichte 26,1-18

Kapitel 25

Verse 1-12

Als Festus nach Jerusalem hinaufging, um mit seinen neuen Untergebenen Fühlung zu nehmen, ergriffen die Juden die Gelegenheit, um gegen Paulus Anzeige zu erstatten. Die zwei seit seiner Verhaftung verflossenen Jahre hatten ihren Hass nicht abgeschwächt. Die Feindschaft gegen den Herrn schlummert nicht. Sie baten Festus, den Gefangenen nach Jerusalem kommen zu lassen, in der Absicht, ihren zwei Jahre zuvor fehlgeschlagenen verbrecherischen Vorsatz auszuführen. Der Herr liess es aber nicht zu. Sie hatten sich damit eine besondere Gunst erbeten; denn es war nach den römischen Gesetzen nicht erlaubt, einen römischen Bürger von einem Volk aburteilen zu lassen, das den Römern unterworfen war.

«Festus nun antwortete, Paulus werde in Cäsarea behalten, er selbst aber wolle in Kürze abreisen. Die Angesehenen unter euch nun, spricht er, mögen mit hinabreisen und, wenn etwas Unrechtes an dem Mann ist, ihn anklagen.»

Sie liessen nicht auf sich warten; kaum war der Statthalter wieder in Cäsarea, kamen auch sie herab, und schon am folgenden Tage setzte sich Festus auf den Richterstuhl und befahl, Paulus vorzuführen. Für keine der vielen und schweren Beschuldigungen, die nun die Juden gegen den Apostel vorbrachten, hatten sie Beweise. Paulus aber, mit einem guten Gewissen vor ihnen und vor Gott, konnte zu ihnen sagen: «gegen das Gesetz der Juden noch gegen den Tempel, noch gegen den Kaiser habe ich mich versündigt.»

Statt von seiner Autorität zur Befreiung des Paulus Gebrauch zu machen, suchte Festus, der den Juden gefallen wollte, auf Kosten der Gerechtigkeit seinen eigenen Vorteil und sagte zu Paulus: «Willst du nach Jerusalem hinaufgehen und dort wegen dieser Dinge vor mir gerichtet werden? Paulus aber sprach: Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers, wo ich gerichtet werden muss; den Juden habe ich kein Unrecht getan, wie auch du sehr wohl weisst. Wenn ich nun unrecht getan und etwas Todeswürdiges begangen habe, so weigere ich mich nicht zu sterben; wenn aber nichts an dem ist, weswegen diese mich anklagen, so kann mich niemand ihnen preisgeben. Ich berufe mich auf den Kaiser.» Das sind Worte aus einem geraden Herzen und einem guten Gewissen, an dem Ort ausgesprochen, wo die Gerechtigkeit zwischen Gut und Böse hätte richten und ihn hätte loslassen sollen, wie Agrippa später zu Festus sagte: «Dieser Mensch hätte losgelassen werden können, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte.»

So hätte es geschehen können, aber eine solche Wendung der Dinge lag nicht in den Wegen Gottes. Wie wir schon bemerkt haben: Gott stand hinter der Szene und leitete alles nach seiner Weisheit. Er griff in das Geschehen ein, ohne dass die von Ihm benutzten Werkzeuge es wussten. Er tat es nicht direkt, durch die Macht seines Geistes, wie wir es in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte und am Anfang des Dienstes des Paulus sehen. Festus wurde daran gehindert, Paulus den Juden auszuliefern; zweifellos hatte er im Sinn, das Urteil, das sie über Paulus fällen würden, zu überprüfen und zu bestätigen, um sich nachher, wie Pilatus, im Blick auf dieses Justizverbrechen die Hände zu waschen, ohne sie daran zu hindern.

