Der Prophet Jesaja (1)

Jesaja 1

Einführung

Nach den Büchern Mose ist das Buch des Propheten Jesaja das wichtigste des ganzen Alten Testaments, denn es wird im Neuen Testament von allen Propheten weitaus am meisten zitiert. Diese einfache Feststellung zeigt die Wichtigkeit dieses bemerkenswerten Buches.

Jesaja prophezeite während einer langen Zeitspanne: in den Tagen Ussijas, Jothams, Ahas’ und Hiskias, der Könige von Juda. 2. Chronika 32,32 lässt uns sogar vermuten, dass der Prophet den gottesfürchtigen König Hiskia überlebt hat, was einen Dienst von mehr als 60 Jahren ausmachen würde.

Das Wort gibt uns wenig Auskunft über Jesaja selbst. Er war der Sohn von Amoz; wir wissen nichts weiteres über seinen Vater. Die menschliche Überlieferung, deren Wert immer bestritten werden kann, berichtet uns einiges über den Propheten; wenn uns dies nützlich gewesen wäre, hätte es uns der Heilige Geist mitgeteilt. Im Bereich der göttlichen Dinge muss uns das, was das Wort uns sagt, genügen, denn das Wort ist vollkommen und folglich auch vollständig.

Jesaja hat zum Volk gesprochen, als es noch in Verbindung zum HERRN stand und als Volk Gottes anerkannt war. Der grosse Feind, der erwähnt wird, ist der Assyrer, und nicht das römische Tier, wie es in anderen Büchern, zum Beispiel im Propheten Daniel, der Fall ist.

Das Buch Jesaja kann in zwei klar erkennbare Teile gegliedert werden. Der erste Teil enthält die Kapitel 1 bis 39 und der zweite die Kapitel 40 bis 66. Der erste Teil stellt eher die historische Seite der Geschichte des Volkes vor, während dem der zweite uns vor allem den moralischen Zustand mitteilt. Das Buch Jesaja kann man ferner nach der folgenden Übersicht in sieben Abschnitte unterteilen:

Erster Abschnitt:

Kapitel 1 bis 12. – Prophezeiungen in Bezug auf Israel. Der Prophet prangert hier die Schuld des Volkes an. Er verkündigt das Gericht, das die Juden erreichen wird, das Kommen des Messias und die Befreiung am Ende.

Zweiter Abschnitt:

Kapitel 13 bis 27. – Aussprüche, die das Gericht der Völker betreffen, die eine Verbindung zu Israel hatten.

Dritter Abschnitt:

Kapitel 28 bis 35. – Einzelheiten in Bezug auf das, was bei der Vollendung des Zeitalters geschehen wird. Es sind die Ereignisse des Endes, die für die Erlösten eine ewige Freude herbeiführen werden.

Vierter Abschnitt:

Kapitel 36 bis 39. – Dieser bemerkenswerte Teil des Buches zeigt uns in Form eines geschichtlichen Berichts drei grosse Themen der Geschichte des Volkes:

  1. Der grosse Endfeind: der Assyrer.
  2. Die Wiederherstellung des Sohnes Davids, als er todkrank war: Hiskia, Vorbild des gestorbenen und auferstandenen Christus.
  3. Die feierlich ernste Vorhersage der babylonischen Gefangenschaft.

Fünfter Abschnitt:

Kapitel 40 bis 48. – Grosse Auseinandersetzung des HERRN mit seinem Volk in Bezug auf die Götzen.

Sechster Abschnitt:

Kapitel 49 bis 57. – Eine weitere grosse Auseinandersetzung des HERRN mit seinem Volk in Bezug auf die Verwerfung des Messias.

Siebter Abschnitt:

Kapitel 58 bis 66. – Abschluss des Buches.

Diese sieben Hauptabschnitte sind ihrerseits in zahlreiche gut erkennbare Teile gegliedert, wie wir im Verlauf unserer Betrachtung dieses Buches bemerken werden.

Der erste Vers dieses Buches ist gleichzeitig die Überschrift. «Das Gesicht Jesajas, des Sohnes Amoz, das er über Juda und Jerusalem geschaut hat in den Tagen Ussijas, Jothams, Ahas’, Jehiskias, der Könige von Juda.»

