Die Gleichnisse des Herrn (5)

Lukas 11,5-13; Lukas 18,1-8

b) Gleichnisse vom Gebet

«Freund, leihe mir drei Brote!» (Lk 11,5-13)

Im Evangelium Lukas steht Jesus als Sohn des Menschen vor uns, der sein Leben und seinen Dienst in vollkommener Abhängigkeit von Gott erfüllt. Er wird uns hier als der gezeigt, der stets im Gebet ist (Ps 109,4).

Oft ging Er in der Nacht hinaus an einen stillen Ort, um im Verborgenen Zwiesprache mit Gott zu halten. Oft aber – wie hier – betete Er vor den Jüngern. Welch ein Beispiel für sie! Seine Gebete zeugten von einem unerschütterlichen Vertrauen in Gott (Ps 22,10.11), von einem Herzen, das nichts Grösseres kannte, als Gott zu leben und seinen Willen zu tun (Ps 40,9). Sie merkten es seinen Worten an, dass Er als Mensch unmittelbaren, vertrauten Umgang mit Gott hatte und Gott die alleinige Quelle seiner Freude und seiner Glückseligkeit war.

Wir begreifen, dass «als Er aufhörte», einer seiner Jünger ihn bat: «Herr, lehre uns beten.» So möchte auch er beten können! Auch er möchte in seiner Schwachheit in solcher Weise von den reichen Hilfsquellen in Gott und von dessen starkem Arm Gebrauch zu machen verstehen.

In seiner Antwort zählte der Herr seinen Jüngern – die noch auf jüdischem Boden standen und entsprechend den Verheissungen des Wortes ein Friedensreich auf der Erde erwarteten – einige Gegenstände auf, an die sie beim Beten denken sollten.1

Wir haben aber noch nicht beten gelernt, wenn wir nur diese Worte des Herrn auswendig lernen und tausende Male daher plappern, ohne viel zu denken. Gewiss, es ist ein erstes Erfordernis, dass unsere Gebete schriftgemäss sind. Aber sie sollen auch aus einem Herzen kommen, das von denselben Gegenständen, Zielen und Wünschen erfüllt ist, wie das Herz Jesu Christi selbst.

Hier nun fügt der Herr in Form eines Gleichnisses noch eine Ermunterung zum Ausharren im Gebet hinzu: «Wer von euch wird einen Freund haben und um Mitternacht zu ihm gehen und zu ihm sagen: Freund, leihe mir drei Brote, da mein Freund von der Reise bei mir angekommen ist und ich nichts habe, was ich ihm vorsetzen soll; und jener würde von innen antworten und sagen: Mache mir keine Mühe, die Tür ist schon geschlossen, und meine Kinder sind bei mir im Bett; ich kann nicht aufstehen und dir geben?»

Wie manches, uns vernünftig scheinendes Argument hat doch der Teufel gegen das anhaltende Vorbringen unserer scheinbar erfolglosen Bitten! Der Herr aber will uns hier ermuntern, sie mit Ausharren Gott vorzustellen, es sei denn, dass uns gezeigt wird, dass wir nicht mehr darum bitten sollen (2. Kor 12,8.9).

Wir hätten nicht gewagt, dieses Beispiel erfolgreicher Aufdringlichkeit gegenüber einem Menschen auf Gott zu übertragen. Aber der Herr selbst tut es. Er malt die Rücksichtslosigkeit jenes Gesuchstellers absichtlich aus – (er weckt den Freund um Mitternacht, macht ihm die Mühe, aufzustehen, so dass die Kinder in seinem Bett aufwachen) – und fährt dann fort: «Ich sage euch, wenn er auch nicht aufstehen und ihm geben wird, weil er sein Freund ist, so wird er wenigstens um seiner Unverschämtheit willen aufstehen und ihm geben, soviel er nötig hat.» Darauf zieht Er sogleich die Parallele und fügt hinzu: «Bittet, und es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es wird euch aufgetan werden. Denn jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden.»

Der Herr zeigt uns also, dass wir unsere Bitten beständig, ja sogar aufdringlich vor Gott bringen dürfen, wie ein Mensch in Not bei einem anderen Zuflucht sucht. Weder die Grösse Gottes noch irgendein anderer Grund soll uns hindern, unsere Herzen vor Ihm auszuschütten. Für fremde und eigene Nöte haben wir einen lebendigen, allmächtigen Gott, der Gebete hört und beantwortet. Nichts darf uns diesen Trost rauben. Wir dürfen Gott in aller Ehrfurcht so nahen, als ob Er nur auf unverschämtes Bitten hörte, und wir sollen mit Jakob sagen: «Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich» (1. Mo 32,27).

Zwischen einem menschlichen Geber und dem göttlichen Geber aller guten Gaben bestehen aber wesentliche Unterschiede.

