Wen meint der Apostel Paulus, wenn er den Galatern schreibt: «Ihr, die Geistlichen»?
Ihrer Stellung und Berufung nach tragen alle aus Gott Geborenen diese Bezeichnung. Ob aber alle in Wort und Wandel sich praktisch als «geistliche Menschen» erweisen, ob sie alle «im Geist wandeln», das ist eine zweite Frage. Sie sollten es alle tun, sollten alle «Geistliche» sein, und das umso mehr, je länger sie auf dem Glaubensweg sind. Aber es ist uns nur zu gut bekannt, dass die Wirklichkeit nicht immer der Voraussetzung oder Erwartung entspricht. «Geistlich» sein hängt nicht so sehr vom Mass der geistlichen Erkenntnis ab, so wichtig und schätzenswert diese ist, als vielmehr von der inneren Herzenseinstellung, vom Grad oder Mass, in welchem wir in all unserem Denken, Tun und Lassen durch die belehrende und heiligende Kraft des Geistes geleitet werden.
Das untrügliche Kennzeichen eines wirklich geistlichen Christen ist ein «Wandel mit Gott», d.h. ein Leben im Licht, in der gewohnheitsmässigen Verurteilung des Bösen bei sich selbst, in dem schonungslosen Gericht über das eigene Ich und in der damit notwendig verbundenen Erkenntnis, dass er zu jedem Schritt Gnade nötig habe, ja, nur durch Gnade leben kann.
Nun könnte man meinen, dass ein solcher Christ der rücksichtsloseste Beurteiler und Verurteiler des Bösen in den andern wäre. Aber die Erfahrung lehrt, dass das Gegenteil der Fall ist; und es kann nicht anders sein. Gerade das fortwährend geübte Selbstgericht befähigt den Gläubigen, die Fehler der andern milde zu beurteilen. Sollte er, der selbst täglich und stündlich so viel Gnade nötig hat und erfährt, nicht auch Gnade üben? Nicht dass er das Böse bei andern beschönigte oder entschuldigte. Im Gegenteil, es schmerzt ihn tief, es dort zu sehen, weil er weiss, wie der Herr dadurch verunehrt und die beglückende Gemeinschaft der betreffenden Seele mit Gott unmöglich gemacht wird. Aber seine eigenen Erfahrungen setzen ihn in den Stand, «im Geist der Sanftmut» dem andern zu begegnen und zurechtzuhelfen. Indem er das eigene Ich in seinem Verderben kennengelernt hat, weiss er, wie sehr er benötigt, auf sich selbst zu sehen, dass nicht auch er versucht werde und falle.