Er zeigt uns: den Propheten, seine Vision, jene, die es betrifft, und zum Schluss die Namen der vier Könige von Juda, unter deren Herrschaft Jesaja geweissagt hat.

Die Erwähnung dieser Könige gibt uns den Zeitpunkt und die ungefähre Dauer der Weissagungen Jesajas an. Darüber hinaus sehen wir in diesen vier Königen symbolisch die grossen Linien der ganzen Geschichte des Volkes Israel in Beziehung zum Königtum und zum Prophetentum. Diese Geschichte ist von einem sich immer klarer abzeichnenden Verfall gekennzeichnet, den die drei ersten Könige verkörpern; der letzte, Hiskia, ist ein Vorbild des gestorbenen und auferstandenen Christus.

Ussija, vom Herrn gesegnet, erhob sich, war ungehorsam und wurde aussätzig.

Jotham war gottesfürchtig und tat, was recht war in den Augen des Herrn, wie dies bei mehreren Königen von Juda der Fall war. Aber seine Gottesfurcht verhinderte nicht, dass das Böse sich im Volk, das sich mehr und mehr verdarb, ausbreitete.

Ahas tat das Böse wie Israel, dann verübte er all die Gräuel, die von den Nationen begangen wurden. Er zerschlug die Geräte des Heiligtums und schloss die Türen des Hauses Gottes. Gott züchtigte ihn, aber in seiner Bedrängnis kehrte er nicht zum Herrn zurück, sondern opferte im Gegenteil den Göttern der Nationen und forderte so den Zorn des Gottes seiner Väter heraus. Israel, das Volk Gottes, hat es nicht anders gemacht.

Hiskia war treu. Der Bericht über ihn, der uns im eingeschobenen geschichtlichen Teil unseres Buches (Kapitel 36 bis 39) mitgeteilt wird, enthält drei grosse Tatsachen, die mit den drei grossen Phasen in der Geschichte des Volkes Israel übereinstimmen:

  1. das Volk, das wegen seiner Übertretungen in die babylonische Gefangenschaft geführt wurde;
  2. den Messias, den Sohn Davids, der wiederhergestellt worden ist, wie aus den Toten, und das Volk, das die Vergebung seiner Sünden erlangt hat und fähig gemacht wird, den HERRN unter den Lebenden zu loben;
  3. den Assyrer, den grossen Endfeind, der durch die mächtige Hand des HERRN zerstört wird.

Erster Abschnitt: Kapitel 1 – 12

Kapitel 1

Das erste Kapitel ist eine Einführung in das Thema des Buches; es vermittelt uns die grossen Umrisse des Themas, das darin behandelt wird: der Zustand des Volkes, seine Bosheit und seine Verdorbenheit, die notgedrungen das Gericht nach sich ziehen. Danach finden wir den Aufruf Gottes zur Buße und seine Gnade, die das Volk auffordert, willigen Herzens zu sein. Es endet mit der Herrlichkeit des Reiches und dem Gericht, das die Übeltäter zerschmettern wird.

In den Versen 2-9 finden wir den moralischen Zustand des Volkes. Wie im 5. Buch Mose (Kap. 32,1) werden die Himmel aufgefordert zu hören, und die Erde, aufzuhorchen; sie sind Zeugen dessen, was Gott seinem Volk sagen wird.

Die Worte «Der HERR hat geredet», offenbaren uns, was Prophetie ist. Der Gott, dessen Stimme die Welten aus dem Nichts heraustreten liess, spricht jetzt zu seinem ungehorsamen Volk, nicht, um es zu vernichten, sondern um es zu sich zurückzuführen. Es ist seine wunderbare Gnade, die hier und durch die ganze Schrift hindurch hervorstrahlt, sogar dort, wo von den schrecklichsten Gerichten die Rede ist.

