Der von Gott Verlassene

Psalm 22,2; Matthäus 27,46; Markus 15,34

Da ist eine Äusserung von tiefer und wunderbarer Bedeutung – ein Satz, der nicht seinesgleichen hat im Buch Gottes. Es ist dieser: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Ps 22,2; Mt 27,46; Mk 15,34). Nie, so können wir mit Sicherheit sagen, konnte vorher eine solche Frage von einem Gläubigen (mit Recht) gestellt werden; und nie musste sie seither oder wird sie in Zukunft ausgesprochen werden müssen. Sie steht allein da in den Annalen der Ewigkeit.

Leser, lass uns einen Augenblick darüber nachdenken! Wer war es, der diese Frage stellte? Es war der ewige Sohn Gottes, der Eine, der im Schoss des Vaters war und ist, schon vor Grundlegung der Welt der Gegenstand der unendlichen Wonne des Vaters. Zudem war Er Gott, der über alles ist, gepriesen in Ewigkeit, der Schöpfer aller Dinge, der allmächtige Erhalter des unendlichen Weltalls. Anderseits aber war Er ein Mensch – ein reiner, heiliger, vollkommener Mensch – einer, der nie gesündigt hatte, noch sündigen konnte, weil Er Sünde nicht kannte (2. Kor 5,21). Er wurde von einer Frau geboren, wie wir, und ist uns in jeder möglichen Beziehung gleich geworden, mit der einzigen fundamentalen Ausnahme: ohne Sünde. Von Ihm sagt das Wort: «Sünde ist nicht in ihm», und auch: «Der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden» (1. Joh 3,5; 1. Pet 2,22).

Alles was Er tat, war zum Wohlgefallen Gottes. Von der Krippe in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgatha war sein ganzes Leben in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Jeder seiner Gedanken, jedes Wort, jeder Blick, jede Bewegung war ein unaussprechlicher Wohlgeruch, der zum Thron emporstieg und das Herz Gottes erfreute. Immer wieder öffneten sich die Himmel über dem Gesegneten, und die Stimme des ewigen Vaters gab Ihm Zeugnis in Ausdrücken wie diesem: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.»

Das also war der Eine, der die Frage stellte. Er war es, der sagte: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Und ist es wirklich wahr, dass ein solcher von Gott verlassen wurde? Hat Gott in Tat und Wahrheit seinen Vielgeliebten verlassen? Hat Er tatsächlich sein Angesicht vor dem einzig sündlosen, reinen, vollkommenen Menschen verborgen, der je in dieser Welt gelebt hat? Verschloss Er sein Ohr vor dem Schrei des Einen, der nur gelebt hat, um Gottes Willen zu tun und seinen Namen zu verherrlichen?

Ja, es ist wunderbar, dies zu sagen: Gott tat es. Gott, der seine Augen nicht zurückzieht von dem Gerechten, dessen Ohr immer offen ist für den Schrei des Bedürftigen, dessen Hand immer ausgestreckt ist zum Schutz des Schwachen und Hilflosen – Er, gerade Er, wandte sein Angesicht ab von dem kostbaren Gegenstand seiner Liebe und antwortete nicht auf seinen Schrei.

Da haben wir ein tiefes Geheimnis, über das wir nicht zu oft nachsinnen können. Es enthält den eigentlichen Kern und das Wesen des Evangeliums – die grosse Grundwahrheit des Christentums. Je mehr wir über die Herrlichkeiten des Einen nachdenken, der diese Frage stellte – wer Er war, was Er in sich selbst war und was Er für Gott war, desto mehr öffnen sich uns die wunderbaren Tiefen der Frage. Und je mehr wir ferner Gott betrachten, an den die Frage gerichtet war, desto besser erkennen wir seinen Charakter und seine Wege.

Warum denn hat Gott seinen Christus verlassen? O Leser, weisst du warum? Weisst du um die Bedeutung dieser Tatsache für dich persönlich? Kannst du aus innerster Seele sagen: Ich weiss warum Gott Ihn verliess: Weil Er meinen Platz eingenommen hat. Er wurde für mich zur Sünde gemacht. Alles was ich war, alles was ich getan habe, alles wessen ich schuldig war, wurde auf Ihn gelegt. Gott rechnete mit mir ab in der Person meines Stellvertreters. Alle Sünde meiner Natur und alle Sünden meines Lebens alles was ich bin und je getan habe, wurde Ihm zugerechnet. Er hat mich vertreten und wurde daher entsprechend gerichtet.

Sag, hat Gottes Geist dich dieses gelehrt? Hast du dies in einfachem Glauben angenommen, aufgrund der Autorität des Wortes Gottes? Wenn es so ist, dann musst du einen festen Frieden haben – einen Frieden, den keine Macht der Erde oder Hölle, der Menschen oder des Teufels dir je rauben kann. Das ist die wahre und einzige Grundlage des Friedens der Seele. Es ist völlig ausgeschlossen, dass irgendeine Seele wirklichen Frieden mit Gott haben kann, bevor sie weiss, dass Gott selbst auf dem Kreuz Jesu Christi die Frage der Sünde und der Sünden geordnet hat. Gott wusste was nötig war, und Er sorgte dafür. Er legte das volle Gewicht unserer Schuld auf Christus. Gott und die Sünde sind einander begegnet. Dort am Kreuz ist die ganze Frage ein für alle Mal göttlich geregelt worden. Der Sündenträger kam unter die Wogen und Wellen des Zorns Gottes. Gott legte Ihn in den Staub des Todes. Die Sünde wurde an Ihm gerichtet, entsprechend den unnachgiebigen Ansprüchen der Natur, des Charakters und des Thrones Gottes.

Und nun ist dieser Eine, der für uns zur Sünde gemacht und an unserer statt gerichtet wurde, zur Rechten Gottes erhöht, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Und gerade diese Krone, die seine Stirne schmückt, ist der Beweis, dass Er die Reinigung von den Sünden bewirkt hat, so dass, bevor eine einzige Sünde dem Gläubigen zur Last gelegt werden könnte, diese Krone vom Haupt des Erlösers genommen werden müsste.

Aber da ist noch ein anderes Element von unaussprechlicher Kostbarkeit, das zur Antwort auf das geheimnisvolle «Warum» des am Kreuz Verlassenen gehört: die erstaunliche Liebe Gottes zu uns Sündern – eine Liebe, die Ihn nicht nur dazu führte, seinen Sohn vom Himmel herabzusenden, sondern auch Ihn am Kreuz zu zerschlagen und Ihn, den Gekreuzigten, zu verlassen. Warum tat Er dies? Weil kein anderer Weg zu unserer Errettung führen konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder eine ewige Hölle für uns, oder der Zorn des heiligen Gottes über den Sündenträger. Gott sei gelobt! Er wählte das Zweite, und daher ist der Platz, den Christus jetzt einnimmt, als auferstanden aus den Toten, auch der Platz all derer, die an Ihn glauben.