Zusammen mit Psalm 22 kann man Jesaja 53 als den moralischen Mittelpunkt des Alten Testaments bezeichnen. Wenn wir den Herrn Jesus kennen, merken und empfinden wir: Jesaja 53 ist im Grund auch unsere eigene Geschichte. Damit meine ich nicht die Einzelheiten dieses Kapitels, sondern dass unsere Geschichte insofern damit verknüpft ist, als der Herr Jesus, weil Er für uns starb, das erdulden musste, was in diesem Kapitel steht. Wir wollen uns in unseren Herzen vornehmen, beim Nachdenken über diese Verse eine ehrfürchtige Haltung einzunehmen.
Zwei Stellen sprechen im Alten Testament davon, dass auf heiligem Boden die Schuhe ausgezogen werden müssen (2. Mo 3,5; Jos 5,15). In geistlichem Sinn wollen wir das auch tun, wenn wir uns mit diesem Kapitel beschäftigen.
Ein Überblick
Im Propheten Jesaja finden wir den leidenden Knecht Gottes, und zwar als den verworfenen Knecht in Kapitel 49, als den gehorsamen Knecht in Kapitel 50 und als den einsichtigen Knecht am Ende von Kapitel 52. In Kapitel 53 haben wir den leidenden Knecht vor uns. Dieses Kapitel ist sicher ein Höhepunkt in diesem prophetischen Buch.
Hier eine vorsichtige Abschnittseinteilung des ganzen Textes. Um den Gesamtzusammenhang zu erkennen, müssen wir in Kapitel 52,13 beginnen. Dann können wir von 5 Abschnitten ausgehen:
- In Kapitel 52,13-15 spricht Gott.
- In Kapitel 53,1-6 ist unschwer zu erkennen, dass der treue jüdische Überrest spricht.
- In den Versen 7-9 kann man erkennen, dass Gott spricht.
- In Vers 10 scheint mir, dass es auch dort der Überrest ist, der dieses inhaltsschwere Wort sagt.
- In den Versen 11 und 12 spricht wieder Gott selbst über seinen gerechten Knecht.
Es ist also nicht übertrieben, wenn man sagt: Hier haben wir eine Art Dialog, ein Wechselgespräch zwischen Gott und dem Überrest. Es geht um das, was Gott sieht, und um das, was der Überrest gewissermassen in der Rückschau erkennt. Es sind die Worte des bußfertigen jüdischen Überrests der Zukunft. Er spricht über seine Torheit, diesen Messias verworfen zu haben.
Wir dürfen den Inhalt dieses Kapitels mit Freuden auf uns beziehen, die wir ja auch in den Genuss dieses grossartigen Erlösungswerks gekommen sind. In dieser Hinsicht darf man vielleicht noch eine zweite Einteilung dieses Kapitels vornehmen, die uns hilft, den Zusammenhang zu verstehen:
Im ersten Vers wird eine für sich dastehende rhetorische Frage gestellt. Eine solche Frage benötigt keine Antwort, weil sie die Antwort in sich trägt.
Dann folgt in den Versen 2-4 eine Beschreibung dessen, was unser Herr während seines Lebens vor dem Kreuz im Wesentlichen erfahren hat. Hier darf man auch an seine Leiden um der Gerechtigkeit willen denken.
In den Versen 5-10 finden wir unwiderleglich all das, was Er am Kreuz erfahren hat, und sogar bis zur Auferstehung. In den drei Stunden der Finsternis am Kreuz litt Er um der Sünde willen durch die Hand Gottes.
Die Verse 11 und 12 bilden eine Art Schlussstrich. Darin fasst Gott zusammen: Das ist hier geschehen!
Gottes Wort ist – dem Herrn sei Dank – unendlich. Daher sind auch die Leiden des Herrn ein so umfassendes Thema, dass wir nie genug davon erfahren können. Aber es ist doch etwas ausserordentlich Schönes, wenn wir solch ein erhabenes Kapitel lesen dürfen – allein nur lesen dürfen, geschweige denn, dass der Herr uns erlaubt, mit einem offenen Herzen darüber nachzudenken. Niemals wollen wir es mit einem Herzen tun, das einfach sagt: «Ach, das kenne ich schon.»
Die Leiden des Knechtes Gottes
Besonders beeindruckend ist die Art der Leiden, vor allem ab Vers 5. Es geht um die Leiden, die der Herr Jesus um der Sünde willen ertragen hat, also die Leiden in den drei Stunden der Finsternis. Das sind die Leiden schlechthin. Wenn man überhaupt von einem Höhepunkt auf dem einsamen Leidensweg unseres Herrn sprechen kann, dann waren es diese drei Stunden am Kreuz, diese drei Stunden der Finsternis. Davon redet der Text in Jesaja 53 fast ausschliesslich.
Es fällt auf, dass der Herr – die Person, von der hier gesprochen wird – völlig schweigt. In den vorigen Kapiteln, in denen der leidende Knecht gezeigt wird, redet der Herr. Aber jetzt schweigt Er. Gott spricht über Ihn, und der Überrest spricht über Ihn. Er selbst aber schweigt. Das ist besonders beeindruckend.
Gott bemüht sich, uns und vor dem ganzen Universum zu sagen, was Er an der wunderbaren Person seines Sohnes, am Messias, sieht und wie Er die Leiden dieser Person bewertet. Darauf richtet der göttliche Scheinwerfer seinen Lichtkegel in diesem Kapitel. Der Herr schweigt, aber Gott redet über Ihn. Und diese Leiden werden hier in Form eines Höhepunkts dargestellt.
Noch eine Bemerkung über die Struktur dieses Textes: Wenn wir nochmals kurz an Kapitel 52,13-15 zurückdenken, scheint es so, als ob Gott von oben her spricht. Es ist eine Schau von oben. Es ist auffallend, dass im Redefluss plötzlich von der dritten Person auf die zweite Person gewechselt wird: «Wie sich viele über dich entsetzt haben.» Da spricht Gott – die Schau von oben. Er wendet sich hier unmittelbar an seinen Knecht.
In Kapitel 53 hat man den Eindruck, dass es sich um die Schau der gleichen Situation handelt – aber diesmal von unten. In Kapitel 53 spricht der Überrest – und Gott nimmt das Wort auf und führt es dann gewissermassen dahin, dass wir zum Schluss zwischen den Zeilen lesen können: Jetzt ist das Erlösungswerk vollendet, jetzt ist der Erlöser verherrlicht.