Inmitten dieser Szene blieb Paulus fest und aufrecht, und Gott lenkte die Umstände nach seinem Willen. Paulus sollte nach Rom gehen, so, wie der Herr es ihm gesagt hatte, als Er ihn in der letzten Nacht, die er in Jerusalem zubrachte, ermunterte; er sollte auch in Rom von Ihm zeugen, wie er es in Jerusalem getan hatte. Um dorthin zu kommen, wäre es nicht nötig gewesen, sich auf den Kaiser zu berufen, aber der Herr erfüllte sein Wort durch dieses Mittel. Ob er in Rom frei oder gefangen war – sein Dienst zum Wohl der Versammlungen aller Zeiten sollte dort erfüllt werden.

Er ist dem Herrn auf dem Weg, den Er ging, nahe nachgefolgt. Auch die gegen ihn erhobene Anklage wurde durch falsche Zeugen gestützt, die nichts beweisen konnten. Er war Gegenstand desselben Hasses der Juden und legte vor den Menschen dieselbe Geradheit an den Tag und war von der gleichen Liebe getrieben wie sein Herr. Wenn es nach den Menschen gegangen wäre, so hätte auch diese Gerichtsverhandlung zum Tod des Angeklagten geführt, denn, wie Festus zu Agrippa sagte, suchten die Juden seinen Tod.

Verse 13-22

Der Herr hatte zu Ananias gesagt, Saulus sei ein auserwähltes Gefäss, um seinen Namen sowohl vor Nationen als Könige und Söhne Israels zu tragen. Die Gefangenschaft des Paulus war kein Hindernis, sondern eines der Mittel, um diesen Dienst zu vollbringen. Der Herr hätte Paulus auf einem anderen Wege zu den Königen führen können, aber nun wurde er auf diese Weise durch die Umstände, in denen er sich jetzt befand, hindurchgeleitet. Er hatte den Namen des Herrn vor die Nationen gebracht, und der Besuch Agrippas war die erste uns berichtete Gelegenheit, bei der dieser Name vor einen König gebracht wurde.

Agrippa und Bernice waren nach Cäsarea gekommen, um Festus zu begrüssen; und dieser benützte die Gelegenheit, um dem König die Sache des Paulus vorzulegen. Er erzählte ihm, die Juden hätten die Anwesenheit des Festus in Jerusalem dazu benützt, um von ihm einen Urteilsspruch über den Gefangenen zu verlangen. Er habe ihnen aber geantwortet, dass es bei den Römern nicht Brauch sei, einen Angeklagten auszuliefern, ehe der Angeklagte seine Ankläger persönlich vor sich habe und ihm Gelegenheit gegeben sei, sich zu verteidigen. Er fügte hinzu, die Juden seien schon nach seiner Rückkehr aus Jerusalem, am darauffolgenden Tage da gewesen; aber seine Ankläger hätten etwas ganz anderes vorgebracht, als er angenommen habe. Es seien Anklagen bezüglich ihres eigenen Gottesdienstes und wegen eines gewissen Jesus gewesen, der gestorben sei, von dem aber Paulus sage, dass Er lebe.

Es handelte sich also um Dinge, die das Judentum betrafen, und es ist verständlich, dass, als der Statthalter eine Untersuchung über solche Gegenstände vornehmen sollte, er in Verlegenheit geriet. Er sagte zu Agrippa, er habe Paulus vorgeschlagen, nach Jerusalem zu gehen, um dort gerichtet zu werden; doch verschwieg er ihm, dass er diesen Vorschlag machte, um sich bei den Juden in Gunst zu setzen.

Aus der Art und Weise, wie Festus gegenüber dem König von diesem Fall sprach, spürt man Ehrerbietung und Diplomatie eines Untergebenen gegenüber einem Vorgesetzten heraus, im Gegensatz zur Offenheit und Geradheit des Paulus. Die Berufung des Paulus auf den Kaiser musste dem Festus zu erkennen gegeben haben, dass dies geschah, weil Festus von seiner Autorität, in der er ihn hätte freigeben können, keinen Gebrauch gemacht hatte. Dessen Worte: «So kann mich niemand ihnen preisgeben» erinnerten ihn daran, dass er nicht das Recht hatte, den Juden einen römischen Bürger auszuliefern.

