Die Sanftmut und Milde des Christus

Johannes 21,15-22; 2. Korinther 10,1

Diese Geschichte berührt uns und kommt unseren Herzen sehr nahe. Das Bild hier am Ufer des Sees hat einen Hintergrund, der die moralische Schönheit dieser Szene erhöht.

Im Obersaal, beim letzten Abendessen, oder auf dem Weg von dort nach Gethsemane, hatte Petrus im Vertrauen auf sich selbst, und in Herabsetzung der anderen sich gerühmt: «Wenn alle an dir Anstoss nehmen werden, ich werde niemals Anstoss nehmen … Selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen» (Mt 26,33.35). Das lässt den Sinn der erforschenden Fragen jenes Morgens am See deutlich hervortreten. Die in der Nacht überfüllte Halle im Haus des Hohenpriesters und das Kohlenfeuer, sowie die Schwachheit des Jüngers und seine Verleugnung bilden einen auffallenden Gegensatz zu dem stillen Seeufer und dem dreimaligen Bekenntnis der Liebe für seinen Meister.

Aber die herrliche Person des Herrn Jesus ist die gleiche geblieben. Dasselbe zartfühlende Herz ist auf beiden Bildern zu sehen. Die dunklen Schatten der schrecklichen Tragödie jener dunklen Nacht, in der Er von dem einen verraten, vom andern verleugnet und von allen verlassen wurde, sind erfüllt von der Atmosphäre der Sanftmut und Milde des Christus.

Judas, dem Verräter, gab Er den Tadel und die Entlassung aus der Apostelschaft in so milden Worten, dass keiner am Tisch merkte, worum es ging.

Petrus gegenüber, der seine Schwachheit nicht kannte und auf seine Kraft vertraute, sagte Er: «Simon, Simon! … Ich aber habe für dich gebetet, damit dein Glaube nicht aufhöre; und du, bist du einst umgekehrt, so stärke deine Brüder» (Lk 22,31.32). Der Herr kannte ihn völlig. Im Haus des Hohenpriesters, als der arme Jünger aus Feigheit dreimal, schliesslich sogar unter Schwüren und Verwünschungen leugnete, dass er Christus je gekannt habe, kehrte sich der Herr zu ihm um und blickte ihn an. Kein Tadel, keine Vorwürfe, keine scharfe Anklage, aber ein Blick traf ihn, von solch unendlichem Erbarmen für seinen armen, feigherzigen Jünger, und so voller Schmerz, dass Petrus hinausging und bitterlich weinte. Wer unter uns Nachfolgern des Herrn Jesus Christus weiss nicht auch etwas von dieser Milde des Christus?

An diesem ruhigen, friedevollen Morgen nun wartete der gleiche heilige Meister auf seinen Jünger, und indem Er sich mit ihm gründlich auseinandersetzte, stellte Er ihn wieder her und setzte ihn wieder in seinen Dienst ein.

Beachte aber, dass der Herr dem Wiederhergestellten sogleich Vertrauen schenkt und ihm einen noch grösseren Anteil an seinen Interessen anvertraut. Diese Herablassung machte Petrus gross (vgl. Ps 18,36), und in den nachfolgenden Jahren hat der Apostel Petrus andern die Lektionen gelehrt, die er an diesem Tag gelernt hatte (vgl. 1. Pet 2,21; 5,2-4).

Es ist wichtig zu bemerken, dass die Frage des Herrn nicht lautete: «Liebst du meine Schafe?», sondern: «Liebst du MICH?» Dann erst sagte Er zu ihm: «Weide meine Lämmer» – «Hüte meine Schafe» – «Weide meine Schafe». Dadurch erinnert Er uns nebenbei daran, dass kein Mass von Zuneigung zu den Schafen Garantie ist für eine genügende Triebkraft, die einen Lauf unermüdlichen Dienstes an ihnen aufrecht halten könnte. Die Leute des Herrn sind oft mühsam im Umgang; sie haben Stimmungen und Meinungen und können manchmal hartnäckig und schwierig sein. Auch die Hirten der Schafe, die ja Menschen sind, mögen – wenn ihre Liebe zum Herrn nachlässt – die eigene Ehre suchen, statt den wahren Zweck ihres Dienstes zu erfüllen, oder können aufhören, Vorbilder der Herde Gottes zu sein und werden dann in ihrem Dienst nicht mehr der göttlichen Absicht entsprechen.

Aber der Unwandelbare, dem Petrus sich auf ewig verpflichtet wusste, dessen Liebe ihn völlig gewonnen hatte, dessen Herablassung ihn gross gemacht, d.h. ihm eine so grosse Aufgabe als Apostel gegeben hatte – Er berührte mit unfehlbarer Weisheit die wesentliche Frage allen wahren Dienstes, sowohl Gläubigen als auch Sündern gegenüber, die das Heil nötig haben: «Liebst du mich?» Er stellte somit sich selbst als den einen Gegenstand vor das Herz des Dieners, und das was als Beweggrund allein hinreichend ist für einen mühevollen, unermüdlichen, ausharrenden und hilfreichen Dienst an den Menschen.

Noch etwas in dieser Begebenheit erfordert unsere Aufmerksamkeit. Kaum war Petrus wiederhergestellt und erneut in seinen Dienst eingesetzt, zeigte sich bei ihm wieder eine Spur der alten Neigung. Eben hatte der Herr die Schlussworte seines Auftrags an ihn gesprochen und das eindringliche Gebot: «Folge mir nach» hinzugefügt, als sich Petrus schon umwandte und sich mit einem andern Jünger beschäftigte.

Das Auge vom Meister weg, auf einen Mitjünger gerichtet, veranlasste ihn zu einer Regung der Neugier. Das Umherschauen und die Beschäftigung mit einem andern als dem, dem er zu folgen berufen war, bringt Schaden. Johannes, der Jünger, den Jesus liebte, war zwar moralisch und geistlich wohl der Beste der Apostelschar, aber irgendwer oder irgendwas, das den Blick des Gläubigen von seinem Herrn ablenkt, ist ein Hindernis für die unmittelbare Nachfolge in seinen Fussstapfen.

Darum tadelt der Herr in seiner Milde das eben beginnende Abschweifen des Jüngers, der Ihm einst «von weitem» gefolgt war, mit den Worten: «Was geht es dich an? Folge du mir nach!»

Da ist nur ein Herr, und Er ist der hinreichende Gegenstand für das Herz des Gläubigen, und Jesus bezeichnet hier kurz, was die lebenslange Beschäftigung für Petrus einst und für uns heute sein soll: «Folge du mir nach!»