Die Gleichnisse des Herrn (6)

Matthäus 7,1-5; Matthäus 18,21-35; Lukas 14,7-14

c) Gleichnisse über das Verhalten der Gläubigen gegenüber andern

Zehntausend Talente – hundert Denare (Mt 18,21-35)

Dieser Abschnitt enthält ein ernstes Wort über unsere Verantwortlichkeit, an diesem Tag der Gnade einem Schuldigen Gnade zu erweisen. Hat ein Bruder gesündigt, soll uns vor allem seine Wiederherstellung am Herzen liegen. Sie zeigt sich darin, dass er auf uns hört (Mt 18,15).

Petrus kommt hier mit der Frage zum Meister: «Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?» Wenn Petrus die Zahl auf sieben festsetzte, so zeigte er damit, dass er nicht auf dem Boden der selbstgerechten Pharisäer stand, sondern aus den Worten Jesu schon etwas von dem Geist der Gnade erfasst hatte. Aber der Herr offenbarte in seiner Antwort, dass seine Gnade keine Grenze kennt: «Nicht bis siebenmal, sage ich dir, sondern bis siebzig mal sieben

Darf es eine Frage sein, wie oft ich meinen Bruder gewinnen soll? Petrus nimmt hier die eigenen Rechte als Grundlage und sucht in gewissem Mass das Seine, aber «die Liebe sucht nicht das Ihre» (1 Kor 13,5).

Um diese Frage noch eindringlicher zu beleuchten, stellt sie der Herr in einem Gleichnis in das Licht der Vergebung Gottes, die Er einem Sünder gegenüber ausübt, der sich unter die Gnade stellt.

Ein König wollte mit seinen Knechten abrechnen. Da wurde sogleich einer zu ihm gebracht, der zehntausende Talente schuldete, eine ungeheure Summe, die darauf hinweist, dass hier nicht nur Unglück, sondern auch Verfehlung im Spiel war. – So ist durch die Sünde jedes Menschen die Verschuldung gegen Gott unvorstellbar gross. Wer je in sein Licht gekommen ist, wird dies mit voller Überzeugung unterschreiben. Auf dem Weg des Glaubens verstärkt sich dieses Bewusstsein mit zunehmender Einsicht.

«Da dieser aber nichts hatte, um zu bezahlen» – wir waren nicht imstande, Gott auch nur «einen Denar» von unserer Schuld zurückzuerstatten – «befahl sein Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und so zu bezahlen». – Ewiges Gericht wäre unser Teil gewesen. Aber selbst dadurch hätten die Ansprüche Gottes nicht befriedigt werden können. Durch meine Sünden habe ich nicht nur mich selbst verschuldet, sondern auch die Menschen um mich her beeinflusst und ihnen Schaden zugefügt.

«Der Knecht nun fiel nieder, flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. Der Herr jenes Knechtes aber, innerlich bewegt, liess ihn frei und erliess ihm das Darlehen» – So gross auch unsere Schuld gewesen ist, bei Gott ist Gnade, die nicht mit Zahlen gemessen werden kann. Sie wird dem zuteil, der vor Ihm sich beugt, seine Schuld anerkennt und bekennt und die ihm in Christus angebotene Vergebung im Glauben annimmt. – Vielen von uns Christen ist dabei aber die Erkenntnis des ganzen Ausmasses unserer Verschuldung gegen Gott und der völligen Verdorbenheit und Untauglichkeit der eigenen Natur oft viele Jahre hindurch noch recht mangelhaft. Aus diesem Grund kann dann geschehen, was nun im Gleichnis in so krasser Weise zutage tritt.

«Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Und er ergriff und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist. Sein Mitknecht nun fiel nieder, bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe.»

Kaum war jener Mensch nach einer Erfahrung überströmender Gnade vom König hinausgegangen, konnte er einem seiner Mitknechte in solch erbarmungsloser Härte gegenüber treten! Für den andern hatte er keine Gnade, obwohl ihn dieser mit denselben Worten, die er selbst vor dem König ausgesprochen hatte, darum bat. Dabei war doch die Schuld des Mitknechtes vielleicht nur ein 600'000stel der ihm selbst erlassenen ungeheuren Schuld, auf die der König doch mit vollem Recht Anspruch gehabt hätte!

Hier wollen wir einen Augenblick bei uns selbst stehen bleiben und uns fragen: Habe ich es noch nie einem Bruder oder einer Schwester gegenüber an der Gnade mangeln lassen? Gewiss, ein Christ, der hierin fehlt, wird dabei nicht so brutal vorgehen. Dem Mitknecht wird er vielleicht schon sagen: «Ich vergebe dir!», in seinem Herzen jedoch die Einschränkung machen: «aber vergessen kann ich es nicht», oder: «ich vermag ihn nicht mehr zu grüssen». Wäre das wirklich Vergebung?

