Der Brief an Philemon

Philemon

Komm, lieber Bruder! Wir wollen uns einen Augenblick mit der Gnade und Herrlichkeit unseres Gottes beschäftigen. Ist ein solches Gespräch nicht immer wohltuend?

Wie fesselnd und nutzbringend ist doch das Lesen der Heiligen Schrift, mehr als jede andere Lektüre, wenn es in Abhängigkeit von Gott geschieht! Die Bibel ist für mich wie ein persönlicher, lebendiger Brief der Liebe, den der Herr mir gerade für den jetzigen Augenblick vom Himmel gesandt hat, als Antwort auf das Gebet, das ich soeben an Ihn gerichtet habe. Er bringt mir Balsam auf so manchen Seufzer, – Verheissungen seiner Gnade für meine Bedürfnisse, – ein abgemessenes, zu Herzen gehendes und direktes Wort, durch das Er mich zurechtweist, – unermüdliche Hinweise darauf, dass ich mit Christus gestorben und auferstanden bin.

Dieser Tage war es der Brief an Philemon, der mich so sehr erbaut hat. Erinnerst du dich an die Umstände, in welchen er geschrieben wurde? Er handelt von einem eingekerkerten alten Mann, seinem wohlhabenden Freund, der 1500 Kilometer von ihm entfernt wohnt, und schliesslich von einem Sklaven, der dem Freund entlaufen ist und ihm dadurch ernsten Schaden zugefügt hat. Auf wunderbare Weise, man weiss nicht wie, ist der Sklave ausgerechnet mit dem befreundeten, gefangenen alten Mann zusammengetroffen.

Wie verhielte man sich in der Welt in solchen Umständen? – Der Sklave erhöbe bittere Anklagen gegen seinen Herrn, um sein Tun zu rechtfertigen; der alte Mann behielte den Sklaven bei sich, da er ihm nützlich ist; der Freund sänne auf Vergeltung.

Was aber geschah hier? Wovon zeugt dieser Brief? – Von einer grossen sittlichen Schönheit und Herrlichkeit!

Aber nicht von der Herrlichkeit eines Paulus, noch von der des Philemon und noch weniger von der des Onesimus, sondern von der Herrlichkeit eines Vierten, der unter und in diesen dreien war. Seine Gegenwart veränderte die ganze Lage auf eine noch wunderbarere Weise, als damals bei den drei Hebräern im Feuerofen! Dieser Vierte war: «Christus in ihnen, die Hoffnung der Herrlichkeit!»

Ja, durch die Gegenwart dieses Vierten wurden diese für uns unbedeutenden Tatsachen, diese Umstände, die sonst zum Seufzen, Murren und Streiten hätten Anlass geben können, geheiligt und durch kostbares Öl wohlriechend gemacht. Drei Herzen wurden durch ihn befähigt, Gott wohlangenehme Opfergaben darzubringen. So sind diese einfachen Mitteilungen für unzählige Generationen von Christen zu einer reichen Fundgrube kostbarer Belehrung geworden.

Durch seine Gegenwart empfingen die drei Menschen, die durch jene Umstände zu gehen hatten, nicht nur die Kraft, die Schwierigkeiten schlecht und recht zu überwinden. Im Anschauen seiner Herrlichkeit wurden sie selber verwandelt und strahlten, wie einst Mose, etwas von dieser Herrlichkeit aus. Wahrhaftig, sie waren aus der Gewalt der Finsternis befreit und in das «Reich des Sohnes seiner Liebe» versetzt!

Ihr Verhalten war nicht Berechnung; sie handelten weder aus Pflichtbewusstsein noch aus guten menschlichen Gefühlen heraus. Der Herr war es, der diese Gesinnung, die so ganz im Gegensatz zu den üblichen menschlichen Reaktionen stand, bei ihnen hervorgebracht hatte.

Der völlig mit dem Wohl der andern beschäftigte Gefangene sprach nur von Freude, von Glauben, von Liebe und Hoffnung. Obgleich angekettet, besass er immer noch die unangefochtene Autorität eines Apostels und hätte Philemon, dem begüterten und freien Bürger, Befehle erteilen dürfen. Aber anstatt ihm zu befehlen, «bat» er ihn.

Der unfügsame und seinem rechtmässigen Herrn entlaufene Sklave von ehedem war ein Erlöster des Herrn geworden und machte sich jetzt von sich aus zum Diener. Er kehrte im glücklichen Vertrauen und demütiger Haltung zu dem zurück, den er geschädigt hatte.

Und der, der das Recht hatte, mit Strenge zu verfahren, wird im Gegenteil – davon sind wir überzeugt – von Herzen vergeben, die Bitten des Apostels in Liebe erfüllt und sogar übertroffen haben.