Ausserdem sieht man, dass Paulus durch seine Berufung auf den Kaiser die Autorität anerkennt, die Gott der Obrigkeit gibt, wie er es schon im Römerbrief bezeugt hat (Kapitel 13). Dabei hat man sich nicht um die Eigenschaften dessen zu kümmern, dem die Gewalt in die Hand gegeben ist, selbst wenn es sich um den schrecklichen Kaiser Nero handelte.

Als Agrippa den Festus angehört hatte, sprach er zu ihm: «Ich möchte auch selbst den Menschen hören.» – «Morgen», antwortete dieser, «kannst du ihn hören.»

Gerade das, was Festus nicht verstand, rief die Aufmerksamkeit des Königs hervor: Die Fragen bezüglich des Gottesdienstes und die Andeutungen über diesen «gewissen Jesus», der gestorben war, und von dem Paulus sagte, Er lebe.

Die ganze Wahrheit, die Paulus predigte, beruhte auf der Tatsache, dass Jesus, der von den Menschen umgebracht worden ist, lebt. Die übrigen Apostel verkündigten die Auferstehung des Herrn, deren Augenzeugen sie gewesen waren. Was aber das Zeugnis des Paulus kennzeichnet, der nicht Zeuge der Auferstehung des Herrn gewesen war, ist der Umstand, dass er Ihn in der Herrlichkeit lebend gesehen hat. Festus wiederholt nicht die ganze Rede des Paulus; er hat hauptsächlich die grosse Tatsache festgehalten, dass die Juden Paulus umbringen wollten, weil er immer wieder erklärte, dieser Jesus, der gestorben war, sei lebend.

Verse 23-27

Des folgenden Tages kamen Agrippa und Bernice mit grossem Gepränge in den Verhörsaal und mit ihnen die Obersten und die Vornehmsten der Stadt. Für sie war Paulus nur ein Gefangener in Ketten. Für den Herrn aber war er ein Botschafter, ein Mann, der zu einem Adel gehörte, der alles überragt, was in dieser Welt gross genannt wird. Paulus war sich dessen bewusst; er wünschte, dass nicht allein Agrippa, sondern alle, die ihn hörten, solche würden wie er war, ausgenommen seine Fesseln. Was für Gott und den Christen gross ist, scheint den Menschen unansehnlich. So mochte auch Jakob dem Pharao gering erschienen sein. In Bezug auf sein irdisches Leben bekannte dieser, dass die Tage seiner Lebensjahre wenig und böse gewesen seien. Doch, bevor er sich von dem Pharao zurückzog, segnete er diesen grossen Alleinherrscher. «Ohne allen Widerspruch aber wird das Geringere von dem Besseren gesegnet» (Heb 7,7) Der Christ sollte vor der Welt immer in dem Bewusstsein seiner Würde der Gotteskindschaft auftreten, eine Überlegenheit, die sich in Demut, in der Widerspiegelung der Wesenszüge Christi kundgibt.

Festus führte Paulus dem König Agrippa und seiner ganzen glänzenden Gesellschaft vor, um zu erfahren, wie der König über diese Angelegenheit dachte. Das konnte ihm bei der Abfassung seines Briefes, den er an den Kaiser im Blick auf den Gefangenen senden musste, behilflich sein. Es war ungereimt, einen Gefangenen zum Kaiser zu senden, ohne die gegen ihn vorliegenden Beschuldigungen darzulegen.

Kapitel 26

Verse 1-8

Als Paulus die Erlaubnis erhielt, für sich zu reden, hielt er seine Verteidigungsrede. Gleichzeitig aber stellte er seinen Zuhörern die Wahrheit vor, in ihrer vollen geistlichen Frische und ganzen Schönheit, mit grosser Freimütigkeit, in der Kraft des ungehemmt wirkenden Geistes. Während seiner zweijährigen Gefangenschaft, in der völligen Zurückgezogenheit von allem, hatte er in der Gemeinschaft mit seinem Heiland neue Kraft geschöpft.