Oft betrachten wir in unserer Empfindlichkeit und Rechthaberei die Verfehlungen unseres Bruders unter dem Mikroskop und machen sie riesengross, während wir die eigenen Vergehungen allzu leicht bagatellisieren und entschuldigen.

Hierauf überlieferte der König den unbarmherzigen Knecht ins Gefängnis, bis er alles bezahlt habe.

Auch innerhalb der Versammlung gilt der Grundsatz eines vergebenden Geistes, und hier erst recht. Wenn Christen, die einen viel höheren Beweggrund zum gegenseitigen Vergeben haben (Eph 4,32), nicht vergeben können, wie beweisen Sie dann, dass sie selber unter der Gnade stehen und Gott ihnen vergeben hat?

Splitter und Balken (Mt 7,1-5)

In diesem Gleichnis kommt unser Herr auf die böse Neigung unserer natürlichen Herzen zu sprechen, andere zu richten.

Wer andere richtet, gibt damit zu erkennen, dass er weiss, was der Christ zu tun und zu lassen hat; und Gott, vor dessen Richterstuhl wir einst alle gestellt werden (Röm 14,10), wird uns für dieses Wissen, womit wir andere verurteilt haben, persönlich verantwortlich machen: «Denn mit welchem Urteil ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Mass ihr messt, wird euch zugemessen werden.» Je genauer ich den Weg Gottes kenne, desto grösser ist meine Verantwortung.

Wer andere richtet, wird vom Herrn Jesus gefragt: «Was aber siehst du den Splitter, der in dem Auge deines Bruders ist, aber den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr Ach, wer in einer fleischlichen Gesinnung lebt, ist froh, beim Mitbruder Unstimmigkeiten zu entdecken, sei es, um den eigenen Zustand zu rechtfertigen oder um sich über den anderen zu erheben! Ein solcher lebt nicht im Licht Gottes. Vor Ihm erkennte er den Balken im eigenen Auge, vor Ihm würde er sich selbst verurteilen und richten und für sich selbst von seiner Gnade in Christus Gebrauch machen.

Dann würde er «klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen». Er würde sich dann nicht als ein überheblicher «Heuchler» mit seinem Bruder beschäftigen, sondern mit einem gereinigten Herzen, das vom Licht Gottes, von seiner Liebe, Gnade und Barmherzigkeit, die er selber erfahren hat, erfüllt ist. Dann würde er zu den «Geistlichen» gehören, denen das Wort zuruft: «Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, wobei du auf dich selbst siehst, dass nicht auch du versucht werdest» (Gal 6,1).

«Lege dich auf den letzten Platz» (Lk 14,7-14)

Unser Herr war im Haus eines Obersten, um zu essen. Da bemerkte Er, wie die Eingeladenen «die ersten Plätze wählten». Das veranlasste Ihn, sie durch ein Gleichnis auf die Weisheit der Demut hinzuweisen:

«Wenn du von jemand zur Hochzeit geladen wirst, so lege dich nicht auf den ersten Platz, damit nicht etwa ein Angesehenerer als du von ihm geladen ist und der, der dich und ihn geladen hat, kommt und zu dir sprechen wird: Mache diesem Platz – und dann wirst du anfangen, mit Beschämung den letzten Platz einzunehmen.  Sondern wenn du geladen bist, so geh hin und lege dich auf den letzten Platz, damit, wenn der, der dich geladen hat, kommt, er zu dir spricht: Freund, rücke höher hinauf. Dann wirst du Ehre haben vor allen, die mit dir zu Tisch liegen.»

Überall in der Welt kämpfen die Menschen um den ersten Platz. In ihrem Hochmut streben sie immer höher hinauf. Wie oft aber wird, wer nach dem ersten Platz strebt, schon von den Menschen gedemütigt!

Der göttliche Grundsatz lautet: «Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.» Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt Er Gnade. Um von Ihm gesegnet zu werden, muss der Mensch seinen Platz in Beugung und Buße vor Ihm einnehmen und Gottes Gnade im Glauben erfassen. Weigert er sich aber, sich an diesen letzten Platz zu setzen, wird ihn Gott im Gericht erniedrigen müssen.

Wie hat doch der Sohn Gottes selbst, der dieses Gleichnis erzählte, in seiner eigenen Person den Gesinnungsunterschied zwischen Gott und Menschen so deutlich illustriert! Wie tief ist Er herabgestiegen! In einer Liebe, die nicht das Ihre suchte, sondern die Ehre Gottes und das Heil der Menschen, hat Er sich selbst entäussert, damit die göttliche Fülle in Ihm der menschlichen Not begegnen könne.

Möchten wir Gläubige uns von den Kindern der Welt doch dadurch unterscheiden, dass diese Gesinnung, die in Christus Jesus war, auch in uns ist! (Phil 2,5).