Die Ausgangslage
Hiob hat in einer fast beispiellosen Art erfahren, was Leiden für einen Menschen bedeuten können. Niemand würde sich freiwillig solchem Leid stellen. Die körperlichen Schmerzen müssen schlimm gewesen sein. Doch wir finden durch das ganze Buch Hiob hindurch – wenn er sich selbst zu Wort meldet –, dass es die unzähligen unbeantworteten Fragen seines tief verwundeten Herzens sind, die ihn völlig zermürbt und ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht haben.
Dabei helfen die drei Freunde von Hiob durch ihr Verhalten mit, die Gedanken und Überlegungen von Hiob ans Licht kommen zu lassen. Ihre teilweise sehr oberflächlichen und kurzsichtigen Gedankengänge und die eher plumpen Versuche, ihrem Freund helfen zu wollen, machen die Not Hiobs noch schwerer. Sie verleiten ihn zu Worten, die er sonst vielleicht nicht geäussert hätte. Sämtliche Versuche, die Sachlage und vor allem deren Ursache zu beurteilen, müssen fehlschlagen. Warum? Weil sie sich zu Mutmassungen hinreissen lassen, zu denen ihnen jegliches Fundament fehlt. Sie haben nichts, aber auch gar nichts in der Hand, um ihre Behauptungen zu stützen.
Da, wo etwas nicht offenbar ist, sollten wir uns nie zu solchem Tun oder Reden verleiten lassen. Da hingegen, wo eine Sache offen liegt, sollten wir ihr nicht ausweichen, sondern verantwortungsbewusst in der richtigen Haltung und in biblischer Weise damit umgehen.
Die Situation hier hat sich bei Hiob so sehr zugespitzt, dass nur noch Verbitterung und das Dunkel einer Sackgasse übrig geblieben sind. Dabei wollen wir das zweimal erwähnte Urteil Gottes über die Worte Hiobs im Unterschied zu denen seiner drei Freunde im Auge behalten: «Nicht geziemend habt ihr von mir geredet wie mein Knecht Hiob» (Kap. 42,7.8).
Die Wende
Einmal mehr ist es das Eingreifen Gottes in die Szene, das Licht ins Dunkel bringt. Zunächst äussert sich Elihu. Er weiss grundsätzlich nicht mehr als die drei Freunde. Doch er steht in einer lebendigen Gemeinschaft mit Gott und fürchtet sich, etwas zu sagen, was dem Licht der Gegenwart Gottes nicht standhalten könnte.
Dann ist es Gott selbst, der zu Hiob persönlich spricht. Er schiebt gewissermassen den Vorhang, hinter dem Er sich in seiner Allmacht, Souveränität und Herrlichkeit verbirgt, etwas beiseite. Dadurch bekommt Hiob einerseits gewaltige Eindrücke von der Grösse Gottes und gleichzeitig die Ahnung, dass er selbst nie und nimmer in der Lage sein kann, das Tun Gottes in seiner ganze Tiefe zu erkennen, geschweige denn zu begreifen.
Der andere Blickwinkel
«Ich weiss, dass du alles vermagst und kein Vorhaben dir verwehrt werden kann. Wer ist es, der den Rat verhüllt ohne Erkenntnis? So habe ich denn beurteilt, was ich nicht verstand, Dinge, zu wunderbar für mich, die ich nicht kannte» (Kap. 42,2.3).
Wir wollen bedenken, dass sich zum Zeitpunkt, da Hiob diesen Ausspruch tut, seine Situation rein äusserlich in keiner Weise verändert hat. Hiob sitzt im Staub, völlig entstellt durch seine Krankheit, mit beinahe unerträglichen körperlichen Schmerzen, mit der Trauer über den Verlust seiner Kinder und im Bewusstsein alles dessen, was er an Hab und Gut verloren hat. Was ist passiert, dass er solche Worte äussert, die von einer völlig veränderten inneren Haltung zeugen?
Es scheint, dass trotz der äusseren Not der Sturm in seinem Herzen gebannt und Frieden in seine verwundete Seele eingezogen ist. Auf die vielen «Warum?», die im Verlauf der Kapitel über seine Lippen gekommen sind, hat er keine einzige direkte Antwort bekommen. Und doch scheint es, dass plötzlich ein ganz anderer Hiob spricht. Wie kommt das? Was ist passiert? Der Eindruck der Grösse Gottes lässt seine Situation und seine Fragen in einem anderen Licht erscheinen.
Eine Lektion – auch für uns
Wir müssen bedenken, dass Hiob nicht gewusst hat, welches Ziel Gott mit dieser Prüfung verfolgt hat. Der HERR sagt es ihm nicht, aber Er will Hiob um das Doppelte segnen. Das sind die Gedanken im Herzen Gottes.
