Ein Stufenlied1
Hilfe von Gott
Sprachenkundige, die den Urtext kennen, sagen, der erste Vers dieses Psalms könne auch als Frage gesetzt werden: «Soll ich meine Augen zu den Bergen aufheben? Woher wird meine Hilfe kommen?» Die Antwort auf diese Frage, die im 2. Vers gegeben wird: «Meine Hilfe kommt von dem HERRN», ist in Übereinstimmung mit Jeremia 3,23, wo wir lesen: «Ja, trügerisch ist von den Hügeln, von den Bergen her das Lärmen; ja, in dem HERRN, unserem Gott, ist die Rettung Israels!»
Wie dem auch sei, es ist offenbar, dass unsere Augen auf Gott und nicht auf die Berge gerichtet sein sollen. Er ist der Gott der Berge und wohnt über ihnen (1. Kön 20,28).
Alle Jahrhunderte hindurch hatte Gott in denen, die Ihn fürchten, auf der Erde ein Volk gehabt. Die Beziehungen, worin die Gläubigen der verschiedenen Zeitepochen zu Gott standen, waren wohl verschieden, aber diese Menschen waren doch alle sein Eigentum. Abraham war Gottes Freund, Israel sein abgesondertes Volk, und die, die jetzt zu seiner Versammlung gehören, sind seine Kinder, die Ihn in Christus als ihren Vater kennen.
Unser «Hüter»
In diesem Psalm wird der Herr dreimal «der Hüter» genannt. Sein Name «HERR» kommt fünfmal vor. Er ist es, der Himmel und Erde gemacht hat. Er ist der Allmächtige. Was in der ganzen Welt kann Ihn hindern, den Seinen zu Hilfe zu kommen?
Wenn wir an unsere körperliche, stoffliche und vor allem auch geistliche Hilfsbedürftigkeit in allen Dingen denken, schätzen wir es als ein grosses Vorrecht, eine solche Zuflucht zu kennen. In den Dingen dieses Lebens haben wir vor allem seine Hilfe nötig und in geistlicher Hinsicht, in einer Welt voller Gefahren, seine Bewahrung.
Vom Hüter Israels wird hier gesagt, dass Er nicht schlummert und nicht schläft. Das kann von uns nicht gesagt werden. Wie manches Mal wird uns doch in der Schrift zugerufen: «Wacht!» Und es ist dann gewiss auch sehr nötig, so zu tun.
Unser Hüter schlummert und schläft nicht. Er, der für uns gestorben ist, lebt nun für uns. Dort im Himmel setzt Er ununterbrochen seinen Dienst für uns fort. Wenn unser Fuss vor dem Straucheln bewahrt wird, so ist es darum, weil unser Hüter nicht schlummert, sondern sein wachsames Auge auf uns gerichtet hält.
Der HERR wird dich behüten vor allem Bösen
Beim Lesen der letzten drei Verse dieses Psalms könnte man auf den Gedanken kommen, auch der heutige Gläubige werde vor allem Bösen bewahrt. Aber dem ist nicht so.
Doch dürfen wir daran festhalten, dass auch diese Verse «von Gott eingegeben» sind. Die Gläubigen aller Jahrhunderte haben sowohl aus dem Alten wie auch aus dem Neuen Testament Trost und Ermunterung empfangen. In jedem Teil der Schrift finden wir denselben Gott. Nur müssen wir darauf achten, an wen sich die darin enthaltenen Verheissungen richten.
Die Psalmen zum Beispiel richten sich in erster Linie an Israel. Die letzten drei Verse werden für dieses Volk wirklich in Erfüllung gehen, wenn das Friedensreich Christi aufgerichtet sein wird. Dann wird kein Bewohner des Landes mehr sagen: «Ich bin krank» oder «ich leide Mangel». Nichts Böses wird dann das Volk mehr treffen. Sie werden dann vielmehr «einer den anderen einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum» (Sach 3,10). Dann wird der Herr sie «behüten vor allem Bösen». Dies entkräftet aber keineswegs die grosse Wahrheit, dass Gott unser Vater ist. Wenn auch jetzt nicht jedes Böse von seinen Kindern ferngehalten wird, so steht doch fest: Unser Vater weiss, was zu unserer Erziehung oder Züchtigung, zur Erziehung einer friedsamen Frucht der Gerechtigkeit nötig ist. In den Leiden erfahren wir das Mitgefühl seines Vaterherzens.
- 1Die Psalmen 120-134 sind als Stufenlieder bezeichnet. Sie werden so genannt, weil sie bei gewissen Gelegenheiten gebraucht wurden und gewisse fortschreitende Vorgänge bezeichneten, wie z.B. die Rückkehr der Gefangenen aus Babylon. In der Tat, wir finden in diesen Psalmen das stets wachsende Bewusstsein, dass sich die Wanderer der Heimat, dem Ruheort nähern. Doch diese Befreiung aus Babylon und die Rückkehr zur Zeit des Kores sind nur ein Vorbild der zukünftigen Rückkehr Israels aus seiner jetzigen Zerstreuung. Deshalb entsprechen diese Stufenlieder den Umständen und den Gefühlen des Überrestes in den letzten Zeiten bis zu dem Augenblick, wenn er befreit und in die Ruhe des Reiches eingeführt werden wird. J.N. Darby