Die Gleichnisse des Herrn (1)

Übersicht

a) Gleichnisse für Sünder

b) Gleichnisse vom Gebet

c) Gleichnisse über das Verhalten der Gläubigen gegenüber andern

d) Gleichnisse vom Fruchtbringen und vom Dienst

Einleitung

Beim Lesen der Evangelien fällt uns auf, wie unser Herr Jesus so vieles in Gleichnissen redete.

Er tat dies aus verschiedenen Gründen:

  • Erstens wurden seine tiefen Lehren dadurch leichter verständlich und eindrücklicher. Gleichnisse prägen sich dem Gedächtnis viel besser ein als abstrakte Wahrheiten.
  • Zweitens aber redete Er zum ungläubigen Volk der Juden und seinen Führern in Gleichnissen, «damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen, und hörend hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde» (Mk 4,10-12). Das ist kein Widerspruch zum ersten Punkt, sondern eine Ergänzung dazu: Wer, wie die Masse jenes Volkes, Christus nicht im Glauben annimmt, ist unfähig, die Gedanken Gottes zu verstehen. Für solche besteht keine andere Möglichkeit, sich zu Gott zu bekehren und von Ihm Vergebung zu erlangen. Wer jedoch Christus durch Glauben besitzt, hat in Ihm den Schlüssel zum Verständnis seiner Gleichnisse und des ganzen Wortes Gottes überhaupt.

Es sei daran erinnert, dass bei der Auslegung der Heiligen Schrift – also auch der Gleichnisse – menschliche Fantasie unnütz und irreführend ist. Der Heilige Geist will den Gläubigen dadurch zum Verständnis leiten, dass Er ihn auf den Zusammenhang des einzelnen Abschnittes mit anderen Stellen und Wahrheiten der Schrift aufmerksam macht. Oft will ein Gleichnis nur eine bestimmte Wahrheit in den Vordergrund stellen; die Auslegung aller Einzelheiten würde da zu Fehlschlüssen führen.

Gleichnisse sind Bilder aus dem Leben oder aus der Natur, die in die Rede eingeflochten werden, um den Bedeutungsgehalt eines Gedankens durch den Vergleich mit etwas Anschaulichem hervorzuheben. Die Gleichnisse des Herrn finden sich nicht nur da, wo sie ausdrücklich als solche bezeichnet sind, sondern auch in vielen anderen seiner Redebilder und Erzählungen. Ob sie sich auf tatsächliche oder angenommene Begebenheiten stützen, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Es sind ja Bilder. Ihre Eindruckskraft wird dadurch weder erhöht noch vermindert.

In dieser Artikelserie sind die Gleichnisse ihrem Hauptgedanken entsprechend zusammengestellt. Dadurch soll deutlich werden, wie der Herr selbst gewisse Wahrheiten von verschiedenen Seiten her beleuchtete. Da einzelne Gleichnisse aber verschiedene Wahrheiten vor uns stellen, werden sie in mehr als einer Gruppe Erwähnung finden.

a) Gleichnisse für Sünder

Unser Herr vollführte seinen Dienst unter dem Volk, das sich gegenüber den «unreinen Nationen» seiner Vorrechte rühmte. Waren sie nicht Kinder Abrahams und Erben der ihm gegebenen göttlichen Verheissungen? Hatten ihre Propheten ihnen nicht die Ankunft ihres Messias und die Aufrichtung seines Reiches in Herrlichkeit angekündigt?

Die meisten seiner Zuhörer wollten daher nicht begreifen, dass sie ebensolche Sünder sein sollten wie die aus den Nationen, ja, dass auf ihnen eine noch grössere Schuld lag als auf jenen: Das Volk Israel hatte das von Gott empfangene Gesetz übertreten und somit den mit Ihm eingegangenen Bund gebrochen! Und – nicht genug damit – Christus, und somit das Reich Gottes, war in Gnade zu ihnen gekommen, und sie verwarfen und schmähten Ihn!

Die einzelnen vom Volk, die Jesus Christus im Glauben aufnahmen und Ihm nachfolgten, mussten Schmach und Leiden gewärtigen. Wer sich auf die Seite des Verworfenen stellte, wurde auch verworfen. Eine Reihe von Gleichnissen Jesu zeigen nun, wie Er bemüht war, zum Herzen «der verlorenen Schafe des Hauses Israel» zu reden. Die Ewigkeit wird offenbaren, wie aber auch unzählige Tausende von Sündern aus den Nationen durch die Gleichnisse das Heil in Ihm gefunden haben.

