Die Gleichnisse des Herrn (2)

Lukas 15,1-32

a) Gleichnisse für Sünder (Fortsetzung)

Freut euch mit mir, denn ich habe … gefunden, was verloren war

Das ist die Überschrift, die wir über die drei Gleichnisse in Lukas 15 setzen möchten.

Dieses Kapitel zeigt uns die tiefe Kluft zwischen der Gesinnung des selbstgerechten Menschenherzens und der Gesinnung Gottes gegenüber den Verlorenen.

In seiner unfasslichen Liebe sucht Gott die Verlorenen zu erretten. Kein Opfer und keine Mühe sind Ihm dabei zu gross. Der Selbstgerechte aber rührt keinen Finger zur Rettung derer, die für ihn «Sünder» sind. Dass diese die Folgen ihrer Wege tragen müssen, findet er in seiner kalten Selbstsucht ganz am Platz.

Gottes Herz freut sich über jeden Sünder, der von dem «überragenden Reichtum seiner Gnade» Gebrauch macht. Der Selbstgerechte aber murrt darüber. Er verwirft die Gnade für sich selbst und will auf dem Weg der Gesetzesgerechtigkeit und der Verdienste zu Gott emporsteigen. Dass verachtete Sünder auf einem anderen Weg zu Gott kommen und von Ihm angenommen werden sollen, tut seiner eingebildeten Ehre Abbruch.

Die Pharisäer und Schriftgelehrten nehmen wahr, dass «der Lehrer von Gott gekommen» Sünder aufnimmt, mit ihnen isst und so Gemeinschaft mit ihnen pflegt (Lk 15,1.2). Das erfüllt sie mit Eifersucht. Sie sind typische Vertreter der Selbstgerechten. Wie die meisten der Juden wollten sie in ihrer Blindheit nicht einsehen, dass sie durch Gesetzeswerke nicht gerechtfertigt werden konnten, sondern dass das Gesetz sie verdammte. Sie wollten nicht erkennen, dass Gott jetzt in Christus das Zeitalter der Gnade einführte (Joh 1,14-18). Sie machten für sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos, indem sie sich weigerten, durch Buße auf den Boden der Gnade zu treten (Lk 7,30).

Ihr Einwurf: «Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen!» veranlasste aber den Herrn Jesus, durch drei Gleichnisse den unergründlichen Reichtum der Liebe und Gnade, der aus dem Herzen des dreieinigen Gottes zu den Verlorenen hin strömt, zu entfalten und ihn der traurigen Gesinnung der Pharisäer entgegenzustellen.

Gemeinsame Züge der drei Gleichnisse

In allen drei Gleichnissen wird von einem Besitz gesprochen, der «teilweise» verloren ging. Der Hirte hatte hundert Schafe. Die Frau besass zehn Drachmen. Der Vater hatte zwei Söhne. Aber ein Schaf, eine Drachme, ein Sohn waren verloren.

Sind die Verlorenen im Menschengeschlecht denn eine kleine Minderheit?

Die Menschen alle sind Gottes Geschöpfe, die Er sich erschaffen hat. Sie gehören Ihm, so wie ein Töpfer, der aus seinem Material Gefässe formt, über sie verfügen kann.

Aber schon die ersten Menschen haben auf die Stimme Satans gehört. Dadurch wurden sie seine Knechte und Sünder und haben auf diese Weise alle ihre Nachkommen in diese Stellung des Abfalls von Gott gebracht: «Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod, und so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben» (Röm 5,12). – «Alle sind unter der Sünde» (Röm 3,9). – «Da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen» (Röm 3,11.12). – «Alle haben gesündigt und erreichen, nicht die Herrlichkeit Gottes» (Röm 3,23).