Eine direkte Ansprache an uns
Jesaja 53 ist ein beeindruckendes Kapitel. Es spricht uns an. Doch es stellt sich die Frage: Spricht es wirklich jeden von uns an, so dass es zu einer Resonanz im Herzen kommt? Das muss sein, sonst fehlt das Zentrale, das Wesentliche! Ich bin überzeugt, dass Gott uns Menschen einen Vorwurf machen wird und kann, wenn wir an den Leiden seines Sohnes achtlos vorbeigehen. Das ist vielleicht die grösste Schuld, die wir auf uns laden können. Das ist in besonderer Weise der Fall, wenn Kinder von Gläubigen an dieser Tatsache achtlos vorübergehen. Wir können als Kinder jahrelang in die Sonntagsschule gehen, als Erwachsene jahrzehntelang die Zusammenkünfte der Gläubigen besuchen, und dennoch kann das Wort Gottes an unseren Ohren völlig vorbeigerauscht sein.
Haben wir übrigens nicht alle manchmal Mühe, uns im Lauf der Woche noch daran zu erinnern, was am Sonntag in der Wortverkündigung gesagt worden ist?
Deswegen ist es wichtig, beim Nachdenken über einen solchen Text, einmal ganz besonders aufzumerken. Das sind wir dem Herrn schuldig.
Beim Versuch, jetzt zu den einzelnen Versen etwas zu sagen, wollen wir uns bewusst bleiben, dass das nicht einfach ist. Alles, was wir Menschen dabei tun, ist im Grund stümperhaft. Wir bewegen uns im Bereich des Unendlichen. Wir tasten uns an etwas heran, was eigentlich unser Verstehen übersteigt.
Die Botschaft für das Volk (Vers 1)
Die rhetorische Frage im ersten Vers lautet: «Wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des HERRN offenbar geworden?» Was bedeutet dies? Das ist nicht eine Verkündigung, die etwa von uns oder vom Überrest ausgegangen ist. Das könnte man meinen. Doch die Fussnote sagt, dass es die uns betreffende Kunde ist. Es ist eine Kunde, eine Verkündigung, die an den Überrest gerichtet war. Nicht etwas, das von ihm ausging, sondern ihn anging. – Israel ist an der Kunde, die dieses Volk betraf, vorübergegangen. Es hat diese Kunde nicht gewollt. Trifft das nicht auch auf uns zu, wenn wir an unsere eigene Geschichte denken? Wie lange sind wir oft an der uns betreffenden Kunde vorbeigegangen? So lange, bis wir eines Tages verstanden haben: Das geht mich an! Es ist eigentlich ein Rückblick der Trauer: Man hat so lange Zeit gelebt, ohne diese Kunde in sein Herz aufgenommen zu haben.
Der Überrest spricht hier mit Trauer über das, was er jetzt rückblickend versteht. Dann folgt ein beeindruckendes Wort. Er redet schlicht vom «Arm des HERRN». Das ist eine bildhafte Umschreibung dessen, was Macht ist.
So heisst es in Jesaja 40,10.11: «Siehe, der Herr, HERR, kommt mit Kraft und sein Arm übt Herrschaft für ihn; siehe, sein Lohn ist bei ihm, und seine Vergeltung geht vor ihm her.» Wir verstehen sofort, dass «Arm» hier für Macht steht, für das Machtpotenzial, das dem lebendigen Gott eigen ist. Die Fortsetzung zeigt, was diese Arme ebenfalls bedeuten: «Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, die Lämmer wird er auf seinen Arm nehmen.» Man hat den Eindruck, dass das Wort «Arm» hier der Ausdruck von zärtlicher Kraft, von Schutz ist. Auch das ist sein Arm.
Kapitel 51,5 spricht ebenfalls von dieser Kraft: «Nahe ist meine Gerechtigkeit, mein Heil ist ausgezogen, und meine Arme werden die Völker richten. Auf mich werden die Inseln hoffen, und sie werden harren auf meinen Arm.» Und in Vers 9 des gleichen Kapitels heisst es: «Wache auf, wache auf! Kleide dich in Macht, du Arm des HERRN!» Dann noch ein letztes Mal in Kapitel 52,10: «Der HERR hat seinen heiligen Arm entblösst vor den Augen aller Nationen.»
Und der «Arm des HERRN» in unserer Stelle? Das ist schlicht dieser Mann aus Nazareth. Es ist die Person, von der wir lesen, dass sie in Schwachheit gekreuzigt worden ist (2. Kor 13,4). Von dieser Person finden wir nie, dass sie auch nur ein einziges Mal zu ihren eigenen Gunsten von Macht Gebrauch gemacht hätte. Von ihr lesen wir jedoch oft, dass sie zu Gunsten anderer diese Macht benutzte.
Das steht in diesem Rückblick des Überrests, der mit bußfertigem Herzen erkennt: «Dieser Jesus von Nazareth, dieser Mann von Golgatha, das war der Arm des HERRN. Und wir waren blind dafür!» Das wird auch die traurige Erkenntnis mancher Menschen sein, die verloren gehen, wenn sie vor dem grossen weissen Thron stehen werden. «Wie blind war ich zu verkennen, dass dieser mein Heiland sein wollte!» Doch dann ist es zu spät. Vom grossen weissen Thron geht es im Schweigemarsch in die Hölle!
Gott wurde Mensch – und kam ohne äussere Pracht (Vers 2)
«Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.» Beim Wort «Reis» denken wir an eine bereits früher vorkommende Stelle: «Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais … Und es wird geschehen an jenem Tag: Der Wurzelspross Isais, der dasteht als Banner der Völker …» (Jes 11,1.10). Es handelt sich um eine Bezeichnung des Herrn Jesus, des Messias. Diese Ausdrücke lassen uns an etwas Frisches, Saftiges denken, das wirklich das Grüne zeigt.
Wir dürfen diesen Gedanken bestimmt mit dem Herrn Jesus verbinden, als Er ein Kind war: das Kind, das in diese Welt geboren worden war, dieses Kind von Zion, dessen Leib Gott bereitet hat, wie wir das ausdrücklich lesen. Es hat nie eine menschliche Blume gegeben, die schöner war als dieses Reis, dieses Kind.
