Der Mann der Schmerzen

Jesaja 53

Wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des HERRN offenbar geworden? Ernste Frage, auf welche der Prophet keine Antwort gibt! Er überlässt dies dem Herrn selbst. Nachdem der Herr die Städte, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, gescholten hatte, weil sie nicht Buße getan hatten, nachdem also der Arm des HERRN seinem Volk offenbar geworden war und dieses Volk Ihn verworfen hatte, «zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast» (Mt 11,25). Das ist die göttliche Antwort auf die Frage des Propheten. Die Weisen und die Verständigen dieser Welt haben das 53. Kapitel des Jesaja gelesen, ohne es zu verstehen; aber «die Weisheit seiner Weisen wird zunichtewerden, und der Verstand seiner Verständigen sich verbergen» (Jes 29,14). In seiner Gnade hat der Herr die Unmündigen zu sich gerufen, und ihnen ist Christus als «Gottes Kraft und Gottes Weisheit» offenbart worden (1. Kor 1,24). So wollen wir Ihn denn als Unmündige für einige Augenblicke in diesem bekannten Kapitel des Propheten betrachten.

Und er ist wie ein Reis vor Ihm aufgeschossen, und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. – Ja, ein dürres und durstiges Erdreich ohne Wasser war der Wohnort des Menschen geworden, ein Boden, über den wegen seiner Sünde der Fluch ausgesprochen werden musste. Die Erde bringt nun Dornen und Disteln hervor, und mit diesen Dornen haben die Menschen das heilige Haupt des Herrn der Herrlichkeit gekrönt. Diese Erde kann unmöglich die Seelen nähren und ihren Durst stillen. Auf dieser Erde, diesem «lechzenden Land ohne Wasser», hat einst David gewünscht, die Macht und die Herrlichkeit Gottes zu sehen (Ps 63,2-3). Er sah sie damals noch nicht; aber nun ist aus dem Stumpf Isais ein Reis hervorgegangen, und ein Schössling aus seinen Wurzeln hat Frucht gebracht (Jes 11,1). Er, der «die Wurzel und das Geschlecht Davids» genannt wird (Off 22,16), der vor David war und immer und ewig König bleiben wird, obwohl Er jetzt noch verworfen ist, Er, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, sondern vom Himmel, Er ist auf dieser Erde einen Weg gegangen, der in der Krippe begann und am Kreuz endete.

Er hatte keine Gestalt und keine Pracht. – Welche Pracht konnte Der in den Augen der Menschen haben, welcher, da Er in Gestalt Gottes war, Knechtsgestalt annahm? (Phil 2,6.7). Es gab ein paar Menschen, die «für sich allein» auf den Berg geführt wurden (Mk 9,2), die seine Herrlichkeit schauten, «eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater» (Joh 1,14). Aber von seiner moralischen Herrlichkeit, die aus Ihm hervorstrahlte, haben die Ihn umgebenden Volksmengen nichts bemerkt, weil Er «kein Ansehen hatte, dass wir ihn begehrt hätten». Nach wem stand einst alles Begehren Israels? (1. Sam 9,20). Nach einem Mann, der schöner war als alle Männer Israels, der von seiner Schulter an aufwärts höher war als alles Volk (1. Sam 9,2), nach Saul, einem ungehorsamen Mann, den Gott verwerfen musste. Als aber der vollkommen gehorsame Mensch erschien, der gekommen war, nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen, da haben selbst jene, die Nutzniesser seiner Wohltaten waren, anstatt ihn zu begehren, Ihn gebeten, «dass er aus ihren Grenzen weggehen möchte» (Mt 8,34).

Er war verachtet und verlassen von den Menschen. – «Er kam in das Seine; und die Seinen nahmen ihn nicht an» (Joh 1,11). Im Anfang des sechsten Kapitels des Johannes-Evangeliums wird uns mitgeteilt, dass dem Herrn Jesus eine grosse Volksmenge nachfolgte, weil sie die Zeichen sahen, die Er tat; und in seiner Gnade speiste Er sie. Aber am Ende desselben Kapitels waren nur noch die Zwölf bei Ihm, die Er fragen musste: «Wollt ihr etwa auch weggehen?» Von diesen Zwölfen war einer ein Teufel, und die übrigen hatten später nicht die Kraft, bei Ihm zu bleiben: «Da verliessen ihn die Jünger alle und flohen» (Mt 26,56).

Ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut. Als solchen zeigen Ihn uns viele der Psalmen. Er war während seines ganzen Lebens mit Leiden vertraut, als Er, der Heilige und Gerechte, eine Welt durchschritt, in der die Sünde und der Tod herrschte, und Er litt unter dem Hass des Menschen gegen Gott. Er wusste, was Leiden war: Ein lang andauernder Schmerz, der bis zum Tod anhielt. Er war der Mann der Schmerzen in Gethsemane, als sein Schweiss im ringenden Kampf wie grosse Blutstropfen wurde, die zur Erde herabfielen. Er war ein Mann der Schmerzen am Kreuz, als selbst sein Gott Ihn verliess. An seinem Leib und in seiner Seele hat Er unergründliche Qualen und Schmerzen erduldet, und das alles für uns.

Weil sein Antlitz die Merkmale seiner Leiden trug, war sein Aussehen entstellt, mehr als irgend eines Mannes. Jene, für die Er sie doch freiwillig auf sich genommen hatte, wandten sich voller Abscheu und Verachtung von Ihm ab, wie von einem, vor dem man das Angesicht verbirgt; Er war der «Abscheu der Nation» (Jes 49,7).

Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet. – Um seinen Ruf nicht zu gefährden, kam Nikodemus einst in der Nacht zu Ihm, weil Jesus der «von jedermann Verachtete» war. Und als ein Pharisäer Ihn zu Tisch lud, da erwies ihm dieser nicht einmal die Ehre, die man doch nach der damaligen Sitte selbst den Geringsten erzeigte: Er gab Ihm kein Wasser für die Füsse (Lk 7,35-50). Mit einer solchen Verachtung begegnete man dem Herrn der Herrlichkeit!

Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat Er auf sich geladen, nicht nur, als Er das Sühnungswerk des Kreuzes ausführte, sondern auf seinem ganzen Weg. «Sie brachten viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit einem Wort, und er heilte alle Leidenden», so dass sich erfüllte, was durch Jesaja prophezeit worden war: «Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten» (Mt 8,16-17). Seine Erbarmungen sind dieselben geblieben; sie sind unerschöpflich und ewig, und sie wenden sich nun auch uns zu: «Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe» (Heb 4,15-16).

Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt. – Die Menschen haben Gott eine Herausforderung entgegengeschleudert, als sie den gekreuzigten Herrn verspotteten und sagten: «Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn. – Auf dieselbe Weise aber schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren» (Mt 27,43-44). Und selbst die, welche Ihn nicht ausdrücklich herausforderten und schmähten, hielten Ihn, den Gekreuzigten, für einen, der von Gott gestraft wurde.

«Doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen.» «So weit der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Übertretungen» (Ps 103,12). Deshalb ist Er verwundet worden. «Wenn jemand zu ihm spricht: Was sind das für Wunden in deinen Händen? So wird er sagen: Es sind die Wunden, womit ich geschlagen worden bin im Haus derer, die mich lieben» (Sach 13,6). Doch um unserer Missetaten, um unserer Ungerechtigkeiten willen wurde Er zerschlagen. Um ihretwillen musste Er sagen: «Meine Ungerechtigkeiten haben mich erreicht, dass ich nicht sehen kann; zahlreicher sind sie als die Haare meines Hauptes, und mein Herz hat mich verlassen» (Ps 40,13).

Die Strafe zu unserem Frieden lag auf Ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden. Der Mensch hat sich gegen Gott empört und daher: «kein Friede dem Gottlosen! spricht mein Gott» (Jes 57,21). Kein Mensch, der den Heiland noch nicht besitzt, kann sagen, er habe Frieden; denn nur «Er ist unser Friede» (Eph 2,14). Wir haben Frieden mit Gott und besitzen einen Frieden, den uns niemand rauben kann, den Frieden Gottes selbst, der allen Verstand übersteigt (Röm 5,1; Phil 4,7). Aber um uns diesen Frieden zu erwerben, musste Er unsere verdiente Strafe tragen: «Durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.»

Wir alle irrten umher wie Schafe. – «Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und hingestreckt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben» (Mt 9,36). Die Schafe sind Tiere, die sich nicht verteidigen können und unfähig sind, sich selbst zu führen und zu leiten. Wenn der Hirte nicht bei ihnen ist und sie sich selbst überlassen sind, sind sie immer in Gefahr. Ermattet und versprengt – das war der Zustand von uns allen, die wir den Weg des Heils suchten. «Wir wandten uns jeder auf seinen Weg», einen Weg des Eigenwillens, auf dem wir uns immer weiter von Ihm entfernten. Aber Er, der gute Hirte, ist gekommen; Er hat seine Schafe errettet und gesammelt und sie auf grüne Auen geführt. Er ist es, der seine Schafe gesucht, oft sehr weit gesucht hat, um sie zu Schafen seiner Herde zu machen. Aber damit dies möglich würde, hat «der HERR ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit». Wenn wir jetzt zu dieser einen Herde seiner teuer Erkauften gehören, so nur deshalb, weil Er, das Lamm Gottes, den schmerzensreichen Weg, der ans Kreuz von Golgatha führte, eingeschlagen hat.

Er wurde misshandelt, aber Er beugte sich. Er «fing an betrübt und beängstigt zu werden. Dann spricht er zu ihnen: Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tod» (Mt 26,37-38). «Und tat seinen Mund nicht auf.» – «Der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts? Was bringen diese gegen dich vor? Jesus aber schwieg» (Mt 26,62.63). «Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf.» – «Dann spien sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten; einige aber schlugen ihm ins Angesicht und sprachen: Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich schlug?» (Mt 26,67.68). Auch vor Pilatus schliesslich, angeklagt von den Hohenpriestern und Ältesten, «antwortete er nichts» (Mt 27,12).

Aber die Befreiung kam. «Er ist weggenommen worden aus der Angst und aus dem Gericht. Und wer wird sein Geschlecht aussprechen? Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.» – Sein Geschlecht ist nicht irdischer Art, seine Familie, die aus allen denen zusammengesetzt ist, die sein Wort aufgenommen haben, ist nicht irdisch, sondern himmlisch, denn diesen «gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben» (Joh 1,12).

Doch dem HERRN gefiel es, Ihn zu zerschlagen. – Es gefiel Ihm – O unerforschliches Wunder! Wie könnten wir je die Liebe Gottes ergründen, die Ihn freiwillig seinen eigenen Sohn hingeben liess, um Ihn am Kreuz leiden zu lassen!

Aber eine herrliche Belohnung ist nun sein Teil. Er, der seine Seele zum Schuldopfer gestellt, der den Ansprüchen der Gerechtigkeit Gottes vollkommen entsprochen, der uns bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz geliebt hat, wird schweigen in seiner Liebe (Zeph 3,17), weil die ganze Fülle der Segnungen, die Er für die Seinen bestimmt hat, Wirklichkeit geworden sind, «und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein» (Jes 11,10), nicht nur während des Tausendjährigen Reiches, sondern während der Ewigkeit. «Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.»