  1. Der Freund im Gleichnis gab dem unverschämten Nachbarn, was dieser verlangte, damit er ihn loswurde. Gott aber gibt, weil dies sein Wesen ist, weil Er die Seinen nach dem Reichtum seiner Gnade liebt.
  2. Menschen, die von Natur böse sind, werden sich wohl bestreben, ihren eigenen Kindern gute Gaben zu geben, doch haben diese Gaben nur zu oft den sündhaften Charakter ihrer Geber. Gottes Gaben aber sind wahrhaft heilig und gut. Wir mögen in unserer Schwachheit oder in unserer Torheit um Dinge bitten, die uns und anderen zum Schaden wären – Gott aber gibt dem Bittenden nur was ihm gut ist.

Die Witwe und der ungerechte Richter (Lk 18,1-8)

Dieses Gleichnis steht in Verbindung mit Kapitel 17,20-36. Dort redet unser Herr vom Kommen des Reiches Gottes und den Tagen, die diesem Ereignis vorangehen. Für einen kleinen Teil des Volkes, den gläubigen Überrest, werden es Tage grosser Drangsal sein. Wegen ihrer Treue gegenüber Gott und seinem Wort werden sie von der grossen Masse des Volkes, die der gerichtlichen Vernichtung entgegengeht, verfolgt werden. Schwach und scheinbar schutzlos, müssen sie von ihren Widersachern grosses Unrecht erdulden.

Im Blick auf jene unterdrückten Gläubigen erzählte Jesus dieses Gleichnis, zum Ansporn dafür, dass sie allezeit beten und nicht ermatten sollten. Er sagte:

«Es war ein gewisser Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und sich vor keinem Menschen scheute. Es war aber eine Witwe in jener Stadt; und sie kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher. Und eine Zeit lang wollte er nicht; danach aber sprach er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und mich vor keinem Menschen scheue, will ich doch, weil diese Witwe mir Mühe macht, ihr Recht verschaffen, damit sie nicht unaufhörlich kommt und mich quält.»

Dass jener unterdrückte Überrest mit einer schwachen Witwe verglichen wird, die sich von einem starken Widersacher verfolgt sieht, leuchtet uns ein. Dass aber das Tun dieses ungerechten Richters zum Vergleich mit der Handlungsweise Gottes herangezogen wird, scheint uns auf den ersten Blick seltsam.

Und doch liegt gerade darin die grosse Überzeugungskraft dieses Gleichnisses. Selbst ein solcher Mensch, der gewohnt war, in Ungerechtigkeit zu tun was ihm beliebte und dabei weder auf Gott noch auf Menschen zu hören, sah sich gezwungen, der Witwe Recht zu verschaffen, weil sie «unaufhörlich kam» und ihn mit ihrer Bitte «quälte». Wie viel mehr wird der gerechte Gott und Richter in jenen Tagen «das Recht seiner Auserwählten ausführen, die Tag und Nacht zu ihm schreien!» In ihrer grossen Not und Drangsal mögen sie dann zwar meinen, Gott sei «in Bezug auf sie langsam». Aber sobald das Werk der Buße und der Läuterung ihre Herzen für die Aufnahme ihres Königs zubereitet hat, wird der «Sohn des Menschen» schnell wie ein Blitz kommen, um ihnen Befreiung zu bringen und ihr Recht auszuführen. Wie viele werden es dann sein, die im Glauben, durch anhaltendes Flehen, mitgeholfen haben, diesen herrlichen Ausgang herbeizuführen?

Auch uns Gläubigen der Jetztzeit gilt dieser Aufruf des Herrn Jesus, in unseren Schwierigkeiten, Nöten und Trübsalen allezeit mit dem Ausharren jener Witwe zu beten und nicht zu ermatten. Auch wir sind ja eine Minderheit in dieser Welt, die um Jesu willen oftmals Schmach und Leiden zu erdulden hat. Werfen wir alle unsere Sorge auf Gott, dürfen wir erfahren, dass Er für uns besorgt ist (1. Pet5,7). Sein Friede wird uns erfüllen und Herz und Sinn in Christus Jesus bewahren, wenn wir unsere Anliegen vor Ihm kundwerden lassen (Phil 4,6.7). Aber unsere Bitte ist nicht: «Schaffe uns Recht gegen unsere Widersacher», sondern wir legen Fürbitte ein für alle Menschen, damit sie errettet werden. Auch rufen wir immer wieder zum Herrn: «Komm, Herr Jesu!» Er kommt bald, um uns aus dieser Welt zu erretten, und kurz darauf wird Er mit uns vom Himmel erscheinen, um verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und bewundert in allen denen, die geglaubt haben (2. Thes 1,7.10).