An einer wichtigen Kreuzung in der Stadt, inmitten vorbeihastender Leute, wartet ein Mann. Die unaufhörliche Autoschlange, die sich an ihm vorbei bewegt, lässt ihn unberührt. Er verharrt in seinem aufmerksamen Warten. Fröstelnd beschleunigen die Vorübergehenden ihre Schritte, er aber sieht sie nicht, fühlt die Kälte nicht – er wartet. Plötzlich sieht er den Ersehnten aus der Richtung kommen, in die sein prüfender Blick geht. Und jetzt ändert sich alles: Sein Gesicht erhellt sich, und im Handumdrehen ist er weg.
Der Christ gleicht diesem wartenden Mann. Um ihn herum bewegt sich die unruhige Welt; aber alles in der Haltung des Gläubigen – seine innere Ruhe mitten im Tumult, sein Losgelöstsein von allem, was vergeht –, alles sollte einen lebendigen Glauben an das unmittelbar bevorstehende Wiederkommen des Herrn zum Ausdruck bringen.
Und du, lieber Freund, der du den Herrn kennst, welches Echo bewirkt die Verheissung des Herrn «Ich komme bald» in deinem täglichen Leben? Wie erwartest du Ihn heute?
Dieses Warten ist nicht passiv. Die Heilige Schrift stellt uns mehrere Eigenschaften vor, die damit verbunden sind. Nennen wir einige und denken wir darüber nach.
Geduld beim Warten
In Jakobus 5,7 «wartet der Ackerbauer … und hat Geduld». Er hat das Feld bearbeitet, den Samen gesät, und jetzt wartet er darauf, dass der Früh- und Spätregen den Boden fruchtbar macht, um die köstliche Frucht der Erde zur vollen Reife zu bringen.
Ein Same des ewigen Lebens hat in deiner Seele gekeimt: Du liebst den Herrn, obwohl du Ihn noch nie gesehen hast. Die Wartezeit mag lang erscheinen und manchmal sogar mit Leiden verbunden sein. Aber es ist das «Ausharren der Hoffnung» (1. Thes 1,3) bis zu jenem herrlichen Augenblick, da du den Urheber deines Heils von Angesicht zu Angesicht sehen wirst.
Nimm dir die Propheten zum Vorbild, die seinerzeit geduldig und oft unter manchen Leiden auf eine Antwort von Gott auf ihren Glauben gewartet haben. Oder denk an Hiob, der in seinen grossen Prüfungen die gleiche Tugend gezeigt hat (Jak 5,10.11).
Befinden wir uns übrigens nicht mitten in einer Schöpfung, die auch sehnsüchtig darauf wartet, von der Knechtschaft des Verderbens frei gemacht zu werden, um «die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes» zu geniessen (Röm 8,19-21)?
Hingabe beim Warten
Nach vollbrachtem Tagewerk hat der Knecht in Lukas 12,35-38 seine Lampe angezündet und seine Lenden umgürtet. Er wacht unermüdlich beim Warten, ohne in seiner Haltung irgendwie zu erlahmen. Wenn der Herr zu einer ihm unbekannten Zeit zurückkommt, wird er ihm «sogleich» aufmachen, bereit, den Dienst wieder aufzunehmen. Glücklicher Meister, einen so hingebungsvollen und treuen Knecht zu haben! Glücklicher Knecht, wenn sich der Meister seinerseits umgürten und ihn sich zu Tisch legen lässt und hinzutritt, um ihn zu bedienen!
Wachsamkeit beim Warten
«Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, die Wächter auf den Morgen» (Ps 130,6).
Die Stadt ist eingeschlafen, aber oben auf der Mauer steht der Wächter und wacht gewissenhaft, und der Feind weiss das sehr wohl. Angestrengt aufpassen, trotz tiefster Finsternis und bei jeder Witterung, und dabei der lang andauernden Einsamkeit und der ständigen Ungewissheit der Gefahr ausgesetzt sein: Das macht einen Menschen widerstandsfähig!
Wie der Wächter bis zum Tagesanbruch aufpasst, so wachsam wartet auch der Gläubige. Und während die Wachen aufeinander folgen, «schweigt er keinen Augenblick», sondern erinnert Gott, ähnlich wie die Nachtwächter auf den Mauern Jerusalems, an die zahlreichen Bedürfnisse seiner Stadt (Jes 62,6.7).
Ausharren im Warten
Abraham «erwartete die Stadt, die Grundlagen hat» (Heb 11,10). Unterwegs mit seinem Zelt, als Anbeter vor seinem Altar, blieb er ein Fremder und Wanderer in dem Land, das doch seinen Nachkommen verheissen worden war. Aber sein Glaubensblick, der das schier unendliche Weltall durchforschte, erkannte jenseits des Horizonts der Erde die Umrisse einer «besseren» Stadt. Er begab sich dorthin als ein unentwegter Wanderer, aber in der Gewissheit, dass er eines Tages die heilige Stadt erreichen werde – selbst wenn es durch den Tod ginge.
Und er sah schon den Augenblick voraus, wo er mit der ganzen Familie des Glaubens für immer in die Wohnstätten Gottes einziehen würde. Möchten wir im Bewusstsein, dass «das Ende aller Dinge nahe gekommen ist», lernen, sein Ausharren und seinen Glauben nachzuahmen (1. Pet 4,7).
Zuneigung beim Warten
«Und der Geist und die Braut sagen: Komm! … Ja, ich komme bald. – Amen; komm, Herr Jesus!» (Off 22,17.20).
Man sieht die Braut nicht warten, aber man hört den Seufzer ihres Herzens: «Komm, Herr Jesus!» Ihre Zuneigung zu ihrem göttlichen Bräutigam ist wach geblieben, und als seine Stimme sich hören lässt: «Ich komme bald», antwortet sie sogleich.
Lasst uns miteinander den Herrn erwarten! Erwarten wir Ihn mit denen, die seine Erscheinung lieben, du an deinem Platz und ich an meinem.
Und, wenn es sein muss, lass dir von einem Freund deine flackernde Lampe wieder neu entfachen, oder dein etwas wallendes Kleid festbinden. Und wenn wir die Notwendigkeit sehen, lasst uns miteinander gehen, um jenen Wächter aufzuwecken, der es nicht verstanden hat zu wachen, oder um einen Wanderer wieder aufzurichten, der sich entmutigt am Wegrand hingesetzt hat.
Indem wir auf die Stimme Dessen horchen, der sich am Tag, der zu leuchten beginnt, ankündigt, wollen wir denen, die Ihn nicht erwarten, und denen, die Ihn nicht mehr erwarten, zurufen: «Der Herr kommt.»