Wer wird uns den Stein wegwälzen?

Markus 16,3

Die Frauen hatten den Meister auf dem ganzen Weg von Galiläa her begleitet, als Er sein Angesicht festgestellt hatte, um nach Jerusalem zu gehen. Sie hatten Ihm gedient, ohne sich vorzudrängen, demütig, treu, Tag um Tag. Sie hatten Ihn vor Pilatus gesehen und die Menge schreien hören: «Kreuzige, kreuzige ihn». Sie waren zweifellos da, als Er verlacht, beschimpft, geschlagen, mit Dornen gekrönt wurde, als Er ein Gegenstand der Verhöhnung und der Schläge seitens der Soldaten und der Menge war. Sie hatten Ihn, sein Kreuz tragend, nach Golgatha hinausgehen sehen, wo man Ihn ans Holz heftete und mit Essig tränkte. Sie hatten seinen Schmerzensschrei gehört: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Er war alles für ihr Herz, weil sie aus Liebe zu Ihm alles verlassen hatten, und von seiner Liebe erfüllt, wurde es vom Schmerz zerrissen.

Sie hatten seine Worte nicht verstanden, so wenig wie die Jünger, als Er ihnen unterwegs die Dinge ankündigte, die Ihm widerfahren würden, und als Er von seiner Auferstehung sprach. Was blieb ihnen da anders übrig, als bis zum Ende, das heisst bis zum Grab, ihren bescheidenen Dienst zu erfüllen?

Und so fanden sich diese Frauen am Freitagabend am Ort ein, wo man Ihn begrub, um Ihn im Morgengrauen des ersten Tages der Woche wiederzufinden. Zum mindesten wollten sie ihren geliebten Meister noch in der Gruft sehen und Ihm durch die Einbalsamierung seines Leibes eine letzte Huldigung erweisen, ein letztes Zeichen ihrer Liebe geben.

So kam es, dass diese kleine Gruppe von Frauen sich früh am Morgen auf den Weg begab, um den Herrn wiederzufinden und sich dem Ort zu nähern, wo sein Leib ruhte. Aber sie wussten, dass sich vor ihnen ein Hindernis befand, das sie hemmen konnte, sich bei Ihm einzufinden, ein für ihre schwachen Kräfte unüberwindliches Hindernis: ein «grosser Stein» verschloss den Eingang zur Gruft. «Und sie sprachen zueinander: Wer wird uns den Stein von dem Eingang der Gruft wegwälzen?» Werden sie am Platz die erforderliche Hilfe finden, um ihn wegzutun? Hätten sie jemand Stärkeren als sie mitnehmen sollen? Hatten sie gut getan, sich so früh am Morgen zur Gruft zu begeben, zu einer Stunde, wo der Ort vielleicht verlassen war? Das alles beschäftigte zweifellos ihre Gedanken, aber hielt sie nicht auf in ihrem Lauf, um ihren Herrn wiederzusehen, einen Herrn, der gestorben war und von dessen Auferstehung sie nichts wussten, aber den Maria Magdalene «meinen Herrn» nennen konnte.

Sie hatten wenig Kraft, wenig Kenntnis, wenig Gedächtnis, aber die Liebe erfüllte ihr Herz, und der Herr antwortet immer auf die Liebe der Seinen, auch wenn sie schwach und unwissend ist. Seine Antwort kam sogar dem Ausdruck ihres Bedürfnisses und ihrem Glauben zuvor. Als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein weggewälzt war. Wie denn? durch wen? Das war nicht so wichtig, wenn jetzt nur der Zugang zum Ort, wo ihr Herr hingelegt worden war, geöffnet ist! Sie lernen da – eine Antwort, die den schwachen Glauben dieser Frauen unendlich überstieg – dass ihr Herr, den sie so sehnlich zu sehen wünschten, sogar als Gestorbenen, auferstanden ist und dass sie Ihn mit ihren eigenen Augen lebend sehen würden.

Wie manches Mal haben nicht auch wir eine ähnliche Erfahrung gemacht! Wir sind auf unserem Weg Hindernissen begegnet, die unseren Augen oft gross erschienen sind, die uns sogar unüberwindlich schienen und unserem Glauben den Weg, der uns dem Herrn näher brachte, zu versperren schien. Hindernisse, die uns veranlassten, bei den Menschen Hilfe zu suchen, die der Herr uns allein geben konnte und wollte. Aber diese Hindernisse, auf unseren Weg gesetzt, waren da, um unseren Glauben und unsere Liebe zu prüfen und um uns zu zeigen, dass der lebt, den wir unter den Toten suchten. Er lebt, um sich für uns zu verwenden. Der Stein ist weggewälzt, um uns den Zugang weit zu öffnen, nicht zu einer Gruft, sondern zum Heiligtum seiner Gegenwart.