Hier hatte er nicht zu den feindseligen Juden zu reden, und der Apostel schätzte sich glücklich, sich an den König Agrippa wenden zu können. Die Liebe, die sein Herz trieb, liess ihn hoffen, dass der König aus seinen Worten Nutzen ziehen werde; der 29. Vers zeigt, dass dies sein Wunsch war. Agrippa war zwar idumäischer Herkunft, bekannte sich aber zum Judentum; er kannte die jüdischen Bräuche und auch die Fragen, die sie bewegten, worunter gewiss auch die Frage der Auferstehung Jesu.

Paulus verstand es, sich alle Zeit allen anzupassen und bei seinen Zuhörern einen Berührungspunkt zu finden, der es ihm ermöglichte, ihnen die Wahrheit vorzustellen. Bei den Heiden von Athen gab ihm der «dem unbekannten Gott» geweihte Altar, den er im Vorbeigehen gesehen hatte, Gelegenheit, in sein Thema einzuführen. Das ist ein nachahmenswertes Beispiel für alle, die das Wort darbieten. Es gilt, das, was die Hörer beschäftigt, zu erfassen und bei der Einführung der Gedanken, die man darlegen will, darauf Rücksicht zu nehmen. Der Herr selbst tat das auf bewunderungswürdige Weise bei der Samariterin.

Der Apostel brauchte über seinen Lebenswandel von Jugend an nicht viel zu sagen; die Juden kannten ihn; er hatte als Pharisäer unter ihnen gelebt. Und wenn er jetzt vor Gericht erschien, so war es nicht wegen einer Ursache, die dem Judentum fremd war, sondern er stand hier wegen der Hoffnung auf die von Gott an die Väter geschehene Verheissung. Diese Verheissung war Christus, der in seinem tausendjährigen Reich die volle Segnung des Volkes Israel einführen sollte, eine Segnung, die sich auch auf die Nationen ausdehnen wird. Aber sie konnte sich noch nicht verwirklichen.

Wie Elia angesichts des geteilten Volkes auf dem Karmel einen Altar von zwölf Steinen aufbaute, so sah auch Paulus das Volk Israel trotz seines Zustandes in seiner Einheit. «Zu der», sagt er, «unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft.»

Vor seiner Bekehrung war er in der gleichen Verfassung wie diese Juden, von denen er, trotz ihres Unglaubens, im Blick auf den Messias sagen konnte: «Denn ich gebe ihnen Zeugnis, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis» (Röm 10,2).

In Lukas 2,36-38 wird von der Prophetin Anna berichtet, dass sie «Nacht und Tag mit Fasten und Flehen diente»; sie «redete von ihm zu allen, welche auf Erlösung warteten in Jerusalem». Der gläubige Überrest, der Christus angenommen hat, ist in die «Versammlung» eingegangen. Nach der Entrückung wird sich wiederum ein Überrest bilden, der die gleichen Charakterzüge aufweist, und das wahre Israel werden.

Der Herr, der erschienen ist, um die Verheissungen zu erfüllen, ist umgebracht worden, aber Gott hat Ihn auferweckt. Dieser grossen Tatsache widersetzten sich die Juden; das war die Ursache, weshalb sie Paulus anklagten. Was der Apostel bei dieser Gelegenheit sagte, umfasste auch die Einführung des Christentums durch die Auferstehung Christi, aber bis dahin redete er nur von dem, was auf das Volk Israel Bezug hatte.

Die Frage, die Paulus dem König vorlegte: «Warum wird es bei euch für unglaubhaft gehalten, wenn Gott Tote auferweckt?» scheint anzudeuten, dass Agrippa die Lehren der Sadduzäer teilte. Wenn es keine Auferstehung der Toten gäbe, was sollte dann aus den Vätern werden und aus allen, die im Glauben gestorben sind und die Verheissungen nicht empfangen haben (Heb 11,13)? Ohne Auferstehung kann sich keine Verheissung erfüllen. Jesus ist auferstanden, und durch Ihn wird sich zu seiner Zeit alles verwirklichen, was sich sowohl auf die Versammlung als auch auf Israel bezieht.