Somit sind alle Menschen für Gott verloren gegangen. Er hat keinen Nutzen an ihnen. Sie dienen nicht Ihm, sondern Satan. Sie leben nicht Ihm, sondern der Sünde, indem sie den Willen des Fleisches und der Gedanken tun. Sie sind tot für ihn (Eph 2,1-3). Was der Prophet vom Haus Israel sagte, lässt sich auf das ganze Menschengeschlecht anwenden: «Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen Weg» (Jes 53,6).

Wen meinte denn der Herr mit den neunundneunzig Schafen, die in der Hürde blieben, d.h. mit den «Gerechten, die die Buße nicht nötig haben», mit den neun Drachmen, mit dem Sohn, der beim Vater blieb?

Das ist die grosse Gruppe derer – sowohl unter jenen Juden als auch unter den Menschen überhaupt –, die in ihren eigenen Augen gerecht sind. Sie sehen nicht ein, dass sie Buße tun sollten. Sie begehren keine Gnade, sondern wollen sich die Gunst Gottes verdienen.

In allen drei Gleichnissen wird sodann anschaulich dargestellt, wie Gott sich über einen Sünder freut, der Buße tut. Seine Freude ist so gross, dass sie von Ihm her auf alle übergreift, die bei Ihm wohnen. Es ist Freude «im Himmel», «vor den Engeln», eine Freude, die angefangen hat, aber nie aufhören wird. Vor dieser Freude sollte jeder Erlöste immer wieder stillstehen. Gerade wegen ihm ist eine solche Freude im Herzen Gottes und im Himmel! Kann Er noch deutlicher zeigen, mit welcher Liebe Er mich aufgenommen hat?

Aber noch aus einem anderen Grund sollten wir hier verweilen. Wenn Gott sich dermassen über einen einzigen Sünder freut, der Buße tut – in jedem der drei Fälle wird die Buße hervorgehoben –, so spornt dies einen jeden von uns mächtig an, mit ganzem Einsatz dem einzelnen Sünder nachzugehen, bis er ihn zu Jesus bringen kann.

Unterschiede in den drei Gleichnissen

Die Gnade Gottes wirkt gegenüber dem Sünder auf zweierlei Weise: Die ersten beiden Gleichnisse zeigen, wie ihn die Liebe Gottes sucht, das dritte aber, wie sie ihn aufnimmt.

Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4-7)

Der «Hirte» stellt fest, dass das Schaf verloren ist. In seinem Interesse für das Verlorene kommt er dahin, wo es ist. Er geht ihm nach, bis er es findet. Und wenn er es gefunden hat, legt er es auf seine Schultern und trägt es nach Hause. Das Schaf ging in die Irre; zu seiner Rettung aber tut es gar nichts.

Welch schönes Bild vom Herrn Jesus und den Verlorenen! Er, der Sohn Gottes, sah uns im Elend der Sünde, in der Gottesferne. Um unsertwillen kam Er herab, um als der Sohn des Menschen «zu suchen und zu erretten, was verloren ist» (Lk 19,10). In seiner unendlichen Liebe hat Er alles getan, was zu unserer Errettung erforderlich war. Der Friede und die Sicherheit des Geretteten bestehen darin, dass er auf dem Werk des Heilandes ruht und sich in keiner Weise auf eigenes Tun oder Fühlen stützt. Zum Rettungswerk des guten Hirten gehört auch, dass Er uns auf seinen starken Schultern ins Vaterhaus heimträgt.

Das Gleichnis von der verlorenen Drachme (Lk 15,8-10)

Auch die «Frau» entfaltet eine emsige Tätigkeit. Das Geldstück kann sich nicht rühren; sie aber ist es, die eine Lampe nimmt und in die Finsternis hineinleuchtet, in die die Drachme gefallen ist. Die Frau kehrt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie sie findet. Dieses Gleichnis zeigt uns mehr die gegenwärtige, intensive Wirksamkeit des Geistes Gottes in dieser Welt, um die Verlorenen zu suchen und zu überführen. Von den vielen Stellen, die seine Tätigkeit zur Rettung von Sündern hervorheben, seien nur einige angeführt:

Durch seinen Geist leuchtet Gott in das Herz der Menschen zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi (2. Kor 4,6). Dies ist der «Dienst des Geistes» (2. Kor 3,8). Er redet durch das Wort zu den Verlorenen. Zu dessen Verkündigung benützt Er die Gläubigen. Die Apostel, wie aber auch alle wahren, von Gott abhängigen Evangelisten und Zeugen des Evangeliums sind «Diener des Geistes» (2. Kor 3,6). Sie dienen in der Kraft des Geistes Gottes (Röm 15,19).