Ein Reis ist vor Gott aufgeschossen wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Dieser dürre Boden ist sicher eine Anspielung auf Israel. Doch es geht um den Herrn Jesus, gewissermassen die Blume und das Reis, dieses zarte Pflänzchen, das auf diesem trockenen Untergrund entstanden ist. Das ist der Arm, der Inbegriff von Macht, und das ist das Reis und der Wurzelspross, im Grund kaum zu sehen, aber der Inbegriff von Saft, Frische und Schönheit – von dem, was unsere Herzen anzieht. Und das teilt uns der Heilige Geist gerade in diesem Kapitel mit, das wie kein anderes von den Leiden des Herrn spricht.
«Er hatte keine Gestalt und keine Pracht.» Auch das wird rückblickend gesagt, und zwar von Ihm, von dem es an anderer Stelle heisst: «Du bist schöner als die Menschensöhne», und: «ausgezeichnet vor Zehntausenden» (Ps 45,3; Hld 5,10). Er war der Bannerträger unter Zehntausenden (vgl. Fussnote Hld 5,10 JND Translation): also der, der die Standarte trug, das Bild eines strahlenden Helden. So drückt sich die Heilige Schrift aus, wenn sie den Herrn beschreibt.
Von diesem Ausgezeichneten unter Zehntausenden lesen wir: «keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten» oder «Gefallen an ihm gefunden hätten». Das war nicht die Person, die man in Israel erwartete. Und doch war Er der von Gott Gesandte.
Der Knecht Gottes – auf der Erde der Verachtete (Vers 3)
«Er war verachtet und verlassen von den Menschen.» «Von den Menschen» heisst eigentlich: «von den Männern, d.h. den Hochgestellten». Beim Lesen der Evangelien, in denen wir sozusagen die historische Erfüllung dieses Textes finden, erkennt man, dass der Herr besonders von den religiösen Führern, von den Leuten, die in Israel den geistlichen Ton angaben, verachtet wurde.
Denken wir an die Begebenheit in Lukas 7, als der Herr im Haus des Pharisäers Simon eingeladen war. Jener Mann liess es gegenüber dem Herrn Jesus an den primitivsten Höflichkeitsformen fehlen. Doch der Heiland nahm es hin. Er war verachtet. Und dann ist es beeindruckend zu sehen, wie Gott in diesem Augenblick eine verkommene Frau, eine stadtbekannte Sünderin, benutzt, um dem Herrn diese Höflichkeitsformen zu erweisen. Wir sehen in dieser Begebenheit meistens einen Ausdruck der Gnade des Heilands zu dieser Frau. Doch es ist wohl auch ein Ausdruck der Ehrenbezeugung, die Gott durch diese Frau in diesem Augenblick seinem Sohn erweisen wollte.
Welch ein Horizont öffnet sich uns da, wenn wir dies einmal so betrachten. Als der Herr Jesus am Kreuz hing und keiner mehr da war, der ein Wort für Ihn einlegen wollte, da benutzte Gott einen Verbrecher, einen Kriminellen, der ein völlig verpfuschtes Leben hinter sich hatte. Dieser bekannte im Blick auf den Herrn: «Dieser hat nichts Ungeziemendes getan.» Über eine solche Vorgehensweise Gottes können wir nur staunen. Er benutzt Menschen, an die wir für so etwas nicht im Entferntesten denken würden. Aber das tut Gott. Und Er handelt so, weil Er seinen Sohn ehren will. Wenn «fromme Leute» nicht fromm sind, benutzt Er eben andere, die von seinem Sohn reden, wie es sein muss.
Im Blick auf die Verachtung von Jesus Christus können wir auch an den Vierfürsten Herodes denken. Er behandelte Jesus geringschätzig. Um Ihn zu verspotten, warf er Ihm ein glänzendes Gewand um und schickte Ihn zu Pilatus zurück.
Ein anderes Beispiel finden wir in Johannes 8. Man bekommt dort den Eindruck, dass die Leute, die in und um Jerusalem wohnten, ganz besonders mit Hass und Ablehnung gegenüber dem Herrn erfüllt waren. Er war zwar ein verachteter, aber sicher ein bekannter Mann.
In Johannes 8,41 sehen wir die Unverschämtheit jener Menschen, als der Herr zu ihnen sagte: «Ihr tut die Werke eures Vaters. Da sprachen sie zu ihm: Wir sind nicht durch Hurerei geboren.» Welch ein Akzent! Etwas, das der Unglaube aller Jahrhunderte gesagt hat, das sagen auch diese frommen Israeliten. «Wir nicht!»
Auch in Johannes 8,48 erkennt man ihre Geringschätzung, wenn die Leute zu Ihm sagen: «Sagen wir nicht zu Recht, dass du ein Samariter bist und einen Dämon hast?» Damit ist Er abqualifiziert, der Verlassene, der Verachtete. Für die religiöse Führungsschicht ist Er erledigt.
Einsam und verkannt
Doch das ist nicht nur bei der Führungsschicht so gewesen. In Psalm 69,13 heisst es: «Die im Tor sitzen, reden über mich.» Das sind – modern ausgedrückt – die hohen Beamten in Justiz und Verwaltung. Für sie war Christus ebenfalls erledigt. Sie redeten über Ihn – aber bestimmt nichts Freundliches.
Das ist der Hintergrund von: «Er war verachtet.» Da war keiner von den einflussreichen Leuten, für die Er etwas galt.
Aber in Psalm 69,13 werden nicht nur die Angesehenen genannt. Da heisst es weiter: «Ich bin das Saitenspiel der Zecher.» Auch die «Zecher» haben sich über den Herrn lustig gemacht. Er war ihr «Saitenspiel».
Er war auch verlassen. Das versteht man, wenn man bedenkt, dass Er der Fremdling vom Himmel war. Ein einsamer Mann, der alles erfahren und durchgemacht hat, was Menschen einem Menschen an Bösem und Schlechtem zufügen können.
Das Allertraurigste ist, dass Er auch innerlich der Einsame war, weil seine Jünger Ihn nicht verstanden. Es gibt kaum ein Anzeichen in den Evangelien, das uns erlaubt zu sagen, sie hätten Ihn je verstanden.
Es scheint, dass Maria von Bethanien die einzige Person war, die Ihn verstanden hat, die ein Gespür für das hatte, was ihr Herr empfand.
