Der Richterstuhl

Römer 14,10-12; 2. Korinther 5,10

Der Gedanke an den Richterstuhl des Herrn Jesus scheint bei vielen Gläubigen Unbehagen, wenn nicht gar Angst hervorzurufen. Der vorliegende Aufsatz möchte dazu beitragen, dass unser Verständnis für das Offenbarwerden vor Ihm verbessert wird und wir die positiven Aspekte des Richterstuhls kennenlernen. Wie bei allem, was der Herr uns in unserem Leben begegnen lässt, hat Er auch dort nur das Beste für uns im Auge. Und im Ergebnis wird das Offenbarwerden vor Ihm in unseren Herzen nur Lob, Dank und Anbetung hervorrufen. So dient auch das Erscheinen vor dem Richterstuhl letztendlich der Verherrlichung unseres Herrn.

Zweimal lesen wir in der Bibel vom Richterstuhl Gottes bzw. Christi. In Römer 14,10-12 steht: «Denn wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: ‹So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir soll sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird Gott bekennen.› So wird nun ein jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.» Und in 2. Korinther 5,10 heisst es: «Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses.»

Bevor wir uns mit den zitierten Versen näher beschäftigen, ist es sicher nützlich, den Unterschied zwischen dem Richterstuhl und anderen, in der Bibel berichteten Gerichtsszenen deutlich zu machen.

Andere Gerichtsszenen in der Bibel

In Matthäus 25,31-46 sehen wir den Herrn Jesus «auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen». Jenes Gericht wird – im Unterschied zu unserem Offenbarwerden vor dem Richterstuhl – auf der Erde stattfinden. Jener Gerichtstag wird zu Beginn des Tausendjährigen Reiches abgehalten werden. Zu jenem Zeitpunkt werden wir schon lange bei unserem Herrn im Himmel sein und seine Gegenwart ungestört geniessen.

Dagegen wird das Gericht vor dem «grossen weissen Thron» (Off 20,11-15) am Ende des Tausendjährigen Reiches stattfinden, was aus dem Zusammenhang zu ersehen ist. Vor diesem Gericht werden nur Ungläubige erscheinen; sie werden ihr endgültiges und verdientes Urteil empfangen. Das Gericht vor dem grossen weissen Thron betrifft keinesfalls die Gläubigen.

Offenbar werden vor dem Richterstuhl

Zunächst entnehmen wir sowohl aus Römer 14 als auch aus 2. Korinther 5, dass «wir alle» vor den Richterstuhl gestellt werden. Hier gibt es keine Ausnahme und keinerlei Bevorzugung: Jeder Gläubige wird dort Gott «für sich selbst Rechenschaft geben». Damit wird deutlich, dass das Erscheinen vor Gott eine ganz persönliche Sache zwischen dem Gläubigen und seinem Gott ist. Oft wird die Frage gestellt, ob denn bei dieser feierlichen Szene andere Gläubige zugegen seien. Dieser Gedanke ist dem vorliegenden Vers jedoch fremd. Wir dürfen festhalten, dass es sozusagen ein Zusammensein «unter vier Augen» sein wird, wenn wir vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen werden.

Das führt zu der Frage: Was bedeutet «Offenbarwerden» vor dem Richterstuhl des Christus? Hier kommt uns zum besseren Verständnis Epheser 5,14 zu Hilfe: «Denn das Licht ist es, das alles offenbar macht.» In göttlichem Licht erscheinen alle Dinge so, wie sie ihrem wahren Wesen nach sind. Da kann nichts beschönigt werden, da wird nichts überzeichnet, da wird alles göttlich vollkommen beurteilt. Vor Gott offenbar werden bedeutet also, alle Dinge seines Lebens gottgemäss beurteilen zu lassen. Es bedeutet aber keinesfalls, dass nochmals Gericht ausgeübt wird. Die folgenden Punkte werden uns helfen, dies besser zu verstehen.

Kein Gericht mehr für den Gläubigen

Für den Gläubigen geht es beim Offenbarwerden vor dem Richterstuhl in keiner Weise um seine ewig gültige Errettung. Johannes 5,24 macht uns unmissverständlich klar: «Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen.» Die Errettung der Seele steht endgültig und ewig fest, wenn man in diesem Leben seine Sünden dem Herrn Jesus bekannt hat und daran glaubt, dass Gott das gerechte Gericht über die Sünden an dem Stellvertreter, dem Herrn Jesus, vollzogen hat. Damit steht endgültig fest, dass der Gläubige nie mehr ins Gericht kommen wird. Die Sicherheit des Gläubigen liegt in dem Werk und in der Person des Herrn Jesus, des Richters selbst begründet. Dabei fallen uns drei Dinge auf:

  1. Sein Gericht ist gerecht Der Herr Jesus sagt in Johannes 5,30: «Mein Gericht ist gerecht.» Da sein Gericht gerecht ist, wird Er unsere Sünden, die am Kreuz auf Golgatha bereits endgültig gesühnt wurden, kein zweites Mal richten.
  2. Wir müssen daran denken, dass es Christus, der Richter selbst, war, an dem das gerechte Gericht Gottes über unsere Sünden vollzogen wurde. Sollten noch Zweifel bestehen, ob das Gericht ausgeführt worden ist, so wird der Richter selbst bezeugen können, dass dieses Gericht über unsere Sünden wirklich gottgemäss vollzogen wurde, da Er selbst unendlich schwer darunter gelitten hat.
  3. Weiter ist die Anwesenheit des Richters Beweis genug dafür, dass sein Opfer von Gott angenommen wurde. Denn Gott hat Ihn auferweckt, um damit zu dokumentieren, dass alles in Bezug auf die Sünde gottgemäss geregelt worden ist. Römer 4,24.25 bestätigt uns: «die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist.»

Halten wir also unbedingt daran fest, dass das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl nichts mit der Frage unserer Annahme bei Gott zu tun hat. Tägliches Danken für die erfahrene Errettung wird unser Herz in glücklicher Überzeugung dieser herrlichen Tatsache erhalten.

Segensreiche Ergebnisse des Offenbarwerdens

Nun könnte jemand tragen: Wenn unsere Errettung und die Vergebung unserer Sünden am Richterstuhl kein Thema mehr sein werden, warum heisst es dann: «Wir müssen» vor dem Richterstuhl offenbar werden? Die Antwort lautet: Die Voraussetzung für völlig ungetrübte Gemeinschaft ist, dass wir unser ganzes Leben absolut gleich beurteilen wie unser Herr. Weiter oben haben wir gesehen, dass «offenbar werden» bedeutet, alles so zu sehen, wie Gott es schon immer gesehen hat. Wir werden vor dem Richterstuhl unser Leben aus göttlicher Perspektive sehen und so – was die Beurteilung jeder Einzelheit unseres Lebens angeht – mit Ihm völlig übereinstimmen. Das hat weitreichende und gesegnete Konsequenzen, wie wir im Folgenden sehen werden.

  1. Vieles, was wir in unserem Leben überhaupt nicht registriert haben, wird offenbar werden. Sünden, die wir getan, aber gar nicht bemerkt haben, werden ans Licht kommen. Sie werden uns nicht verdammen, weil Christus das Gericht dafür ja bereits getragen hat. Aber sie werden uns erkennen lassen, wie unendlich viele Sünden uns vergeben werden mussten. Wir werden einen viel tieferen Eindruck davon bekommen, in welchem Umfang und Ausmass die Gnade Gottes wirksam werden musste. Das wird unsere Dankbarkeit Ihm gegenüber vermehren, denn: Wem viel vergeben worden ist, der liebt viel (vgl. Lk 7,47). Unsere Liebe zum Herrn Jesus, unserem Retter, wird dadurch vertieft werden.
  2. Es wird offenbar werden, vor wie vielen Sünden wir durch die Gnade Gottes bewahrt wurden. Wir werden erkennen, bei wie vielen Gelegenheiten wir kurz davorstanden, zu sündigen – und wie uns Gottes Gnade davor bewahrte. Was wird es einmal sein, wenn wir Ihm für jede Bewahrung in dieser Hinsicht danken werden! Wie gross wird uns seine unendliche Gnade werden, die uns vor so manchem Fehltritt bewahrt hat! Auch das wird dazu führen, dass wir Ihm danken und Ihn anbeten werden.
  3. Unsere Beurteilungsmassstäbe werden zurechtgerückt, d.h. in völlige Übereinstimmung mit Gott gebracht werden. Dadurch werden wir unser Leben in einem ganz anderen Licht sehen. Vieles, das wir vielleicht positiv beurteilt haben, werden wir plötzlich ganz anders sehen, nämlich so, wie der Herr es schon immer gesehen hat. Hier am Richterstuhl des Christus werden «die Überlegungen der Herzen offenbar werden» (1. Kor 4,5). Vielleicht werden wir traurig feststellen müssen, dass der Herr uns da, wo wir uns wichtig vorkamen, überhaupt nicht gebrauchen konnte. Umgekehrt wird Er uns aber auch zeigen, dass jede (für uns vielleicht unbedeutende) Hilfeleistung von Ihm registriert und gesegnet wurde.
  4. Die Wege Gottes mit uns, die wir heute oft nicht verstehen, werden wir dann erkennen – und von ganzem Herzen bejahen. Die unendliche Liebe, die hinter allem stand, werden wir bewundern und anbeten. Und wir werden erkennen, wie jeder geistliche Fortschritt von Ihm bewirkt und gefördert wurde. Heute gibt es noch vieles, was wir nicht verstehen, soviel Leid und Kummer, Not und Sorge. Und wir fragen oft: Warum? Aber am Richterstuhl des Christus werden wir völlig erkennen, dass «denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken» (Röm 8,28).
  5. Die unzähligen Gelegenheiten, bei denen uns Gottes Macht vor Unfall und Schaden bewahrt hat, werden dann ans Licht kommen. Schon heute haben wir so viel Ursache, Ihm für die tägliche Bewahrung zu danken. Oft können wir es nur pauschal tun, weil wir vieles überhaupt nicht bemerkt haben. Was wird es einmal sein, wenn wir Ihm für jede Bewahrung danken können! Dann werden wir in Wahrheit erfahren, was wir in Psalm 40,6 lesen: «Vielfach hast du deine Wundertaten und deine Gedanken gegen uns erwiesen, HERR, mein Gott; nicht kann man sie dir der Reihe nach vorstellen. Wollte ich davon berichten und reden, sie sind zu zahlreich, um sie aufzuzählen.»

