Segenskanäle

Markus 8,1-9

Im Bericht des Markus-Evangeliums über die «Speisung der Viertausend» (Mk 8,1-9) wird uns in anschaulicher Weise ein besonderer Wesenszug der Aufgabe des Christen in dieser Welt beschrieben.

Lasst uns mit grosser Aufmerksamkeit diesen wichtigen Belehrungen des Heiligen Geistes folgen! Es geht uns alle an. Jedes Kind Gottes sollte sich bewusst bleiben, dass es in diese Welt gesandt ist, um zwischen dem Herzen Christi und den Menschen mit ihren verschiedenerlei Bedürfnissen, denen es auf seinem Weg Tag für Tag begegnet, ein Segenskanal zu sein.

«In jenen Tagen, als wieder eine grosse Volksmenge da war und sie nichts zu essen hatten», lesen wir hier. Das war also die Lage: Grosse Bedürfnisse und keine Mittel, um ihnen zu entsprechen.

Aber Jesus war da, gelobt sei sein heiliger Name! Er war da mit der ganzen Liebe seines Herzens und der ganzen Macht seiner Hand. Er war da, Er, der einst ein Volk von drei oder vier Millionen Menschen vierzig Jahre lang in der unfruchtbaren Wüste ernährt hatte. Ja, Er war da, und Er hätte zweifellos unverzüglich und unmittelbar den Bedürfnissen der Volksmenge entsprechen können und hätte seine kleingläubigen, mit sich selbst beschäftigten Jünger nicht nötig gehabt. Auf seinen Wink wären auch Scharen von Engeln aus dem Himmel erschienen, um den Anforderungen dieser Menschenmenge zu entsprechen.

Aber Er tat weder das eine noch das andere. Denn die Absicht seiner Gnade bestand darin, seine Jünger zu Segenskanälen zwischen Ihm und der Menge zu machen, und zwar nicht nur zu Instrumenten seiner Macht, was ja auch die Engel hätten sein können, sondern zu einem Ausdruck seines eigenen Herzens.

Beachten wir, wie Er es tat. Wären sie lediglich Werkzeuge seiner Macht gewesen, hätte es genügt, die Mittel in ihre Hände zu legen und sie damit marschieren zu heissen. Aber nein, Er wollte aus ihnen Kanäle machen, durch die das zarte Mitgefühl seines Herzens fliessen konnte. Wie brachte Er dies zustande?

«Er rief die Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen sie bei mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie hungrig nach Hause entlasse, werden sie auf dem Weg verschmachten; und einige von ihnen sind von weit her gekommen.»

Hier haben wir das wahre Geheimnis der Zubereitung für unsere hohe und heilige Aufgabe: Vor allen Dingen rief unser wunderbarer Herr seine Jünger zu sich. Zuerst suchte Er ihre Herzen mit seinen Gedanken und seiner Gesinnung zu füllen, bevor Er ihre Hände mit Broten und Fischen füllte. Es ist, wie wenn Er hätte sagen wollen: «Ich bin von Mitleid bewegt, aber ich wünsche, dass auch ihr es seid. Ich wünsche, dass ihr alle meine Gedanken und meine Empfindungen teilt, dass ihr denkt und fühlt wie ich. Ich wünsche, dass ihr diese ausgehungerte Menge mit meinen Augen betrachtet und so in dem geistlichen Zustand seid, der euch befähigt, meine Segenskanäle zu sein.»

Das ist von grosser Schönheit. Jemand wird sagen: «Ich möchte auch ein solcher Kanal sein. Aber das scheint mir viel zu hoch, weit über dem, was ich erreichen kann.» Da gibt es nur eine Antwort: Tritt in Jesu Nähe und bleibe dort, bis du denkst, wie Er denkt und fühlst, wie Er fühlt. Sein Geist muss dich erfüllen. Das ist der einzige Weg, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Wenn ich sagte: «Ich muss versuchen, ein Segenskanal zu werden», so redete ich töricht und würde nur zu einer Karikatur. Lasse ich mich aber am Quell des Herzens Christi tränken, so werde ich zum Überfliessen gefüllt; mein ganzes sittliches Wesen wird dann mit seinem Geist durchdrungen, und so werde ich in einem geeigneten Zustand sein, um von Ihm gebraucht zu werden.