«Was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?» – «Wer ist mein Nächster?»

Auf diese beiden Fragen antwortete unser Herr Jesus mit dem Gleichnis des «barmherzigen Samariters»; das wir in Lukas 10,25-37 finden.

Der Fragesteller war ein Gesetzgelehrter. Er fragte nicht aus innerem Bedürfnis. Wie andere seiner Genossen «versuchte» er, den Lehrer blosszustellen. Sie hofften immer, Er werde um der Gnade willen gegen das Gesetz reden. Dann hätte das Synedrium einen Anklagegrund gehabt, um Ihn zu verurteilen. Er sagte: «Was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?»

Aber der Herr stellte die Gegenfrage: «Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du?»

Ohne sich lange besinnen zu müssen, vermochte der Gesetzgelehrte das Wesen des Gesetzes in die zwei wichtigsten Forderungen zusammenzufassen: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen … und deinen Nächsten wie dich selbst.» (vgl. 5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).

«Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu dies, und du wirst leben.»

Der Mann hatte Jesus versuchen wollen, aber nun kehrte sich der Spiess gegen ihn selbst. Die Worte des Allwissenden, vor dem er stand, stellten ihn auf die Probe. Hatte er den hohen Forderungen des Gesetzes gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten wirklich entsprochen? Sein Gewissen sagte nein. Er wollte es aber nicht bekennen. Er versteckte sich lieber hinter die ausweichende Frage: «Und wer ist mein Nächster?», die für einen gesetzlichen Geist nicht leicht zu beantworten war.

Der Schriftgelehrte hatte bis dahin im Buch des Gesetzes gelesen. Nun aber öffnete ihm der Herr das Buch der Gnade und zeigte ihm, was sie für ihren Gegenstand tut, ohne zu fragen, ob dieser ein Recht auf Hilfe habe. Die Gnade allein kann den Menschen, auch den elendesten, ewiges Leben geben.

In diesem «gewissen Menschen», der unter die Räuber fiel, ist das ganze Menschengeschlecht, also auch der Gesetzgelehrte dargestellt. Als Gott den Menschen schuf, hatte Er ihn mit reichen Segnungen ausgestattet und umgeben. Aber der Mensch hat auf die Stimme Satans gehört und ist in Sünde gefallen (1. Mose 3). Er kehrte Gott den Rücken, hat «Jerusalem», den Ort der Segnung, verlassen, um nach «Jericho», dem Ort des Fluches, hinabzugehen (vgl. Jos 6,26; 1. Kön 16,34). Auf diesem Weg wurden ihm seine Beziehungen der Unschuld mit Gott, die sein Glück und seine Freude ausmachten, geraubt. Nun ist er im tiefen Elend der Sünde und fürchtet sich vor Gott, dem Richter. Er ist «tot in Vergehungen und Sünden» (Eph 2,1-5), ausserstande, durch eigenes Wirken Leben zu erlangen.

Priester und Levit gingen vorüber. Sie waren Vertreter des Gesetzes, das Gott seinem Volk Israel gegeben hatte.

Was konnte ihm der Priester nützen? Wir lesen in Hebräer 10,1-3: Das Gesetz kann «niemals mit denselben Schlachtopfern, die sie (die Priester) alljährlich ununterbrochen darbringen, die Hinzunahenden vollkommen machen. Denn würde sonst nicht ihre Darbringung aufgehört haben, weil die den Gottesdienst Ausübenden, einmal gereinigt, kein Gewissen von Sünden mehr gehabt hätten? Doch in jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden». Der Priester vermochte also dem gefallenen Sünder nicht zu helfen. Er konnte dessen Gewissen vor Gott nicht reinigen.

Und der Levit? Sein Dienst wird wie folgt umschrieben: «Sie werden Jakob deine Rechte lehren, und Israel dein Gesetz» (5. Mo 33,10). Doch, was konnte das Gesetz einem Gefallenen nützen, der sich nicht selber aufzurichten vermochte? Waren dessen Forderungen und Gebote für den, der unfähig war, etwas zu tun, eine Hilfe? Nein, Gesetzgelehrter, das ist nicht der Weg, auf dem der Sünder ewiges Leben «erben» kann. Im Gegenteil, «das Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde» (Röm 5,20). Es machte den Sünder zum Übertreter.

