«Meine Kinder, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch Gestalt gewinnt» (Gal 4,19).
Mitten in den Akkorden des Unwillens, der Verwunderung und der Verlegenheit dieses Briefes erklingt hier ein Ton zärtlicher Liebe. Die Galater hatten sich auf einen gefährlichen Nebenpfad begeben. Der Apostel warnte sie mit grosser Eindringlichkeit und machte sie auf den verborgenen Kern ihrer Schwierigkeit aufmerksam. Christus war nicht mehr in ihnen gestaltet; und der Apostel kämpfte, um dies bei ihnen wieder zu erreichen. Falsche Lehrer waren zu ihnen gekommen, um sie zu überzeugen, dass die Gnade Christi durch das Gebot der Beschneidung, das Gott allen Anbetern des einen und wahren Gottes auferlegt habe, ergänzt werden müsse. Was daraus hervorging, war aber nicht eine Ergänzung, sondern eine Verdrängung der Gnade und die Aufrichtung einer Gerechtigkeit aufgrund eigener Werke. Und so wurde bei ihnen das Evangelium vom Werk Christi entkräftet und der Genuss der durch den Glauben für sie daraus hervorgegangenen Segnungen verschwand wie der frühe Morgennebel.
Die herrliche Sonne der Gnade, deren Licht so plötzlich über ihnen aufgegangen war, ihre Herzen und ihre Erkenntnis mit der Herrlichkeit Gottes erfüllend und immer heller leuchtend, ersetzten sie durch ein Kerzenlicht, in dessen schwachem Schein sie bemüht waren, sich durch die Beobachtung gesetzlicher Verordnungen zu vervollkommnen.
Frei gemacht, um wiederum geknechtet zu werden?
Auf die Freiheit, die sie für kurze Zeit verwirklicht hatten, folgte eine Rückkehr zu geistlicher Knechtschaft, die durchaus nicht im Sinn Christi war. Für die Freiheit hatte Er sie frei gemacht. Warum beugten diese durch Christus Befreiten ihren Nacken aufs Neue unter ein Joch, unter das Joch des Gesetzes? Diese Entwicklung bedeutete weder Fortschritt noch Freiheit, sondern war ein Abfall von der Gnade. Ach! Christus war nicht in ihnen gestaltet. Nachdem sie eben erst an den Rand der allgenügsamen Gnade Christi getreten waren, zogen sie sich nun vor ihren Meerestiefen wieder zurück.
Wie Christus im Gläubigen gestaltet wird
Wenn eine Seele mit Aufmerksamkeit auf das hört, was der inspirierte Apostel ihr zu sagen hat, so benützt der Heilige Geist diese Botschaft, um ihr die Wahrheit ins Herz einzuprägen. Sie braucht Licht, um all das zu sehen, was Gott ihr offenbaren will. Dieses Licht des Lebens vermittelt dem soeben erweckten Glauben das erste Verständnis bezüglich des Heils Gottes und der Segnungen in Christus. Schon am Anfang seines Glaubensweges soll der Gläubige das wahre und vollständige Bild von dem in sich aufnehmen, was Christus für ihn getan hat und für ihn ist, und wie er durch die Gnade in Ihm in die Sohnesstellung versetzt und wirklich frei gemacht worden ist (Joh 8,35.36).
Auf diese Weise wird Christus in ihm gestaltet, und er kann nun zu Ihm hinwachsen, als zu seinem Ein und Alles, hat ihm Christus doch sein eigenes Leben mitgeteilt!
Christus als Gegenstand vor der Seele
Die normale geistliche Entwicklung einer Seele, in der Christus gestaltet worden ist, hängt sodann davon ab, dass sie Christus stets und in lebendigem, täglichem Glauben vor sich hinstellt (Ps 16,8; Gal 2,20). Der Geist des Sohnes Gottes, der in das Herz des Gläubigen gesandt worden ist, richtet es immer auf Gott hin und ruft: «Abba, Vater!» Er ist seine innere Kraft für jeden Gedanken, jede Empfindung, jedes Wort und jede Handlung, die einem Kind Gottes geziemen. So zu wandeln, wie Christus gewandelt hat, ist die Lebensregel des Gläubigen; und wenn er im Weg straucheln sollte, so hat er Christus im Himmel, der dort immerdar lebt, um sich als Hoherpriester und Sachwalter für ihn zu verwenden und ihn völlig zu erretten.
Christus selbst ist nicht ohne Gestalt und Form. Er ist kein abstrakter, ungreifbarer Lebensgrundsatz. Was in dieser Welt an Ihm gesehen wurde, war das Leben des Sohnes Gottes, die göttliche Natur in ihrer Vollkommenheit, jedoch dem Willen des Vaters unterworfen, dessen Liebe Er genoss.
Gewohnheitsmässig und im Glauben den lebendigen Christus zu betrachten, hat zum Ergebnis, dass das sichtbare Leben des Gläubigen in zunehmendem Mass Christus ähnlich wird (Gal 2,20; 2. Kor 3,18). Wir werden verwandelt durch die Erneuerung unseres Sinnes (Röm 12,2).
