Die Frauen hatten den Herrn auf dem ganzen Weg von Galiläa begleitet, als Er sein Angesicht festgestellt hatte, um nach Jerusalem hinaufzugehen. Sie hatten Ihm Tag für Tag treu gedient. Sie hatten Ihn gesehen, wie Er vor Pilatus stand, und gehört, wie die Volksmenge schrie: «Kreuzige, kreuzige ihn». Sie waren ohne Zweifel auch dabei, als Er verhöhnt, beschimpft, geschlagen und mit einer Dornenkrone gekrönt wurde und als Er die Zielscheibe des Spottes und der Misshandlung vonseiten der Soldaten und der Volksmenge war. Sie hatten Ihn gesehen, wie Er, das Kreuz tragend, nach Golgatha hinausging, wie Er dort ans Kreuz geheftet und mit Essig getränkt wurde. Sie hatten den Schmerzensschrei gehört: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Er bedeutete alles für sie, hatten sie doch aus Liebe zu Ihm alles aufgegeben; und ihre Herzen, die seine Liebe geschmeckt hatten, waren aufs tiefste verwundet.
So wenig wie die Jünger hatten sie seine Worte verstanden, als Er ihnen die Dinge ankündigte, die über Ihn kommen sollten und als Er von seiner Auferstehung sprach. Was blieb ihnen anders übrig, als ihren schlichten Dienst bis ans Ende, ja bis zum Grab auszuführen?
So waren denn diese Frauen am Freitagabend hinausgegangen, um zu sehen, wo Er hingelegt wurde, damit sie Ihn dann früh am ersten Tag der Woche wieder finden konnten. Wenn sie nur wenigstens noch einmal ihren geliebten Meister im Grab sehen und als letzte Ehrung, als letzten Beweis ihrer Liebe, seinen Leib einbalsamieren durften!
Am ersten Wochentag machte sich diese kleine Gruppe von Frauen dann in aller Frühe auf den Weg, um den Herrn aufzusuchen und sich dem Ort zu nahen, wo sein Leib lag. Aber sie wussten, dass ein Hindernis vor ihnen war, das ihnen den Weg zu ihrem Herrn versperrte, ein für ihre Kraft unüberwindliches Hindernis: Ein «gewisser» Stein verschloss den Eingang zum Grab. «Wer wird uns den Stein von dem Eingang der Gruft wegwälzen?» Würden sie an Ort und Stelle den nötigen Beistand finden, um den Stein wegzuwälzen? Hätten sie jemand mitnehmen sollen, der stärker war als sie? Hatten sie wohlgetan, sich am frühen Morgen schon zur Gruft zu begeben, zu einer Stunde, wo der Ort vielleicht öde war? Das alles mag ihre Gedanken beschäftigt haben; aber nichts konnte sie in ihrem Gang zu ihrem Herrn aufhalten. Wohl meinten sie, einem gestorbenen Herrn entgegenzugehen, von Dessen Auferstehung sie noch nichts wussten, aber Er war Der, den Maria von Magdala mein Herr nennen konnte.
Sie hatten wenig Kraft, wenig Erkenntnis, ein schlechtes Gedächtnis; aber die Liebe erfüllte ihre Herzen, und der Herr antwortet immer auf die Liebe der Seinen, wenn auch alles in Schwachheit und Unwissenheit geschehen mag. Seine Antwort ging sogar der Kundgebung ihrer Not voraus und Er kam ihrem Glauben zuvor. «Und als sie aufblickten, sehen sie, dass der Stein weggewälzt ist.» Auf welche Weise? Durch wen? Wie dem auch sei, der Zugang zum Ort, wo ihr Herr hingelegt wurde, war offen! Sie vernahmen dort – und das übertraf den schwachen Glauben dieser Frauen bei weitem – dass ihr Herr, den sie, wenn auch gestorben, so sehnlichst zu sehen begehrten, auferstanden war und dass sie Ihn mit ihren eigenen Augen lebend sehen sollten!
Wie oft haben wir nicht schon ähnliche Erfahrungen gemacht! Wir begegneten Schwierigkeiten, die in unseren Augen ungeheuerlich und unüberwindbar waren und unserem Glauben den Weg zu unserem Herrn zu versperren schienen. Diese Hindernisse veranlassten uns vielleicht, bei Menschen Hilfe zu suchen, anstatt beim Herrn, der uns allein Hilfe gewähren wollte und konnte. Aber diese Hindernisse auf unserem Weg waren da, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen und uns zu zeigen, dass wir es ja mit einem lebendigen Herrn zu tun haben. Ja, Er erweist sich als der, der immer lebt, um sich für uns zu verwenden. Der Stein ist weggewälzt und der Zugang weit offen, nicht zu einem Grab, sondern zum Heiligtum seiner Gegenwart.