Verstehen wir jetzt etwas mehr, mit wie viel Segen dieses Offenbarwerden verbunden ist? Nicht Unbehagen, nicht Angst werden wir empfinden, sondern eine tiefe Freude und Dankbarkeit. Dann werden wir erkennen, «wie auch wir erkannt worden sind» (1. Kor 13,12). Und das Ergebnis wird vermehrte Dankbarkeit und Anbetung sein zu seiner Verherrlichung.

Lohn – oder: gerettet, wie durchs Feuer?

Mit dem Richterstuhl eng verbunden ist das Empfangen von Lohn für das, was man «im Leib getan hat». Ist es nicht ein überwältigender Gedanke, dass Gott, der uns vor dem furchtbaren Gericht über unsere Sünden errettet hat, jede Treue in unserem Leben auch noch belohnen wird? Aber Gottes Wort warnt uns auch eindringlich in 1. Korinther 3,14: «Wenn das Werk jemandes bleiben wird, … so wird er Lohn empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird, so wird er Schaden leiden, er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer.»

Praktische Auswirkungen im täglichen Leben

Der Gedanke an das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi soll heute schon in unserem praktischen Leben Konsequenzen haben.

In Römer 14,10 steht die Erwähnung des Richterstuhls in Verbindung damit, dass sich jeder persönlich vor Gott verantworten muss. Gegenseitiges Verachten und Richten sollte unter Gläubigen nicht gefunden werden. Vielmehr sollten Geschwister, deren Glaube unterschiedlich stark ist, in ihrer Überzeugung «dem Herrn» leben, ohne einander zu verachten oder zu richten. «Denn», fährt der Apostel fort, «wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden … so wird nun ein jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dieses: dem Bruder nicht einen Anstoss oder ein Ärgernis zu geben» (Röm 14,10-13). Das Bewusstsein unseres Erscheinens vor dem Richterstuhl wird uns zu einem praktischen Verhalten führen, das den Herrn Jesus ehrt und unseren Geschwistern eine Hilfe statt eines Stolpersteines ist.

2. Korinther 5 zeigt uns einen anderen Aspekt. Paulus spricht hier vom Wunsch, in der Herrlichkeit beim Herrn Jesus zu sein. Die herrliche, vor uns liegende Zukunft bei Ihm, in Verbindung mit dem Offenbarwerden vor Ihm, soll im Hinblick auf unser praktisches Leben einen Eifer bewirken, «ihm wohlgefällig zu sein» (2. Kor 5,9). Einige Verse weiter bringt der Apostel die Schlussfolgerung, die sich aus seinen Ausführungen ergibt: «Und er ist für alle gestorben, damit die, die leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist» (2. Kor 5,15).

Zusammenfassung

  1. Beim Offenbarwerden vor dem Richterstuhl geht es in keiner Weise um das Gericht über unsere Sünden.
  2. Vielmehr geht es darum, dass wir unser ganzes Leben genauso beurteilen wie Gott; dies ist eine wichtige Voraussetzung für ungetrübte Gemeinschaft mit unserem Herrn.
  3. Darüber hinaus werden wir erkennen, wie viel uns vergeben werden musste, wie oft wir bewahrt wurden und wie alle Wege unseres Herrn mit uns einzig und allein zu unserem Segen waren.
  4. Das Ergebnis wird vermehrte Dankbarkeit und Anbetung zu seiner Ehre und Verherrlichung sein.
  5. Das Erscheinen vor dem Richterstuhl sollte schon auf der Erde unser Verhalten als Christen prägen.