Doch da kam «ein gewisser Samariter» seines Weges gezogen. Dieser nun brachte alles mit, was dem Unglücklichen helfen konnte, und «als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt». Weil der Elende keinen Schritt tun konnte, kam Er «zu ihm hin» und «trat hinzu». Er «verband seine Wunden» und «goss Öl und Wein darauf», was sie heilt und reinigt. Dann setzte Er durch seine Kraft den so Wiederbelebten auf sein eigenes Tier, führte ihn in eine Herberge und übergab ihn dort dem Wirt, der bis zum Wiederkommen des Samariters für ihn Sorge tragen sollte. Beachte, der Gefallene hatte nichts zu tun, der Samariter tat alles für ihn.

Gott sei gepriesen! Das Gesetz war nicht sein letztes Wort an den gefallenen, sündigen Menschen. «Am Ende dieser Tage» hat Er in seinem Sohn in Gnade und Erbarmen zu uns geredet (Heb 1,1). Er sandte Ihn zu uns als Mensch, damit Er viele Söhne zur Herrlichkeit brächte.

So ist Jesus, den die Juden verächtlich «Samariter» nannten (Joh 8,48), in freiwilligem, aber vollkommenem Gehorsam gegenüber Gott den Ihm vorgezeichneten Weg gezogen (siehe Anmerkung zu Lukas 10,33).

  • Weil wir zu dir nicht konnten kommen,
    kamst du zu uns von oben her.

«Innerlich bewegt» über den Zustand des Menschen, nahm Er sich in unfasslich grosser und hingebender Liebe seiner an. Durch sein Werk am Kreuz, durch seinen Tod und seine Auferstehung tat Er alles für ihn, was ihn heilen, erlösen und befreien, ja sogar rechtfertigen und verherrlichen konnte.

Jeder Sünder nun, der an den Sohn glaubt, wird wiedergeboren und empfängt ewiges Leben (Joh3,36). Er zählt nun zu den Kindern Gottes, denen Er den Geist seines Sohnes ins Herz gibt, der da ruft: «Abba, Vater!» (Gal 4,6). Der Heilige Geist – im Wort überall unter dem Bild des Öls dargestellt – ruft also im Herzen des Erlösten das Bewusstsein seiner Sohnesbeziehung zu Gott, als seinem Vater, hervor. Das ist tiefe, verherrlichte Freude – der Samariter goss Wein in die Wunden. Damit ist die Wunde der durch die Sünde unterbrochenen Beziehungen zu Gott geheilt. Sie sind jetzt unauflöslich und viel inniger, als es bei Adam in seinem Zustand der Unschuld je der Fall war.

Der Heilige Geist ist auch der Wirt, dem unser Herr Jesus bei seinem Weggehen seine Erretteten übergeben hat (Joh 16,7; 14,16). Er nimmt sich jetzt als der Sachwalter oder Fürsprecher und Tröster ihrer an. Er ist die Kraft ihres neuen Lebens und Wandels, Er ist es, der sie pflegt und leitet und sich für sie verwendet (Röm 8,26), bis ihr Erretter wiederkommt. Doch sei daran erinnert, dass auch Christus in der Herrlichkeit sich als Hoherpriester und Sachwalter zur Rechten Gottes für die Seinen verwendet (Röm 8,34). Ja, Gott selber ist «für uns»; Er ist besorgt für uns (Röm 8,31; 1. Pet 5,7). Was kann uns da noch fehlen?

Ist die Herberge, zu der der Herr die Seinen jetzt führt, nicht überall da, wo nach seinem Wort zwei oder drei zu seinem Namen hin versammelt sind? (Mt 18,20). Da will der Geist die Ihm Anvertrauten nähren, auferbauen und für ihr geistliches Wohl Sorge tragen.

Das also war die wunderbare Antwort Jesu auf die Fragen des Gesetzgelehrten: Auf dem Boden des Gesetzes ist es dir unmöglich, ewiges Leben zu erwerben. Du hast keine Kraft, Gott von Herzen zu lieben und den Nächsten wie dich selbst. Du hast zuvor Gnade nötig, die in Mir erschienen ist. Ich selber muss zuerst dein Nächster sein, dich aus deinem Zustand erretten und dir Leben geben. Erst wenn die Liebe Gottes dein Herz erfüllt, wirst du Ihn wiederlieben können (1. Joh 4,19). Erst dann wirst du in jedem Menschen deinen Nächsten sehen und von Gottes Liebe und Gnade gedrängt werden, Ihm zu dienen und zu helfen.

Jedem Erretteten ruft der Herr zu: «Geh hin und tu du ebenso!»