Es gibt jedoch ein Hindernis im Herzen Hiobs, das aus dem Weg geräumt werden muss. Aus den Aussagen von Hiob können wir erkennen, dass es in seinem Herzen etwas gibt, das man als eine Art von Selbstverständnis bezeichnen könnte. Weil er sich keines Fehlverhaltens bewusst ist, kann er nicht begreifen, warum er durch solche Leiden gehen muss. Hiob muss lernen, dass Gott ihm gegenüber in keiner Weise verpflichtet ist. Er segnet zwar gern und ist ein Erhalter aller Menschen, besonders der Gläubigen (1. Tim 4,10). Gott ist auch keinem Menschen Rechenschaft für das schuldig, was Er tut, obwohl Er den, der gottesfürchtig lebt, zum Vertrauten seiner Gedanken machen will (Ps 25,14).
Gott will hier einerseits den Glauben und das Vertrauen von Hiob sichtbar werden lassen und sich anderseits im Leben dieses Mannes durch das verherrlichen, was Er ihm an äusserem Segen und an Erkenntnis seiner Herrlichkeit gibt. Wenn das bei Hiob schon so ist, wie viel mehr ist dies bei uns, den Gläubigen der Gnadenzeit, der Fall. Wir stehen in glücklicher Kindesbeziehung zu Gott als unserem Vater. Wir dürfen das, was Gott mit uns tut, und die Wege, die Er uns führt, nicht einfach auf uns selbst beschränken. Gott handelt mit uns auch im Blick auf unser Umfeld.
Auflehnung oder Unterordnung?
«Darf wohl der Ton zu seinem Bildner sagen: Was machst du?» (Jes 45,9). Diesen Aspekt aus der Geschichte von Hiob wollen wir etwas herausstreichen. Gott hat eine Absicht, einen individuellen Plan mit jedem einzelnen seiner Geschöpfe – auch mit dir und mir. Wie stelle ich mich dazu? Bin ich von Herzen bereit, den Willen Gottes für mein Leben zu erfragen, um mich darunter zu stellen? Wie verhalte ich mich, wenn mein Leben von den Möglichkeiten und Einschränkungen her so verläuft, dass die eigenen Wünsche und Vorstellungen darin keinen Platz zu haben scheinen? Wir reden hier nur von Gott wohlgefälligen Wünschen, wie zum Beispiel Gesundheit, Heiraten oder Kinderwunsch. Was ist, wenn auch nach langem Warten so ein Wunsch nicht in Erfüllung geht und das Herz darüber krank zu werden droht? «Lang hingezogenes Harren macht das Herz krank, aber ein eingetroffener Wunsch ist ein Baum des Lebens» (Spr 13,12).
Wir wollen nicht leichtfertig über solche Prüfungen denken oder gar reden. Eins ist aber trotzdem sicher: Es ist niemals die Absicht Gottes, dass ein Gläubiger an Schwerem im Leben innerlich zugrunde geht. «Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, so dass ihr sie ertragen könnt» (1. Kor 10,13).
Wir können auch bei Hiob sehen, dass in seinem Herzen eine gewisse Auflehnung oder ein Widerstand gegen diese Leiden war, die über ihn gekommen sind. Das können wir gut verstehen, erkennen aber aus dem ganzen Text: Gerade diese innere Rebellion hat seine Nöte nur verschlimmert. In Sprüche 8,36 sagt der Herr als die personifizierte Weisheit: «Wer aber an mir sündigt, tut seiner Seele Gewalt an.»
Dann finden wir eine zusätzliche Begleiterscheinung dieser inneren Haltung, die übrigens nicht nur bei Hiob festzustellen ist. In seiner zweiten Rede (Kap. 6 und 7) kommen die Begriffe mir, mich und ich über 80-mal vor. Allmählich dreht sich alles nur noch um ihn selbst und die eigene Not. Sein Gesichtsfeld beschränkt sich nur noch auf die eigene Situation und damit auf die eigene Person. Es ist praktisch unmöglich geworden, das Umfeld und damit die Rechte und Bedürfnisse der eigenen Umgebung wahrzunehmen. Ein erschreckend elender Zustand einer geprüften Seele! Eine Spirale, die uns nach unten zieht! Wie kann man hier nur herauskommen?
Der Triumph des Glaubens
Exakt in dem Moment, da er einsieht, dass es nicht nötig ist, auf alles eine Antwort zu bekommen, und er sich vertrauensvoll unter die mächtige Hand Gottes demütigt, wird es in seinem Herzen völlig ruhig (vgl. 1. Pet 5,6). Was für ein Kampf! Aber auch was für ein Sieg! Die Erkenntnis der Grösse Gottes führt ihn an den Platz, der uns Menschen vor Gott geziemt – in den Staub. Schon der Psalmist bezeugt: «Bevor ich gedemütigt wurde, irrte ich.» – «Es ist gut für mich, dass ich gedemütigt wurde.» – «Ich weiss, HERR, dass deine Gerichte Gerechtigkeit sind und dass du mich gedemütigt hast in Treue» (Ps 119,67.71.75). Ist das nicht eine grosse Gnade? Wir müssen nicht alles begreifen können, was Gott tut und wie Er es tut! Wir sind vielmehr eingeladen, unser grosses Beispiel, den Herrn Jesus, nachzuahmen. Er ist der einzige Mensch, der von sich sagen konnte: «Ich bin von Herzen demütig», – und ebenfalls jederzeit antworten konnte: «Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir!» (Mt 11,29.26). Kein einfacher, aber ein glücklicher Weg!