Christus, im Leben des Gläubigen der Welt sichtbar
Wenn wir durch den Geist leben, so sollen wir auch durch den Geist wandeln. Auf Christus getauft, haben wir Christus angezogen, um Ihn in unserem Leben darzustellen, um in dieser Welt so zu sein wie Er, um in unserem sichtbaren Verhalten den Menschen den zu zeigen, den sie sonst nicht zu sehen vermöchten. Die Freiheit soll dazu gebraucht werden, um in Liebe zu dienen (Gal 5,25; 3,27; 5,13). Das ist das Wesen wahren christlichen Fortschrittes, entsprechend dem Willen und der Anordnung dessen, der uns errettet hat. Zuerst muss Christus in der Seele gestaltet sein und dann lernt das Herz, seinem Kindsverhältnis zu Gott zu entsprechen und seine Freiheit zu gebrauchen, um Christus vor den Menschen zu offenbaren. Es kann nicht anders sein. Auch in der Natur kennt man den Baum an seinen Früchten; jeder trägt Früchte nach seiner Art. Der gefallene Adam zeugte einen Sohn nach seinem Bild. Gottes Kinder aber, die durch Ihn, den Heiligen, gezeugt wurden, sind Teilhaber seiner göttlichen Natur – Christus ist ihr Leben. Wie das natürliche Leben immer Frucht nach seiner Art hervorbringt, so auch das göttliche, das Leben Christi. Nähren wir uns von der für die göttliche Natur verordneten Speise, vom Wort Gottes, machen wir das Licht zu unserem Aufenthaltsort, und bleiben wir praktisch in Christus, so wird das Leben, das Er uns gibt, stark werden. Gleichzeitig wird auch sein Wachstum in unserem täglichen Verhalten offenbar, so dass alle es sehen können.
Welche zeitgemässe Botschaft hat dieser Text für uns?
Weit herum ist geistlicher Tod sichtbar. Sogar ernste, bekehrte Seelen, die sich mit der Wahrheit befassen, verderben sich oft alles, indem sie sich bald von den in der Welt vorherrschenden wissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Ansichten gefangen nehmen lassen. Das führt die Seele zu Zweifel, zu Finsternis und Elend. Am Anfang, als sie sich zu Christus wandte, war sie gesegnet, aber dann folgte ein Zögern im völligen Erfassen der Wahrheit, «wie sie in dem Jesus ist» und im Wort Gottes allein niedergelegt wurde. Es war bei ihr kein entschiedenes und unterwürfiges Warten auf Verständnis. Darum konnte Christus nicht in ihr gestaltet werden. Es genügt nicht, meine Seele zu beruhigen, dass die Wurzel der Sache ja in mir sei. Auf geistliche Unterernährung folgt geistliche Missbildung und Mangel an Licht. Christus errettet den Menschen nicht zu dem Zweck, dass er nachher zu seinem alten Leben oder zu gesetzlicher Sklaverei zurückkehre, wie ein Jude, oder dass er in früheren Gedankengängen vorangehe und so einen seltsamen religiösen Charakter eigener Prägung entwickle. Errettung ist nicht bloss ein Entrinnen vor der Verdammnis; sie ist ebenso sehr eine vollständige Vorsorge für eine heilige Zukunft des Erlösten, wie sie eine Befreiung von einer sündigen Vergangenheit ist.
Echter Glaube kennzeichnet sich durch Gehorsam gegenüber dem Evangelium
Der am Anfang in ihrer Heiligkeit erfassten Wahrheit muss gehorcht werden, wenn Christus in uns gestaltet werden soll (Gal 5,7). Die Freiheit, in die wir eingeführt worden sind, erlaubt uns nicht, eine Theorie von geistlicher Wirksamkeit nach eigener Vorstellung anzunehmen: So wie die Freiheit mit der Unterwerfung unseres Herzens unter die gottgegebene Offenbarung begann, so bleibt sie auch weiterhin mit der Unterwürfigkeit gepaart.
Wie wichtig ist es doch, dass wir richtig anfangen! Wer von denen, die wirklich ihre Errettung dem Sohn Gottes verdanken, wünscht sich einen ungeformten oder missgestalteten christlichen Charakter?
Wer bewundert einen solchen? Das Ihm ergebene Herz sehnt sich nur danach, dass Christus in seinem Leben gesehen werde. Wer Ihm von Herzen nachfolgt, verlangt nach immer deutlicherer Gleichförmigkeit mit Ihm.
Das Evangelium duldet keinen Nebenbuhler. Vermenge es mit irgendeiner intellektuellen, religiösen, weltlichen Beimischung – und das Leben, das Gott in Christi Gleichförmigkeit verwandeln möchte, wird geschwächt, verkrüppelt und entstellt.
Hat etwas Ähnliches wie das Abgleiten der Galater den Leser befallen? Ein Joch – so anziehend es scheinen mag – ein Joch der Gebundenheit wartet auf alle, die beim Annehmen des Evangeliums ihre Herzen nicht rückhaltlos Christus geöffnet haben. Nur Paulus hatte auf dem Weg nach Damaskus eine übernatürliche Vision; aber der Geist Gottes ist fähig, in deinem Herzen Christus gerade so deutlich zu gestalten wie bei dem Apostel, durch die Wahrheit, die Er dir durch das Wort Gottes mitteilt. Verweile auf jenem Berg der Verklärung, auf dem du niemanden siehst als nur Jesus allein. Philosophische Träumereien, wissenschaftliche Theorien und rituelle Fantastereien gehören zur Welt da unten. Gib sie auf! Was immer richtig sein mag an ihnen, gibt ihnen kein Recht, als Nebenbuhler des Christus Gottes aufzutreten. Wer ihnen an seiner Seite einen Platz einräumt, bei dem werden sie zu falschen feindlichen Göttern.
Mache dir die ganzen Ergebnisse des Opfers Jesu Christi, entsprechend dem Evangelium, durch Glauben zu eigen. Das ist es, was deine unbefriedigte Seele stillt. Übergib dich Ihm mit allen Zuneigungen deines Herzens, mit Seele und Geist, in anbetender Dankbarkeit. Dann wird sich Christus in dir als der offenbaren, der deine Wünsche erfüllt und allgenügsam ist für alle deine künftigen Bedürfnisse. Er wird dich befähigen, als Kind Gottes Ihm hier schon völliger zu leben und bald auch im Himmel.