Das ganze Gesetz, so sagt uns das Wort, ist in einem Wort zusammengefasst: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Röm 13,9). «So ist nun die Liebe die Summe des Gesetzes» (Vers 10). «Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.›» (Gal 5,14).
War dies schon der Inhalt des Gesetzes, wie viel mehr kann dies dann von der Gnade und den Geboten des Herrn gesagt werden, dem alten und dem neuen Gebot! Wieder ist es Liebe, die Liebe, die Gott in seinem Sohn völlig offenbart und durch Ihn den Seinen gegeben hat, als einen Schatz, der uns zu Schuldnern macht, nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber allen Menschen.
Der Apostel Paulus, dem das Evangelium Gottes anvertraut worden war, um es zu verkündigen, betrachtete sich als Schuldner gegenüber allen, sowohl Juden als Griechen, dies war für ihn eine Schuld, die ihn drängte und bewirkte, dass er sich verpflichtet fühlte, sie freimütig zu bezahlen. Auch wir sind Schuldner gegenüber dem Nächsten, also gegenüber allen Menschen. Unsere Schuld ist die Liebe, die Gott durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen und uns als Gabe gegeben hat. Wir haben sie weiterzugeben, sie soll in Tätigkeit kommen gegenüber allen.
«Jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott.» Durch die Liebe können wir zeigen, dass wir Kinder Gottes sind und Ihn kennen. «Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe» (1. Joh 4,7.8).
Unsere Herzen sollten viel mehr geübt sein darüber, was die Liebe Gottes ist und was sie hervorbringt! Wie sehr fehlen wir in dieser Hinsicht! Dieser Weg der Liebe war es, den der Apostel den Korinthern zeigte (1. Kor 13), hätten sie treuer auf ihm gewandelt, so hätte er sie nicht tadeln müssen wegen ihres Wandels, wegen ihrer Uneinigkeit und den Rechtshändeln, die sie untereinander hatten. Warum ertrugen sie nicht lieber die Ungerechtigkeiten? Warum liessen sie sich nicht lieber übervorteilen? Die Liebe, sagt er, sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie erträgt alles, sie ist langmütig, ist gütig. Warum tut ihr das? fragte der Apostel. Die Liebe fehlte! Ach, wenn die Liebe in unseren Herzen ihre Früchte hervorbrächte, würden dann nicht alle Schwierigkeiten verschwinden?
Alles ertragen, nicht seine Rechte geltend machen, das ist Liebe, und wie sehr ist dies unserer Natur entgegen! Wenn wir unseren Bruder in der Prüfung oder im Schmerz sehen, zeigen wir ihm in Liebe unsere Anteilnahme. Hat man uns aber Unrecht getan oder wird uns ein kleiner Vorwurf gemacht, bekommt die alte Natur die Oberhand, und die Liebe erlischt. Haben wir uns deswegen nicht oft zu demütigen und uns zu sagen: die Liebe fehlte! nicht bei meinen Brüdern, sondern in meinem eigenen Herzen? Dass wir doch immer die Person unseres Herrn vor Augen hätten, der Liebe ist und uns durch sein Leben und durch seinen Tod das wunderbare Bild gegeben hat von dem, was tätige Liebe ist, was sie hervorzubringen vermag und soll.
Der Herr will, dass wir uns mit dieser selben Liebe lieben. «Wie auch der Christus uns geliebt hat» (Eph 5,2) – «Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben» (1. Joh 3,16). Das ist das Mass unserer Liebe! Sie soll nicht davon abhängen, was unsere Brüder uns gegenüber sind, sondern was sie für den Herrn sind. Sie mögen uns beleidigt, uns unrecht getan haben, aber sie sind seine Brüder, seine Geliebten. «Insofern ihr es einem der geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt ihr es mir getan» (Mt 25,40). Die Menschen können in gewissen Umständen, in ihrem eigenen Interesse Unterstützung leisten, um Schwierigkeiten zu vermeiden, aber das ist noch nicht die Liebe, die gütig ist und sich selbst vergisst, um an andere als an ihre Interessen zu denken. Die Liebe ist wie ein Kleid, in dem wir uns der Welt zeigen sollen, mit dieser Milde, die allen Menschen kundwerden soll. Dieses Kleid wird uns als Jünger des Herrn erkenntlich machen. «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt» (Joh 13,35). Sie ist das sichere Zeichen unserer Herkunft. Welch ein Anstoss für die Welt, wenn wir Kinder Gottes zu sein bekennen, aber fleischliche Empfindungen offenbaren statt Liebe!
Der Zustand der Korinther machte vonseiten des Apostels viele Vorwürfe und Ermahnungen nötig. Sie waren aufgeblasen, hatten Parteiungen und Rechtshändel und es gab sogar Hurerei unter ihnen. Alle diese Ermahnungen sind sozusagen zusammengefasst in dem Wort am Ende des Briefes: «Alles bei euch geschehe in Liebe.» Das ist der «vortrefflichere Weg», den der Apostel ihnen zeigte: «Einen noch weit vortrefflicheren Weg zeige ich euch» (1. Kor 12,31). Die Liebe, die Gott in unsere Herzen ausgegossen hat, sollen wir gegenüber unseren Geschwistern allen ausüben, indem wir ihnen Gutes tun, aber sie soll auch nach aussen hin zu allen den Weg finden. «Lasst uns das Gute wirken gegenüber allen, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens» (Gal 6,10), und wir sollen Fürbitte tun für alle Menschen. Liebe als Antwort auf Hass vermag selbst harte Herzen zu zerbrechen und mühselige und beladene Seelen zu dem zu ziehen, der Liebe ist. Der Gläubige ist ein Kanal, der Liebe um sich her verbreiten soll. Dass doch unsere Herzen so von ihr erfüllt wären, dass sie überflössen und die Menschen sie schmecken könnten, sie, die sie noch nicht kennen! Wir sind Schuldner gegenüber allen, um ihnen das Evangelium der Gnade mitzuteilen und sie teilnehmen zu lassen an der Liebe Gottes, an der Liebe Christi.
Es gibt nichts Höheres, nichts Tieferes, nichts Grösseres als die Liebe. Der Apostel wünschte, dass die Epheser in dieser Liebe gewurzelt und gegründet seien, um erfassen zu können, «welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus» (Eph 3,17-19). «Bleibt in meiner Liebe», sagt der Herr. «Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes», sagt Judas. «Vor allen Dingen aber habt untereinander eine inbrünstige Liebe», sagt der Apostel Petrus.
Es gibt drei Dinge, die bleiben, sie stellen in gewissem Sinn den Zustand des Gläubigen dar: Glaube, Hoffnung und Liebe. Der Glaube richtet seine Gedanken zum abwesenden Herrn empor, die Hoffnung auf seine Wiederkehr in Herrlichkeit, um diese Herrlichkeit mit Ihm zu teilen. Aber sie beide lassen wir mit dem Leib der Niedrigkeit zurück, wir werden sie in der Gegenwart des Herrn nicht mehr nötig haben. Und die Liebe? Die Liebe ist ewig, die Liebe vergeht niemals.