Der Geist ist es, der den für Gott toten Menschen lebendig macht (2. Kor 3,6), indem Er das Wort Gottes auf dessen Herz und Gewissen anwendet. Der Sünder kann dadurch zur Erkenntnis seiner Schuld, zur Buße und zum Glauben gelangen. Durch «Wasser und Geist» wird er von neuem geboren (Joh 3,5). Er, der bis dahin unverständig und ungehorsam war, mancherlei Begierden und Vergnügungen diente, erlebt durch den Geist die Waschung der Wiedergeburt und eine völlige Erneuerung (Tit 3,5).

Die vielfältige Wirksamkeit des Heiligen Geistes zur Rettung der Verlorenen ist also von ungeheurer Bedeutung.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32)

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn werden uns zunächst die Triebe gezeigt, die den Menschen immer weiter in den Dienst der Sünde hineintreiben, dann aber auch seine Reaktion auf das Werk der Gnade in ihm.

Das Leben des jungen Mannes beginnt im Haus seines gütigen Vaters, wo Überfluss herrscht. Aber er ist blind für alle Vorrechte, die er hier geniessen könnte. Er steht dem Vater fremd gegenüber. Die in ihm wohnende Begierde zieht ihn in die Welt hinaus, wo er der Sünde ungehemmt dienen kann. – Der Mensch ist von Anfang an verloren und in einem Zustand der Gottentfremdung. Vor den Menschen wird dies aber meist erst offenbar, wenn sich die in ihm schlummernden Kräfte des Bösen entfalten.

Sein Bruder war nicht besser als er, wenn dessen gesetzlicher Geist ihn auch äusserlich im Haus des Vaters festhielt.

Im fernen Land vergeudete der jüngere Sohn sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte und die Habe des Vaters mit Huren verprasste – ein Bild dafür, wie der sich selbst überlassene Mensch, der seine Begierden auslebt, die Gaben, womit der Schöpfer ihn ausgestattet hat, im Sündendienst verzehrt. Er wird zu einem elenden Wrack. Seine letzte Station ist der Kot, worin die Schweine sich wälzen.

Bringen die zunehmende Not und das wachsende Elend – Begleiterscheinungen des Sündenlebens – den jungen Mann denn nicht zur Einsicht und Umkehr? Nein, von sich aus wird der Mensch diesen Weg nie einschlagen. Er hängt sich vielmehr an die Bürger jenes fernen Landes. Aber «niemand gab ihm». Erbarmen und Liebe sind nur im Herzen seines Vaters zu finden.

Nun aber setzt in seinem Herzen das Werk der Gnade ein.

Der Sohn «kam zu sich selbst». Endlich gehen ihm die Augen über seinen eigenen Zustand auf. Jetzt erkennt er seine Lage: «Ich komme hier um vor Hunger.» Er weiss nun: «Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dem Vater», und: «Ich bin nicht mehr würdig, sein Sohn zu heissen.»

Auch den Vater sieht er jetzt in einem anderen Licht. Er sagt sich: seine reiche Güte gibt selbst den Tagelöhnern Überfluss an Brot; sie macht aus seinem Haus einen Ort, wo jeder glücklich sein kann.

Das Werk des Geistes Gottes führt im Herzen des Sünders also zwei Dinge herbei: Er bringt das Gewissen in Tätigkeit und zieht das Herz zu Gott. Er offenbart Ihn der Seele als den, der Licht und Liebe ist.