Dann mache ich gewiss auch einen richtigen Gebrauch von den Mitteln, die Er in meine Hände legt, welcher Art sie auch sein mögen: Ich werde sie für Ihn gebrauchen. Sind meine Hände von den Mitteln gefüllt, bevor mein Herz von Christus erfüllt ist, so werde ich die Mittel nicht für Ihn gebrauchen; sie werden meiner eigenen Ehre dienen, und nicht der Ehre Gottes.

Geschwister, lasst uns der erhabenen Aufgabe, womit der Herr uns betraut hat, und dem Geheimnis ihrer Erfüllung grösste Beachtung schenken! Es ist überaus wichtig, dass sich unser Herz der herrlichen Tatsache bewusst ist: Wir alle sind berufen, Kanäle zu sein, durch die sich das Herz Christi den Seinen und einer armen Welt mitteilen kann. Möge uns diese Wahrheit so ganz durchdringen, dass wir sie im Glauben und in der wunderbaren Kraft des Heiligen Geistes in tägliche Wirklichkeit umsetzen!

Aber beachten wir, wie langsam die Jünger waren, dem Herzen Christi darin zu entsprechen! Er hatte in seiner Gnade die Absicht, sie für die Volksmenge zu Überbringern seines Segens zu machen. Sie aber, wie auch wir selbst, wussten dieses unermessliche Vorrecht wenig zu schätzen, und das deshalb, weil sie nicht in seine Gedanken eintraten und die Herrlichkeit seiner Person nicht erkannten.

«Und seine Jünger antworteten ihm: Woher wird jemand diese hier in der Einöde mit Brot sättigen können?» Bei einer andern Gelegenheit sagten sie: «Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische.» Wussten sie denn nicht, oder hatten sie es vergessen, dass sie vor dem standen, der die Welten erschaffen hat und alle Dinge durch das Wort seiner Macht trägt? In der Tat Gott war da in der niedrigen Gestalt des Jesus von Nazareth. Seine göttliche Herrlichkeit war dem natürlichen Auge hinter dem Vorhang seiner Menschheit verborgen, aber als seine Jünger hätten besser verstehen sollen, wer und was Er war, und hätten im Glauben aus seiner herrlichen Gegenwart und seinen unergründlichen Reichtümern Nutzen ziehen sollen. Wessen Herz die Herrlichkeit seiner Person erfasst, stellt nicht Fragen wie diese: «Woher wird jemand diese hier in der Einöde mit Brot sättigen können?»

Auch Mose hatte einst gesagt: «Woher soll ich Fleisch haben, um es diesem ganzen Volk zu geben?» (4. Mo 11,13). Der HERR hatte bestimmt nichts derartiges von ihm verlangt. Kein Mensch vermochte doch Millionen von Menschen in der Einöde zu nähren. Aber sobald unser armes Herz von Unglauben erfüllt ist, schliesst es Gott aus.

Gott war doch da, Gott, der in Christus mit menschlichen Lippen redete und sagte: «Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge.» Es war Gott, der von all den Umständen jedes einzelnen dieser grossen, hungrigen und ver­schmach­tenden Volksmenge Kenntnis nahm. Er wusste genau, wie lang der Weg war, den jeder hatte zurücklegen müssen, um hierher zu kommen, und seit wann sie nichts mehr gegessen hatten. Er beschäftigte sich mit den unausbleiblichen Folgen ihrer Rückkehr ohne vorherige Verpflegung. Gott selbst, in der Person seines Sohnes, war es, der diese rührenden Worte äusserte: «Wenn ich sie nach Hause entlasse, ohne dass sie gegessen haben, so werden sie auf dem Weg verschmachten; denn einige von ihnen sind von weit her gekommen.»

Ja, Gott war da in der ganzen Zartheit seiner Liebe, die selbst den kleinsten Einzelheiten der Schwachheit und den Bedürfnissen seiner Geschöpfe Rechnung trug. Er war da mit seiner Allmacht und seinen unerschöpflichen Hilfsquellen um seine armen Jünger zu befähigen, Mitwisser seiner Gedanken, Gefässe seiner Güte und Kanäle seiner Gnade zu sein. Und was brauchten sie sonst noch, um ihre Aufgabe erfüllen zu können? Mussten sie in sich selbst etwas sein, oder in eigener Kraft und Weisheit etwas tun? Nein, gewiss nicht. Sie brauchten nur Ihn zu sehen und zu Ihm Zuflucht zu nehmen. Sie mussten diesen einfachen Glauben, der in allen Dingen mit Gott rechnet und alle Quellen in Ihm findet, in Tätigkeit setzen.