Er war wirklich der Einsame und der Verlassene. Als der Herr Jesus auf die Erde kam, war Er der Arme und Unbedeutende. Seine Zeitgenossen betrachteten Ihn als einen hergelaufenen Wanderprediger. So hat man Ihn abqualifiziert, den Sohn Gottes, diese wunderbare Person!
Der Mann der Schmerzen
Weiter heisst es in Vers 3: «Ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut.» Was mag das bedeuten? Das, was die Sünde in der Welt angerichtet hatte, erzeugte bei Ihm Schmerzen, einen seelischen Schmerz. Wie sehr drückten Ihn die Folgen der Sünde nieder! Es gab sicher nie einen Menschen auf dieser Welt, der solch ein Herzeleid empfunden hat wie unser Herr, dieser «Mann der Schmerzen».
Und der Mensch hat alles getan, um dies zu vermehren. Der Mann der Schmerzen empfand jede Reaktion der ungläubigen Menschen mit grossen, inneren Schmerzen. Es fehlen uns die Worte, um auszudrücken, wie der Herr das empfunden haben mag. Unsere Sprache ist zu arm dafür.
«Mit Leiden vertraut.» Er war mit allen Kümmernissen und Krankheiten, mit den verschiedenen Formen menschlicher Leiden, vertraut. Weshalb fügt der Text jetzt den Zwischensatz ein: «und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt»? Wir hätten doch verstehen können, wenn auf die Aussage: «ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut», sofort gefolgt wäre: «Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet.» Aber warum diese Einfügung: «und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt»? Hängt das vielleicht mit der Vorstellung der Juden und der Menschen im Altertum zusammen? Drückt dieser Satz möglicherweise eine besondere Art der Verachtung aus?
Der Mensch in der Antike liebte die Trauer nicht, er schätzte es auch nicht, wenn man sich in Schwarz hüllte. Schon der König Ahasveros – die Geschichte nennt ihn Xerxes – konnte es nicht ertragen, wenn man in Sack und Asche vor ihm erschien (vgl. Esth. 4,1.2). Da musste man in prächtigen Kleidern erscheinen. Das ist die Vorstellung des antiken Menschen überhaupt: möglichst kein Unglück, möglichst nichts, was von Traurigkeit spricht.
Und dann kam der Herr Jesus und lebte genau das aus. Er war ein Mann, der gerade für die Not und das Unglück anderer tiefe Empfindungen zeigte. Weil Er dies tat, war Er für den antiken, heidnischen Menschen besonders unerträglich. Vor dem «Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut» konnte man daher nur «sein Angesicht verbergen» – da musste man einfach wegsehen.
Homer, einer der grossen Dichter des alten Griechenlands, spricht im Heldenlied, in der Ilias, vom heldenhaften Achilles. Das ist es, was der Mensch liebte: eine strahlende Persönlichkeit, eine glänzende Figur, äusserlich prächtig gekleidet, ein Held auf der ganzen Linie. Ein von allen verachteter Menschensohn aber war nicht beliebt. Er passte weder in die Gesellschaft noch in das Denken der Menschen hinein. Vor einem solchen Mann konnte man das Angesicht nur verbergen. Er war es nicht wert, dass man Ihn ansah.
Der Mensch fühlt sich dem vollkommenen Menschen überlegen
Wenn man einen Menschen nicht ansehen will, erhebt man sich in seinen Gedanken über ihn. Man fühlt sich zu erhaben, als dass man ihn eines Blickes würdigt. In Jesaja 6 aber verhüllen die Seraphim ihre Angesichter, weil sie verstehen, wer auf dem hohen und erhabenen Thron sitzt. Die Seraphim fühlen sich unwürdig, und deswegen verdecken sie ihr Angesicht. Und dieser Hohe und Erhabene in Jesaja 6 ist in Kapitel 53 der verachtete und verschmähte Mann von Nazareth. Ihn wollten seine hochmütigen Zeitgenossen nicht einmal anblicken.
Die Anmassung der Menschen, die sie in ihrem Herzen hatten, als der Sohn Gottes auftauchte, sucht ihresgleichen. Tief beeindruckend ist, dass der Herr Jesus dies alles hingenommen hat. Er ist nicht einfach in den Himmel zurückgekehrt und hat uns Menschen unserem Schicksal überlassen. Seine Liebe verbot Ihm das. Er war in Liebe gekommen, um sein Herz voll Liebe auszuschütten.
Am Schluss von Vers 3 wird wiederholt: «Er war verachtet und wir haben ihn für nichts geachtet.» Man bekommt den Eindruck, dass es am Anfang dieses Verses die Grossen waren, die Christus verachteten. Am Ende aber ist Er der von jedermann Verachtete. Keiner war da, der im Grund ein Herz für Ihn hatte. Das ist unser Herr!
Christus trug unsere Leiden – in seinem Leben (Vers 4)
«Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen.» Im Neuen Testament erklärt der Herr selbst diese Stelle. So heisst es in Matthäus 8,16.17: «Als es Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit einem Wort, und er heilte alle Leidenden, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht: ‹Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.›» Das ist es, was der Herr in seinem ganzen Leben getan hat. Voll Mitgefühl nahm Er diese Krankheiten auf sein Herz und seinen Geist. In seinem Erbarmen beseitigte Er die Folgen der Sünde, indem Er viele heilte.
Als der Herr Jesus dann ans Kreuz ging, nahm Er auch die Ursache weg. Während seines Lebens nahm Er die Folgen der Sünde weg. Als Er am Kreuz litt und starb, nahm Er die Ursache dieser Krankheit weg.
Im zweiten Teil von Vers 4 heisst es dann: «Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt.» Da drückt sich wieder diese frühere Fehleinschätzung des Überrests aus. Das war ihre Vorstellung, die sie von Christus hatten. Vielleicht dachten sie dabei an Gehasi, den Diener Elisas, den Gott mit Aussatz bestrafte. Möglicherweise dachten sie auch an König Ussija, der ebenfalls mit Aussatz bestraft, d.h. von Gott geschlagen wurde. Diese Vorstellung hatten sie wohl in ihrer Blindheit, als sie an den Herrn Jesus dachten.
Unsere Schuld lag auf dem Reinen (Vers 5)
Der Überrest muss lernen: «Doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet.»