In dem durch Barmherzigkeit gemilderten Gesetz Moses stand geschrieben: «Einen Knecht, der sich vor seinem Herrn zu dir rettet, sollst du seinem Herrn nicht ausliefern» (5. Mose 23,15). Schon aus dieser Verordnung blitzte ein Strahl der Gnade hervor. Hier aber leuchtet uns die volle Herrlichkeit entgegen: der schuldige Knecht wurde der Liebe seines Herrn «ausgeliefert»!

Mein Bruder, so oft haben wir schon in unserem Verhalten einen kühlen Wind der Eigenliebe und der Widerspenstigkeit, wenn nicht gar der Vergeltungssucht wehen lassen. Christus hat nicht immer unter uns sein können. Und wenn seine Herrlichkeit nicht in unserer Mitte ist, wird das schöne Erbteil Gottes einer Wüste gleich. Das könnte uns entmutigen. Aber es muss nicht so bleiben. In einem Augenblick kann alles wieder aufleben. Unser Leben kann jederzeit, selbst in den gewöhnlichsten, alltäglichsten Dingen durch die Gnade bereichert und von der Herrlichkeit des Herrn erfüllt werden. Nicht von den Geschwistern, die uns üben, wollen wir eine Wandlung erwarten. – Wenn wir uns in Liebe mit ihnen beschäftigen, merken wir übrigens, dass viel mehr Gutes in ihnen ist, als wir meinen. – Wir selbst sollen und dürfen erneuert werden in dem Geist unserer Gesinnung als solche, die der Vater fähig gemacht hat, am Erbe der Heiligen in dem Licht teilzuhaben.

Philemon war wohl jedes Mal bewegt, wenn er sich an den teuren, leidenden alten Mann erinnerte, dem er das wahre Leben verdankte. Aber sein Herz – wie auch das unsere – durfte sich Dem anschliessen, der grösser ist als Paulus, dem Mann der Schmerzen, der auf unserer Erde sein Blut für uns vergossen hat. So werden wir Ihn in denen lieben, die uns umgeben. Wozu von Glauben reden und von Gemeinschaft, wenn diese beiden Dinge nicht miteinander gehen und «wirksam werden» in der Anerkennung «alles Guten», das durch die Gnade in uns ist? Dieses «uns» bezieht sich sowohl auf die Apostel und die anderen Werkzeuge, durch die wir das Wort empfangen haben, als auch auf alle Gläubigen. Wenn wir das Gute «gegen Christus Jesus» anerkennen, wird es Freude und Trost geben; «das Innere» der Heiligen wird erquickt werden.

Ja, dieser Vierte, der mit den Worten dieses kürzen Briefes so innig verknüpft ist, das ist Jesus Christus, unser Herr:

  • Jesus, der göttliche Name, den Er während seiner Erniedrigung getragen hat, bleibt der Ausdruck der Schmach, die Er auf der Erde tragen musste.
  • Christus, der Gegenstand der Verheissung, musste leiden; Er ist aber auch das Haupt der Versammlung; Er ist nun mein Herr und ich sein Onesimus, sein Sklave, der Ihm dienen darf.

Ist es nicht, als ob man in dem, was hier vor sich ging, diese seine Wesenszüge praktisch wahrnehmen könnte? In bewunderungswürdiger Weise wusste der Heilige Geist in diesen wenigen Versen für einen jeden von uns ein Wort einzuflechten. Sowohl ein junger Christ kann darin schöpfen wie auch ein reifer Mitarbeiter im Werk des Herrn, eine Schwester, die ihre Hausgeschäfte besorgt, wie auch ein Vater in Christus, der in geistlicher Hinsicht Kinder gezeugt hat.

Es tut gut, mein Bruder, sich einen Augenblick in diesen Brief zu vertiefen, den Herrn dabei zu betrachten und auf Ihn zu hören. Er erteilt uns hier keine Befehle. Es scheint mir, als «bitte» Er uns, wie Paulus es tat, indem Er uns ganz einfach den Weg zum Guten zeigt in der Erwartung, dass auch wir zu seiner und unserer Freude «mehr tun werden als Er sagt.»

Haben wir die Sprache dieser kurzen Botschaft verstanden und beherzigt, werden sich wohl gewisse Dinge in unserem Verhalten ändern. Wir werden nicht mehr über andere klagen und Schlechtes über sie sagen, sondern uns vielmehr im Wohlwollen üben. Jene Person, die uns bisher völlig gleichgültig war und die doch Gott zu unserem Nächsten gemacht hat, wird ein Gegenstand unserer Liebe und unseres Interesses. Haben wir es bisher vermieden, einem Bruder die Hand zu geben, weil wir ihn nicht mochten, so lass uns jetzt zu ihm gehen.

Ja, wenn Christus vor mir und in mir ist, wird man Ihn hervorleuchten sehen wie ein Licht aus einem irdenen Gefäss. Das geschriebene Wort muss in meinem täglichen Leben ein gelebtes Wort werden. Lasst uns einander ermuntern, dass es immer so sei!