Vor dem Richterstuhl des Christus

2. Korinther 5,10

«Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses» (2. Kor 5,10).

Der Gedanke, dass ich vor dem Richterstuhl des Christus offenbart werden muss, ist feierlich ernst und könnte mich wohl mit Furcht erfüllen, wenn ich nicht wüsste, wer es ist, der auf diesem Stuhl sitzt.

Es ist Christus Jesus, mein Herr. Er kannte zum Voraus alle meine Sünden und mein Unvermögen und hat auf Golgatha die Strafe dafür getragen. Er kennt auch meine beständige Schwachheit bei meinem Wandel auf dem Pfad durch die Wüste, und hat als der grosse Hohepriester droben Mitleid damit. Ich werde also nicht vor einem Fremden offenbar werden, sondern vor dem Einen, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat, und der mich in die Wohnungen im Haus seines Vaters bringen wird, die Er selbst für mich bereitet hat.

Mein Herr ist nun hoch erhoben. Wenn Er auf dem Richterstuhl sitzen wird, um das Leben seiner Heiligen zu durchleuchten, werde ich Ihn mit den weissen Kleidern ewiger Majestät und Herrlichkeit bekleidet sehen. Und sollte ich auch wie tot zu seinen Füssen niederfallen, so weiss ich doch, dass Er seine Rechte auf mich legen und – wie zu Johannes in Patmos – zu mir sagen würde: «Fürchte dich nicht!»

Werde ich mich an jenem Tag überhaupt fürchten? Nein, ich denke nicht; denn sowohl jetzt als auch in jenem Augenblick gilt das Wort: «Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein» (1. Joh 4,18). Die Liebe gibt mir in seiner Gegenwart jederzeit ein glückseliges Vertrauen. Während vom Richterstuhl unaussprechliches Licht her­vor­leuch­ten und meine ganze vergangene Geschichte offenbaren wird, ist auch die Liebe da, die die Menge meiner Sünden zugedeckt hat; sie gibt mir «Freimütigkeit am Tag des Gerichts».

Ich bin aber froh, dass meine Tage der Pilgerschaft in jenem Augenblick nicht durch einen Engel geprüft werden, auch nicht durch jenen, der mir hier auf der Erde diente und meine Schritte bewahrte. Kein Engel könnte meine Gedanken und Beweggründe so verstehen wie Christus Jesus, mein Herr. Der auf dem Richterstuhl sitzen wird, ist derselbe, der sich einst am Brunnen von Sichar niedersetzte. Und dieselben gesegneten Lippen werden auch mir sagen «was ich getan habe». Seine Worte der Wahrheit werden mir dann alle Dinge in ihrer wahren Natur darstellen, die ich hier nicht oder nur unvollkommen erkannt habe. Die Frau am Jakobsbrunnen fürchtete sich nicht, als der Herr ihr die Gedanken ihres eigenen Herzens enthüllte; und ich, werde ich mich im Himmel fürchten, wenn mir die meinen kundgetan werden?

Welche Gefühle mich bei diesem Anblick erfüllen werden, weiss ich nicht; aber ich bin sicher, dass ich die Wahrheit lieber von den Lippen meines Herrn vernehmen werde, als von einem Engel. Übrigens, wenn ich im Himmel meine Wege überblicke, so wie Er sie auf der Erde gesehen hat, dann werde ich auch seine weisen Wege der Liebe mit mir erkennen, was immer ich auch getan haben und gewesen sein mag. Nun habe ich es zu glauben, dass seine Wege mit mir weise und voller Liebe sind, dann aber werde ich sehen und erkennen, dass sie tatsächlich so gewesen sind.

Ja, ich freue mich zu wissen, dass Christus auf dem Richterstuhl sitzen wird, vor dem ich zur letzten Überprüfung meines Wandels werde stehen müssen. Ich kann Ihm vertrauen, dass Er an jenem Tag in Vollkommenheit handeln wird; aber ich könnte niemand anderem vertrauen, mir die Wahrheit zu sagen.

Wenn einer meiner lieben Brüder dort sässe, sogar der treuste und liebevollste, so könnte ich nicht mit der gleichen Freimütigkeit jenem Tag entgegensehen. Sind die Brüder droben angelangt, werden sie selbstverständlich viel besser sein als hier unten; aber keiner, nicht einmal ein Apostel oder ein Prophet, vermöchte mich so genau zu beurteilen wie Christus, der den geringsten Keim einer bösen Regung in mir entdeckte, mich aber dennoch liebt.

Christus Jesus, mein Herr, ist es, zu dem ich jeden Tag rufe: «Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!» Und wenn ich wünsche, dass Er mich mir selbst zeigen möge, während ich noch auf dem Weg bin, wie sollte ich mich dann fürchten, vor Ihm droben enthüllt zu werden?

Wie gut wird es sein, mich dann selbst so zu erkennen, wie Christus mich erkannt hat und mein irdisches Leben nach dem himmlischen Standard beurteilt zu sehen! Es ist tröstlich zu wissen, dass mein Herr selbst diese wichtige Handlung vornehmen wird. Der Richterstuhl ist ein Teil seiner «Güte», die Er aufbewahrt hat denen, die Ihn fürchten (Ps 31,20).