So war es mit den Jüngern und so ist es auch mit uns. Wenn wir Kanäle der Gnade des Christus sein möchten, müssen wir es im tiefsten Innern unserer Seelen mit Ihm zu tun haben. Wir müssen von Ihm lernen und uns von Ihm nähren; müssen wissen, was es bedeutet, Gemeinschaft mit seinem Herzen zu haben; müssen nahe bei Ihm sein, um die Geheimnisse seiner Gedanken zu kennen und die Absichten seiner Liebe auszuführen. Wollen wir Ihn in dieser Welt widerstrahlen, so müssen wir Ihn betrachten. Er muss durch den Glauben in unseren Herzen wohnen.

Was unsere Herzen in Wirklichkeit erfüllt, wird sich bestimmt in unserem Leben zeigen. Wir mögen eine Menge von Wahrheiten in unserem Kopf und viele Worte auf unseren Lippen haben. Wollen wir aber Verbindungskanäle zwischen seinem Herzen und den Menschen sein, deren Bedürfnisse wir beim Gang durch diese Welt erkennen, so müssen wir gewohnheitsmässig von seiner Liebe trinken. Es gibt keinen anderen Weg. «Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fliessen» (Joh 7,38).

«Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke.» Darin liegt das grosse Geheimnis eines segensreichen Lebens: damit Ströme fliessen, müssen wir trinken. Es kann nicht anders sein. – Oh, wenn doch jedes Glied des Leibes Christi in der Kraft dieses grossen Grundsatzes lebte, wie wäre da der Zustand der Dinge, den wir rings um uns her sehen, ein so ganz anderer!

Wir halten uns zu wenig nahe bei unserem anbetungswürdigen Herrn und Heiland auf. Es ist sein Wunsch, sich unser zu bedienen, gerade so wie Er in der Speisung der Viertausend und der Fünftausend seine Jünger gebrauchte. Er rief sie herzu und suchte in Gnade ihre Herzen mit dem Erbarmen zu füllen, das Ihn selbst erfüllte, damit sie mit Ihm empfinden könnten. Das ist die notwendige innere Zubereitung, um für Ihn handeln zu können. Da, wo das Herz mit Christus erfüllt ist, wird die Kraft zum Handeln nicht fehlen. Aber ach! Es ist mit uns wie mit den Jüngern. Sie schätzten die Kraft, die in ihrer Mitte war, zu wenig hoch ein und nahmen sie nicht in Anspruch. Sie fragten: «Woher wird jemand?» – statt zu sagen: «Wir haben Christus». Sie kannten Ihn praktisch zu wenig, und das ist oft auch bei uns der Fall. Wir entschuldigen unsere Armut, unsere Trägheit, unsere Kälte und Gleichgültigkeit mit dem Vorwand, es fehle uns dies und das. Dabei fehlt es in Wirklichkeit nur daran, dass unser Herz nicht mit Christus, mit seinen Gedanken, mit seiner Liebe und Güte erfüllt ist, und in Selbstverleugnung und Selbstvergessenheit an die anderen denkt. Wir beklagen uns über den Mangel an Mitteln, während es in Wirklichkeit an einem guten Zustand der Seele, an der richtigen sittlichen Haltung des Herzens fehlt. Und diese kann nur durch eine innige Verbindung mit Christus, durch die Gemeinschaft mit seinen Gedanken zustande kommen.

Dass sich die Versammlung Gottes diese Dinge doch ernsthaft zu Herzen nähme! Wie schön wäre es, wenn jedes Glied am Leib Christi wie ein Kanal funktionierte, durch den sich seine Gnade in Strömen des Lebens auf alle verbreitete, die ihn umgeben. Dass doch jeder von uns einem fliessenden Bach gliche, dessen erfrischendes Wasser auf seinem ganzen Lauf frisches Grün hervorbringt, und nicht stehendem Wasser – dem Bild eines Christen, bei dem der Zufluss aus der praktischen Gemeinschaft mit seinem Herrn verstopft ist, und von dem daher auch kein Segen ausfliessen kann.

Möge der Herr alle unsere Herzen beleben und uns fähig machen, unseren hohen und heiligen Auftrag als Kanäle der kostbaren Gnade Christi inmitten einer Welt, die Ihn verworfen hat, zu erfüllen!