Diese Einsicht im Herzen des Sohnes ist so lebendig und echt, dass er sich aufmacht und zu seinem Vater geht. Solange er ihm aber noch nicht wirklich begegnet ist, kann er nicht wissen, wie gross die Gnade des Vaters ist und was er für ihn bereithält. Er hofft nur, wenigstens als Tagelöhner aufgenommen zu werden. – Aber was sagt die Schrift von Gott? «Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben» (1. Kor 2,9).

In der Tat, der Vater begegnet dem Sohn nach der Liebe, die er in seinem Herzen für ihn hat. Er hält ihm nicht sein Leben der Ausschweifung vor. Er fragt nicht nach Verdienst und Würdigkeit. Was er von ihm erwartet, ist nur ein aufrichtiges Schuldbekenntnis.

«Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr

Wie weiss doch unser Herr Jesus dem überragenden Reichtum der Gnade und Liebe, der im Herzen seines Gottes und Vaters gegenüber Sündern ist, die durch ihr Tun sein gerechtes Gericht herausgefordert hatten, durch diesen kurzen Satz so vollkommenen Ausdruck zu geben! Wahrlich, der Sohn Gottes ist gekommen, um uns das Wesen und das Herz Gottes in seiner ganzen Fülle zu offenbaren. Und nun sind wir ehemalige Sünder auf dem Weg der Buße und durch Glauben in den ungeahnten Reichtum der Segnungen eingetreten, die Gott, der Vater, nach Epheser 1 und anderen Stellen, in Christus Jesus für uns bereitet hat.

Schon darin, dass Er uns als Tagelöhner, als Knechte in Frieden aufgenommen hätte, wäre unverdiente Gnade gewesen. Aber in seinem eigenen Herzen hat Er uns «zuvor bestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst, nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade» (Eph 1,5.6). Nur ewige Anbetung kann die Antwort auf eine solche Liebe sein.

Wenn nun der Vater im Gleichnis den Heimgekehrten mit dem zärtlichsten Ausdruck der Liebe als Sohn aufgenommen hat, so will er ihn aber nicht in dessen Lumpen in sein Haus einführen, das in allem seinem Besitzer entspricht. Auf sein Geheiss wird ihm das beste Kleid angezogen, ein Ring an seinen Finger getan und Sandalen an seine Füsse gebunden. Es soll sichtbar bleiben, dass er der echte Sohn eines solchen Vaters ist.

Unser Gott und Vater konnte uns weder in den schmutzigen Lumpen der Sünde noch im Flickwerk eigener Gerechtigkeit in sein Haus einführen. Nur das beste, völlig neue Kleid, das Er selber uns gibt, kann seiner Gerechtigkeit entsprechen. Es ist Christus selbst; in Ihm sind wir Gottes Gerechtigkeit geworden (2. Kor 5,21). Es ist das beste Kleid des Himmels, in dem wir auf ewig bei dem Vater wohnen werden. In Christus besitzen wir auch alles, was wir zu einem Gott wohlgefälligen Wandel nötig haben.

Nun ist alles göttlich geordnet. Wie der Sohn im Gleichnis, dürfen auch wir jetzt am Tisch des Vaters sitzen und ungehindert und für immer Gemeinschaft mit Ihm haben. Die Freude des Vaters erfüllt sein Haus auf ewig, und wir haben unser uneingeschränktes Teil daran. «Und sie fingen an fröhlich zu sein!»

Das Evangelium der Gnade Gottes, das aus Zöllnern und Sündern glückselige Kinder Gottes macht, war auch für die Juden da: Der Vater ging hinaus und drang in den älteren Sohn, doch auch einzutreten und sich mitzufreuen. Aber die Selbstgerechtigkeit des Menschen, die nichts als Selbstsucht und Sünde ist, stösst die Gnade von sich. Er bleibt lieber draussen und stellt sich in Gegensatz zu Gott, dem er doch zu dienen vorgibt!