Bei den Versen 5 und 6 – und darüber hinaus – muss man an die drei Stunden der Finsternis am Kreuz denken, in denen die Sonne ihren Schein versagte. Damals, als Gott seinen Zorn über das Haupt des einzigen Reinen und Heiligen ausgoss, geschah das Sühnungswerk. Dort und damals wurde unser Heiland zur Sünde gemacht.
Es gibt kaum eine andere Stelle im Alten Testament, die deutlicher sagt, dass der Herr Jesus Stellvertreter war, indem Er unsere Übertretungen auf sich genommen hat.
An dieser Stelle sollten wir uns fragen: Ist das meine ganz persönliche Erfahrung? Kommt jetzt die Erinnerung an einen Augenblick, da ich vor dem Herrn Jesus auf meinen Knien lag und Ihn um Vergebung, um Rettung angefleht habe? Wie wichtig ist es doch, dass wir dann mit einem Mal begreifen durften: Ja, das ist auch wegen meinen Übertretungen geschehen.
Man hat schon gehört, dass Menschen, die in Sündennot waren, hier in kindlicher Einfalt ihren eigenen Namen eingetragen haben: «Doch um meiner Übertretungen willen war er verwundet, um meiner Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu meinem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist mir Heilung geworden.» Dann öffnete sich oft der Horizont für die Heilsgewissheit, und Frieden zog tatsächlich ins Herz ein.
Es ist wunderbar zu erfahren, wie der Frieden kommt, und zu erkennen, dass der Herr Jesus diesen schon längst gewirkt hat. Daher die Frage: Haben wir das, was in Vers 5 steht, in unserer eigenen Geschichte erlebt? Natürlich nicht in der Form, in der der Herr Jesus dies erlebt hat. Das ist unmöglich. Aber einfach das Bewusstsein: Ich war die Ursache dafür, dass Er dies ertragen musste.
Die Striemen des göttlichen Gerichts
Wenn wir von «verwundet», von «zerschlagen» und von «Striemen» lesen, dann dürfen wir nicht an das denken, was die Menschen Ihm angetan haben, so schlimm dies auch war. Sein Angesicht war entstellt. Er erlitt die furchtbare Geisselung der römischen Soldaten. Es ist kaum zu beschreiben.
Doch diese schlimmen körperlichen Qualen liessen Ihn nicht rufen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Da konnten die Furchen auf seinem Rücken noch so tief gezogen sein – das war es nicht, was Ihn zu diesem Ausruf bewegte. Die menschlichen Schläge sind nicht vergleichbar mit den Schlägen Gottes, die unseren Herrn getroffen haben. Diese sind hier aber gemeint.
Die Striemen und das Verwundetsein sind Ausdrücke für die Auswirkungen der göttlichen Schläge, des göttlichen Gerichts in den drei Stunden der Finsternis.
Die Striemen, die die Menschen Ihm zugefügt haben, werden in den Evangelien genannt. Hier aber geht es um die Schläge Gottes, die kein Mensch gesehen hat. Das hat nur Gott gesehen. Und das allein hatte sühnende Wirkung. Das war es, was in unserem Leben etwas bewirkt hat, als wir in Buße und Glauben zu Ihm gekommen sind. Wegen unseren Übertretungen war Er verwundet, wegen unseren Ungerechtigkeiten zerschlagen.
«Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.» Wenn man das zum ersten Mal im Leben begreift, ist es wie die süsseste Musik, die es gibt. Das werden wohl die meisten von uns aus eigener Erfahrung bestätigen können.
Unser Eigenwille brachte Ihm das Gericht (Vers 6)
«Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen Weg.» Hier ist von den ichbezogenen Schafen die Rede, von denen, die nur sich selbst im Mittelpunkt von allem sehen. Da kommt der Egoismus unserer natürlichen Herzen zum Ausdruck. «Jeder auf seinen Weg.» Schafe, die eigenwillig ihren eigenen Kurs festsetzen, sind das Bild von uns Menschen. Lasst uns aber doch die Ausdrücke «wir alle» und «jeder» bedenken.
Wir leben in einer christlichen Ära, wo man teilweise pauschal sagt: Ja, wir sind ja alle Sünder, wir sind alle gleich schlecht. Und dann meint man, wir würden gewissermassen auch alle pauschal in den Genuss des Heils kommen. Mitnichten!
Es ist zwar richtig, dass wir alle Sünder sind. Aber es heisst, dass jeder sich auf seinen Weg wandte. Das Sündigen ist nicht nur eine kollektive Sache. Wir alle haben das persönlich getan. So trifft uns persönliche Schuld. Deswegen sind wir auch ganz persönlich aufgefordert, uns zu bekehren. Es gibt keine pauschalen Bekehrungen. Es ist wichtig, dass wir das verstehen. «Wir alle», das ist die eine Seite; aber auch «jeder» Einzelne wandte sich vom Herrn Jesus oder von Gott auf seinen eigenen Weg ab.
«Und der HERR hat ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit.» Noch einmal wird der Gedanke der Stellvertretung unmissverständlich formuliert.
Der stumme Mann der Schmerzen (Vers 7)
Nun spricht Gott wieder über den Messias, und wir finden da auch etwas vom Lamm und vom Schaf.
Zunächst heisst es hier, dass der Herr Jesus, der Messias, der Erlöser, schwieg. Zweimal wird gesagt, dass Er seinen Mund nicht auftat. Das wird von der Person gesagt, die kraft ihres Wesens «das Wort» ist (Joh 1,1). Hier jedoch schwieg Er.
Aus Psalm 22 erfahren wir, dass Gott schwieg und auf das Rufen des Herrn nicht antwortete. Das ist in der Geschichte Gottes mit dem Menschen absolut einmalig gewesen. Gott schwieg, als Er seinen Zorn über seinen Sohn ausgoss.
Nach unserem Vers war unser Herr wie ein stummes Schaf vor seinen Scherern. Aus den Evangelien wissen wir, dass Er am Kreuz siebenmal etwas gesagt hat. Doch grundsätzlich war Er der, der schwieg, der das, was geschah, hingenommen hat. Daher braucht die Schrift das Bild vom Lamm und das Bild vom Schaf.
«Ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird.» Sehen wir den sprachlichen und gedanklichen Unterschied zu Vers 6? Dort ging jeder seinen eigenen Weg. Das ist der eigenwillige Mensch! Aber jetzt finden wir diesen wunderbaren Menschen vom Himmel, der geführt wird. Hier öffnen sich Welten zwischen dem ersten Menschen und seinen Nachkommen und dem Menschen vom Himmel.
