Am Ende seines Weges auf der Erde, kurz vor dem Kreuz, sagte der Herr zu seinem Volk, das Ihn verwarf: «Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!» (Mt 23,37). Schrei eines gequälten Herzens, dessen Liebe verkannt wird! Das ungläubige Volk hatte in seiner Person nichts Begehrenswertes gesehen. Von Anfang seiner Geschichte an hatte es seine heiligen Gesetze übertreten und setzte nun seiner Gesetzlosigkeit die Krone auf und brachte Ihn zum Tod zwischen zwei Übeltätern. Doch wussten die Gläubigen in allen Jahrhunderten unter seinen Flügeln eine sichere Zuflucht zu finden. Im Buch der Psalmen, das besonders von der Verwerfung des Herrn spricht, wird viermal erwähnt, wie Gläubige sich an diesen gesegneten Ort begaben.
Möge dies auch das Teil eines jeden von uns sein, damit wir uns allezeit der Sicherheit rühmen und der Segnung erfreuen können bei Dem, der uns inniger liebt, als die zärtlichste Mutter.
Die erste Stelle finden wir in Psalm 17,8. Dort findet der Gerechte vor den Bösen, die ihn zerstören wollen und vor den Feinden, die ihn umgeben, unter diesen deckenden Flügeln eine sichere Zuflucht und ist vor jeder Gefahr geschützt. Welcher Feind könnte uns an einem solchen Ort erreichen und uns Böses tun? Er ist der Allmächtige.
In Psalm 57,2-3 flüchtet sich die Seele unter den Schatten seiner Flügel «bis das Verderben vorübergezogen ist». Ihr Glaube freut sich dreier Dinge:
- Sie hat eine sichere Zuflucht.
- Sie weiss, dass die Schwierigkeit, «das Verderben», nur für einen Augenblick ist und vorübergeht.
- Sie ist überzeugt, dass der Höchste, der über allem steht, für sie alles zum guten Ende ausführen wird.
Teure Erlöste des Herrn! Wie haben wir es doch in unseren Tagen so nötig, diese drei Dinge zu verwirklichen, nicht mit dem Verstand, sondern in unseren Seelen! Viele von uns sind in Trübsal: die einen im Hinblick auf die Dinge des Lebens, andere durch Krankheit oder Trauer. Möge dies alles dazu beitragen, dass wir dem Herrn näherkommen und unter dem Schatten seiner Flügel Zuflucht suchen bis die Trübsal vorübergezogen ist! Da werden wir ruhig bleiben, in dem kostbaren Bewusstsein, dass unsere Geschicke in den Händen dessen sind, der alles zu unserem Besten ordnet und dass die Erlösung, das Kommen des Herrn, nahe ist.
In Psalm 36,6-10 finden wir Menschenkinder, die unter dem Schatten seiner segenspendenden Flügel Schutz suchen. Hier wird die Seele nicht um der Feinde willen dahin geführt, wie im 17. Psalm, noch wegen des Verderbens, wie im 57. Psalm, sondern durch die Güte und die Treue Gottes, dessen treue Güte gegenüber seinem Volk unveränderlich ist: «Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Und Menschenkinder nehmen Zuflucht zum Schatten deiner Flügel.» Wo ist sonst ein solcher Ort zu finden? Und doch entfernen wir uns in unserer Torheit so oft von diesem Ort, so dass Gott, der uns liebt, sich der Schwierigkeiten bedienen muss, um uns dahin zurückzubringen. Da können wir reichlich trinken von der Fettigkeit seines Hauses und wir werden da mit dem Strom seiner Wonnen getränkt. Da sind wir auch im Licht seiner Gegenwart: «In deinem Licht werden wir das Licht sehen.» An einer solchen Zufluchtsstätte fehlt es an nichts.
Daher kann David in Psalm 63,8 sagen: «Ich werde jubeln in dem Schatten deiner Flügel.» Im vollen Licht dieses heiligen Ortes, gesättigt von den Wonnen des Heiligtums, die Herzen von Christus erfüllt, kann Dank und Jubel emporsteigen gegen den, den der Glaube gefunden hat und in dem er alles besitzt, was er begehrt.
Warum hört man heute in den Familien der Gläubigen so wenig singen? Einer der hauptsächlichsten Gründe ist der, dass man weder in guten noch in bösen Tagen gelernt hat, sich unter den Flügeln des Allmächtigen aufzuhalten. Und im Singen der Lobgesänge des Herrn liegt doch ein so grosser Segen! Welch ein Zeugnis ist es auch gegenüber denen, die draussen sind! In der Wüste zu singen ist ja sonst nicht üblich; aber David tat es, als er in der Wüste Juda war, denn er befand sich dort im Schatten dessen, den er von Tagesbeginn an suchte. Das möge auch unser aller Teil sein!