In seiner zärtlichen Fürsorge hatte Gott sich um sein Volk bemüht, wie ein Vater sich um seine Kinder kümmert und sie erzieht. Trotz all seinen Bezeugungen der Güte gegenüber dem Volk hatte es sich gegen Ihn aufgelehnt und war törichter als Tiere ohne Verstand geworden. Wir stellen in diesen Versen eine allmähliche Steigerung des Bösen fest: in Vers 2 sind die Kinder von Gott abgefallen; in Vers 3 haben sie kein Verständnis; in Vers 4 handeln sie verdorben und verschmähen den Heiligen Israels; und in Vers 5 ist es sinnlos, sie zurechtzuweisen; sie würden sich nur noch mehr verhärten, wie das Metall, das man hämmert: Wenn man es nicht zerbricht, verhärtet es sich. Schläge würden nur neue Empörungen mit sich bringen.

Die frischen Wunden, die nicht verbunden und nicht mit Öl erweicht worden sind, erinnern uns daran, dass der «barmherzige Samariter» noch nicht vorübergezogen war (Lk 10,33). Das Gesetz, das durch den Leviten und den Priester dargestellt wird, hat nichts zur Vollendung gebracht, und das Herz des Menschen, das nicht erneuert wurde, ist überall dasselbe. Tatsächlich ist das Herz des Volkes Israel nicht besser als jenes der Einwohner der Städte, die durch das Feuer vom Himmel vernichtet wurden.

Die Verse 10-17 beschreiben uns den religiösen Zustand des Volkes. Trotz seines elenden moralischen Zustands hatte es einen sehr religiösen äusseren Schein bewahrt. Alle brachten eine Menge Opfer dar; sie zertraten die Vorhöfe des Hauses Gottes mit ihren Füssen; sie liessen Räucherwerk vor Ihm aufsteigen, beriefen Festversammlungen ein und betrieben anderseits die Ungerechtigkeit und vergossen unschuldiges Blut. Bei all diesem Bösen, das festgestellt wird, waren die Vorsteher am schuldigsten (V. 10).

Aber in den Versen 18-20 haben wir die Gnade Gottes, die inmitten dieser trostlosen Umgebung scheint. Er kommt selbst, um mit seinem Volk zu rechten. Wenn es einwilligen würde, Ihm zuzuhören, wäre Er bereit, ihm zu vergeben. Selbst wenn ihre Sünden rot wären wie Scharlach, würde Er sie weiss machen wie Schnee. Aber wenn sie nicht auf dieses Wort der Gnade hörten, würde es zum Grund ihrer Verwerfung werden.

Verse 21-23. Dieser kurze Abschnitt beginnt mit einem Ausruf. Er drückt den Schmerz des Herzens Gottes aus, als Er den Zustand feststellt, in den die geliebte Stadt gefallen war, die Er aus allen Stämmen Israels auserwählt hatte, um seinen Namen dort wohnen zu lassen. «Wie ist zur Hure geworden die treue Stadt!» Der Götzendienst hatte sich dort breitgemacht. Bestechung fand sich dort ebenso wie Gewalttätigkeit: «Mörder!» Wurde zu einer späteren Zeit nicht auch in dieser Stadt der Herr Jesus getötet? Feierlich ernste Prophezeiung im Hinblick auf die Ermordung ihres Messias!

Verse 24-31. Der letzte Abschnitt zeigt uns das Ende der Wege Gottes mit seinem schuldigen Volk. Er stellt sich hier mit drei verschiedenen Titeln vor:

  1. Der HERR, in Verbindung mit seiner Autorität.
  2. HERR der Heerscharen, denn Er ist der, der sowohl im Himmel als auch auf der Erde das ausführt, was Er will. Er hat alle himmlischen Heerscharen zu seiner Verfügung; die Engel erfüllen als seine Diener sein Wohlgefallen (Ps 103,20.21).
  3. Der Mächtige Israels. Könnte jemand auf irgendeine Art die Ausführung seiner Absichten mit seinem Volk verhindern? Er wird also durch das Gericht jene vernichten, die Ihn verlassen und seine heiligen Gebote übertreten. Ein festbeschlossenes und unanfechtbares Gericht wird über sie hereinbrechen. Aber ein treuer Überrest wird durch Gnade bewahrt und wie das Silber im Feuer der Prüfung gereinigt werden. Nachher wird die Zeit der Wiederherstellung aller Dinge kommen. Das Recht wird nach Zion zurückkehren und das Königtum nach Jerusalem. Dieses Kapitel ist daher wie eine Einführung in die ganze Prophetie von Jesaja.