Wenn der Herr Jesus mit dem Lamm oder dem Schaf verglichen wird, dann sehen wir, wie Er einfach anders war als wir. Sogar in den Augenblicken, als Er zum Kreuz ging und genau wusste, was Ihm bevorstand, beugte Er sich. Das bedeutet, dass Er in seinem Herzen niedergebeugt war.
Passahlamm und Opferschaf
Vers 7 wird im Neuen Testament zitiert, und zwar in einer höchst interessanten Geschichte, bei der Bekehrung des äthiopischen Kämmerers (Apg 8,32.33). Es ist bemerkenswert, dass dort Lamm und Schaf vertauscht werden. Die Stelle in Apostelgeschichte 8 ist nach der sogenannten Septuaginta, der griechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, zitiert. Sie lautet: «Er wurde wie ein Schaf zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm stumm ist vor seinen Scherern.» Warum ist es in Jesaja gerade umgekehrt? Unmöglich hat der Heilige Geist hier etwas unkorrekt berichtet. Im Gegenteil, alles, was Er hier sagt, hat seinen tiefen Sinn.
Obwohl die Bilder im Neuen Testament umgekehrt werden, ändert sich damit die ausgedrückte Wahrheit praktisch überhaupt nicht. Wenn in Jesaja 53 vom Lamm gesprochen wird, spielt der Geist Gottes dann nicht auf das Passahlamm an? Und wenn in Apostelgeschichte 8 an der gleichen Stelle vom Schaf gesprochen wird, das zur Schlachtung hingeführt wird, könnte der Geist dann nicht auf das Opferschaf des Schuldopfers hinweisen?
Der Geist Gottes macht diese feinen Unterschiede, um uns die Möglichkeit zu geben, einmal darüber nachzudenken. Das, was in Jesaja 53 berichtet wird, wird aber durch den auffälligen Unterschied in keiner Weise infrage gestellt.
Auf das Gericht folgt der Tod (Vers 8)
«Er ist weggenommen worden aus der Angst und aus dem Gericht. Und wer wird sein Geschlecht aussprechen? Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.» Weggenommen zu sein bedeutet an dieser Stelle nicht, befreit worden zu sein. Nein, es bedeutet: weggenommen, um zu sterben. Der Sinn dieser Worte wird durch den Zusammenhang bestätigt: «Wer wird sein Geschlecht aussprechen? Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.» Ein ähnlicher Sprachgebrauch an anderen Stellen bestätigt dies. «Nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage», sagt der Herr Jesus prophetisch in Psalm 102,25. Oder in Johannes 19,15 heisst es: «Sie aber schrien: Hinweg, hinweg!» Der Sinn ist eigentlich: Nimm weg, nimm weg! Die Juden und die Führer des Volkes waren es leid, dass die Verhandlung noch weiterging. Deshalb sagten sie: «Nimm weg, mach ein Ende! Bring Ihn zum Tod!» Das ist der Sinn dieser Stelle.
Er wurde weggenommen, um zu sterben, und zwar aus der Angst und aus dem Gericht. Natürlich war es so, dass das Gericht zu Ende war, als der Herr Jesus starb. Er konnte wieder mit Gott als seinem Vater sprechen. Doch das bedeutet keineswegs, dass die Befreiung für Ihn gekommen war. Er wurde vielmehr aus dem Land der Lebendigen abgeschnitten.
Wir haben hier eine höchst bildhafte Darstellung. Wenn man sich irgendwo ins Fleisch schneidet, ist das sehr schmerzhaft. Dieses Bild gebraucht der Geist Gottes, um das Sterben des Herrn Jesus zu beschreiben. Als dieser Mensch – Jesus Christus – starb, war dies ein überaus schmerzhafter, unnatürlicher Vorgang: abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.
Der Prophet Daniel drückt das auch sehr stark aus, wenn er in Kapitel 9,26 prophezeit, dass der Messias weggetan oder ausgerottet werden und nichts haben wird.
Er war in den Augen der Menschen sozusagen vernichtet. So wertet das Gott. So radikal war die Wirkung seines Todes. Wir können uns vorstellen, dass dies unseren Herrn getroffen hat. Er war ja ein wahrer Mensch, aber ein sündloser, der alles, was Ihn (auch körperlich) traf, unendlich viel mehr empfand, als wir es empfinden können.
Und all das traf Ihn «wegen der Übertretung meines Volkes». Das mag der Prophet sagen; doch da spricht sicher auch Gott, indem Er sagt: Das ist mein Volk. Dafür stirbt jetzt mein Sohn. Damit ich dieses Volk nicht schlagen muss, schlage ich meinen Sohn.
Gottes Antwort auf die Leiden seines Knechtes (Vers 9)
«Man hat sein Grab bei Gottlosen bestimmt; aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod.» Ich frage mich, ob Er in seinem Leben je im Haus eines Reichen war, oder ob dies nur auf seinen Tod zutraf. Der reiche Oberzöllner Zachäus, in dessen Haus der Herr Jesus eingekehrt war (Lk 19,1-10), dürfte kaum ein Angehöriger der Klasse der Reichen im Sinn des sozialen Verständnisses der damaligen Zeit gewesen sein. Wir lesen zwar, dass Er im Haus eines Pharisäers zu Gast war. Doch es gibt wohl keine Stelle, in der ausdrücklich klargemacht wird, dass Er im Haus eines Reichen war. Im Gegenteil! Als Mensch war Er selbst der Arme, der keinen Cent in der Tasche hatte. Er musste erst jemand bitten, Ihm einen Denar zu zeigen. Er fuhr im Schiff eines anderen, ritt auf dem Esel eines anderen. Jetzt wurde Er ins Grab eines anderen gelegt. Christus hatte absolut nichts!
Gott hat Ihm diese Gunst erwiesen, so dass der gestorbene Leib des Herrn Jesus im «Haus» eines Reichen eine vorübergehende Ruhe fand. Welche Art von Tod den Herrn Jesus erreicht hat, erkennt man aus Hesekiel 28,8. Dort steht in einem völlig anderen Zusammenhang: «In die Grube werden sie dich hinabstürzen, und du wirst den Tod eines Erschlagenen sterben.» Es heisst eigentlich «die Tode». Die Mehrzahl drückt das Qualvolle der Todesart aus (vgl. die Fussnote zu Hes 28,8). Das ist es, was der Herr erduldet hat.
Wohin man blickt, überall hat der Herr Jesus Leiden erduldet, in einer Weise, in einem Ausmass, in einer Tiefe, die wir einfach nicht erfassen können. Und obwohl Er unser Heiland ist, sind wir doch oft so oberflächlich in unseren Herzen. Wir gehen einfach daran vorbei und denken: «Ach, das kenne ich ja schon.» Lasst uns dies dem Herrn bekennen und Ihn bitten, Er möge uns im Gedanken an diese Wahrheit doch wirklich volle, brennende Herzen schenken.
Dann wird gesagt, warum Gott Ihm diese Gunst erwiesen hat: «weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist.» In Psalm 55,24 steht etwas über Männer des Blutes und des Truges: «Und du, Gott, wirst sie in die Grube des Verderbens hinabstürzen; die Männer des Blutes und des Truges werden ihre Tage nicht zur Hälfte bringen.» Der Herr konnte nicht im Entferntesten mit einem Mann des Blutes und des Truges verglichen werden. Im Gegenteil! Trotzdem konnte auch Er seine Tage nur zur Hälfte erfüllen. Wir hören Ihn prophetisch sagen: «Nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage» (Ps 102,25).
Er wurde wirklich wie ein Übeltäter behandelt. Gott verfuhr so mit Ihm, und die Menschen machten es ebenfalls! Es ist beeindruckend, wenn wir solche Stellen immer vor dem Gesamthintergrund der Heiligen Schrift bedenken. Wirklich ein Thema, das unendlich ist! Wenn wir einst in der Herrlichkeit sein werden, werden wir in einem vollkommenen Zustand das alles verstehen. Und doch wird auch dann immer ein Rest unverständlich bleiben, weil es sich beim Herrn Jesus auch um eine göttliche Person handelt. Wir können einfach nicht ganz verstehen, dass Er so gelitten hat. Wir werden dies immer wieder auch mit dem «Warum» seiner Leiden verbinden. Und dann denken wir an unsere eigene Geschichte.
Es gefiel Gott (Vers 10)
Nun spricht wieder der Überrest: «Doch dem HERRN gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen. Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird er Samen sehen, er wird seine Tage verlängern; und das Wohlgefallen des HERRN wird in seiner Hand gedeihen.» Das ist ein merkwürdiger Ausdruck, dass es Gott «gefiel». Wir müssen einfach an das denken, was wir schon sehr früh in der Bibel finden. In 1. Mose 3 spricht Gott davon, dass der Same der Frau der Schlange den Kopf zertreten wird. Und Gott hat seinen eingeborenen Sohn gesandt, damit wir leben könnten. In seiner Liebe hat Er Ihn als eine Sühnung für unsere Sünden gesandt. Der Vater sandte seinen Sohn als Heiland der Welt. Das war es, was Gott so gefiel.
Das war sein Wohlgefallen, denn es war sein Ratschluss, wenn Er an uns verkommene, verdorbene und verlorene Menschen dachte. Daher gefiel es Gott, Ihn zu zerschlagen. Kommen wir da nicht zum Höhepunkt unserer Empfindungen, wenn uns bewusst wird, dass Gott sich so ausdrückt? Ihm hat es gefallen, diese wunderbare Person zu schlagen. Das verstehen wir nicht mehr. Wir dürfen es aber glauben und bewundernd darüber staunen. Das ist Anbetung. Wir dürfen verstehen: Das ist mein Heiland. Das Zerschlagen ist glücklicherweise nicht das letzte Wort.
In den letzten drei Versen ist dreimal die Rede von «seiner Seele». So wird mit besonderem Nachdruck von der Seele unseres Heilands, von seiner Persönlichkeit gesprochen. «Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird er Samen sehen.» In 3. Mose 5 wird das Schuldopfer im Einzelnen behandelt. Der Herr Jesus hat alles bezahlt, ja, Er hat über die Schuld hinaus gezahlt. Aufgrund seines Werkes kann die Frage der Sünde vollständig erledigt werden. Stellen wir uns einmal die Sünde als eine Gerichts-Akte vor. Dann ist diese Akte seit Golgatha endgültig geschlossen, zur Seite gelegt, erledigt. Gott ist ein für alle Mal so vollkommen befriedigt, dass Er nie wieder auf diese Akte «Sünde» zurückkommen wird.
Christus, unser Herr, hat das Schuldopfer gestellt. In den drei Stunden der Finsternis ist Er sowohl das Schuld- als auch das Sündopfer geworden. Das Brandopfer war Er über diese Zeit hinaus. Es begann, als Er ans Kreuz ging, und Er war es, bis Er ausrief: «Es ist vollbracht!» Der Text hier spricht nur vom Schuldopfer. Der springende Punkt bei dieser Stelle ist, dass Er alles in Ordnung gebracht, kompensiert hat. Da ist nichts mehr zu erstatten, Er hat alles getan.
Trotz seines Todes hat Er Samen
«Er wird Samen sehen.» Wenn aus der Sicht eines Israeliten jemand ohne Kinder stirbt, hat er keine Zukunft. Dann ist es aus, er ist abgeschnitten.
Hier aber sagt der Geist Gottes: «Doch, Du hast Samen, Du hast eine Nachkommenschaft, es gibt eine Zukunft.» Er verbindet dies mit den Worten: «Er wird seine Tage verlängern.» Diese Aussage bezieht sich auf die Auferstehung. Der Herr Jesus ist der Lebendige. Der Tod konnte Ihn nicht halten. Er ist in eigener Machtvollkommenheit auferstanden. Aber Er ist auch durch die Herrlichkeit des Vaters auferweckt worden. Diese Worte drücken das wirkliche Ende aus: Das Erlösungswerk ist abgeschlossen.
Am Ende von Vers 10 sagt der Heilige Geist: «Das Wohlgefallen des HERRN wird in seiner Hand gedeihen.» Endlich ist das göttliche Modell des Menschen da: der Mensch vom Himmel, der letzte Adam, in dem Gott seinen ganzen Willen erfüllt sieht. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr.
Der erste Mensch – und wir gehören alle zu dessen Nachkommenschaft – hat im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes immer wieder versagt. Aber jetzt ist einer da, der durch das Erlösungswerk gewissermassen den letzten Beweis dafür geliefert hat, dass Er den Willen Gottes völlig getan hat. Gott ist umfassend befriedigt, wenn Er diese Person ansieht.
Frucht und Sättigung für den Auferstandenen (Vers 11)
Ab Vers 11 gibt Gott eine Art Zusammenfassung. Er lässt uns noch einmal mit seinen Augen sehen und mit seinen Worten verstehen, wie Er das Ganze beurteilt. So sagt Er vom Herrn Jesus, von seinem Geliebten: «Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.» Wenn der Herr Jesus, nachdem die Menschen Ihn verworfen hatten, in den Himmel zurückgekehrt wäre, ohne das Sühnungswerk zu vollbringen, dann wäre das, was wir hier finden, nicht geschehen.
Es gibt auch eine andere Bibelstelle, die von «satt sein» spricht: «Denn satt ist meine Seele von Leiden» (Ps 88,4). Mit diesen Worten drückt der Herr seine Empfindungen als Mensch aus. Er sagt gewissermassen: Ich kann nicht mehr! Der Text benutzt ein menschliches Bild: Seine Seele ist «satt» von Leiden – es geht einfach nicht mehr.
Und doch hat Er auf diesem Weg der Leiden den Sieg errungen, so dass jetzt solche da sind, an denen Er sich freuen kann. Es sind jene, die sein Herz in alle Ewigkeit beglücken. Durch Gottes Gnade dürfen wir Gläubige dabei sein, dürfen uns zu dieser Frucht zählen, die Er sich durch seine Schmerzen und sein Sterben erworben hat. Und an dieser Frucht «sättigt» Er sich!
Weiter heisst es in Vers 11: «Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Knecht die Vielen zur Gerechtigkeit weisen.» Das scheint ein Rückblick auf das zu sein, was der Herr in seinem Leben getan hat. Während seines öffentlichen Dienstes hat Er die Menschen über das belehrt, was göttliche Gerechtigkeit ist.
Dann folgt: «Und ihre Ungerechtigkeiten wird er auf sich laden.» Das war sein Todeswerk, sein Sterbenswerk, die Leistung, die Er mit dem Sterben erbracht hat. Was Er im Leben getan hat, wird zuerst genannt. Dann folgt sein Sterben, in dem Er ihre Ungerechtigkeiten auf sich geladen hat. Das ist das Thema unseres Kapitels. Und das gibt Anlass für eine ewige Anbetung unserer Herzen. Über das, was Er in seinem Sterben getan hat, können wir nicht genug staunen. Dafür können wir nicht genug dankbar sein.
Wir wollen nie denken: «Ach, das liegt schon so lange zurück. Ich bin schon so lange auf dem christlichen Weg, ich brauche nicht mehr dafür zu danken.» Ja, wir haben manchmal Herzen mit solch merkwürdigen Gedanken. Das ist traurig! Dagegen wollen wir angehen. Wir haben täglich nötig, uns des Blutes unseres Heilands zu erinnern. Er musste sterben, sein Blut musste fliessen. Das ist die Garantie für meine Errettung.
Die Herrschaft des ehemaligen Knechtes (Vers 12)
Jetzt sehen wir die Belohnung Gottes, wie Er Ihn ehrt: «Darum werde ich ihm Anteil geben an den Vielen.» Bei diesen Vielen oder Grossen geht es um die Könige, die wir in Kapitel 52,15 finden. Jetzt zeigt sich, dass Er der wahre Herr der Herren und der König der Könige ist. Er hat das Sagen; Er führt das Kommando. Jetzt sind es nicht mehr andere Grosse. Er ist jetzt Herrscher über die Knechte geworden. Er ist nicht länger mehr der Knecht der Herrscher (Jes 49,7). Jetzt ist Er der unangefochtene, unbestrittene Herr der Herren und König der Könige. Keiner macht Ihm diesen Anspruch mehr streitig. Keiner wird mehr mit dem Finger auf Ihn zeigen.
Und dann sind auch Gefährten dabei: «Und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen.» Wer sind diese von Gott bezeichneten Gewaltigen? Es geht in erster Linie um den jüdischen Überrest. Aber wir dürfen sicher allgemein sagen: Das sind alle Erlösten, die Nutzniesser dieser grossen Erlösungstat des Kreuzes. Nach den Aussagen des Neuen Testaments werden diese «Gewaltigen» seine Herrlichkeit teilen und mit Ihm die Engel und die Welt richten.
Es ist unser Herr, den Gott belohnt und Ihm Ehre und Herrlichkeit gegeben hat. Auf die Aussage: «Mit Gewaltigen wird er die Beute teilen» folgt ein Doppelpunkt. Es wird gesagt, warum das so ist: «dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod.» Diese Formulierung macht uns das Schreckliche seines Sterbens klar. Wenn ein Glas Wasser ausgeschüttet wird, vollzieht sich das nach und nach. Und wenn man in diesem Sinn sein Leben nach und nach verliert oder es selbst hingibt, dann ist dies eine besonders schmerzhafte Prozedur. «Abgeschnitten» (V. 8); «ausgeschüttet» (V. 12). Mit solchen Worten macht der Geist Gottes uns immer wieder das Besondere deutlich, was das Leiden und Sterben des Herrn Jesus Christus kennzeichnete. Man bekommt den Eindruck, dass der Geist nicht deutlich genug darauf eingehen kann. Sollte uns das nicht immer wieder dahin führen, unseren Herrn zu bewundern?
Es scheint, dass im letzten Teil des Verses vier Punkte zu beachten sind:
- Er hat «seine Seele ausgeschüttet in den Tod».
- Er ist «den Übertretern beigezählt worden».
- Nicht wegen eigener Sünde musste Er leiden, nein, «er aber hat die Sünde vieler getragen». «Er aber», d.h. Er jedoch, Er hingegen hat die Sünde vieler getragen.
- Er hat «für die Übertreter Fürbitte getan». Man hat den Eindruck, dass der Geist Gottes jeden Irrtum vermeiden will. Auf keinen Fall war Er ein Übertreter. Er hat vielmehr ihre Sünde getragen. Er ist zwar behandelt worden wie ein Übeltäter. Doch Er hat für die Übertreter Fürbitte getan. Wir werden an den Ausspruch des Herrn in den ersten drei Stunden am Kreuz erinnert: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lk 23,34).
Möge der Herr uns durch die Beschäftigung mit seinen Leiden wirklich brennende Herzen schenken!