Die Prophetin Anna

Lukas 2,36-38

Unsere Seele ist schon oft ermuntert und erfrischt worden beim Betrachten des schönen Gemäldes, das in Lukas 1 und 2 vor unsere Augen gestellt wird: der Herr Jesus kommt auf die Erde! Im ersten Kapitel wird sein Kommen angekündigt; im zweiten Kapitel ist Er da, und eine Menge der himmlischen Heerscharen rufen die Herrlichkeit des kleinen Kindes aus, das in der ärmlichen Krippe in Bethlehem liegt. Nur wenige erwarteten Ihn. Sind es heute mehr, am Vorabend seiner Wiederkunft? Denn Er kommt. Er hat es verheissen, und seine Verheissungen sind zuverlässig: «Christus wird … zum zweiten Mal denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen» (Heb 9,28.)

Unter diesen wenigen, von denen uns in diesen beiden Kapiteln berichtet wird, war Anna, eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Aser. Hätte sie um sich her geblickt, wäre so viel Anlass zu Traurigkeit und Entmutigung gewesen! Welch ein Verfall unter dem Volk Israel, dem Volk Gottes – die Frucht einer langen Geschichte des Unglaubens und der Untreue!

War es das, was sie beschäftigte? Nein. Sie wich nicht vom Tempel. Sie suchte die Gegenwart des Herrn, wie einst David (Ps 27,4). Mit seiner anbetungswürdigen Person will sie ihr Herz erfüllen. Dabei war ihr der Verfall in Israel bestimmt nicht gleichgültig; zweifellos war er ein Gegenstand ihres Flehens und ein Beweggrund ihres Fastens. Aber obwohl sie das sehr bemühte, gab es für sie darin keinerlei Grund zu Entmutigung und Niedergeschlagenheit; mit Freuden lobte sie den Herrn!

Blieb sie für sich allein, abgesondert von allen? Nein, auch andere warteten in Israel auf Erlösung. Zu diesen ging sie. Nicht nur für sich selbst genoss sie ein glückseliges Teil, sie ermunterte auch die anderen, die auf Ihn warteten. Vielleicht fanden sie, das Warten ziehe sich lange hinaus und waren daran, auf dem Weg schwach zu werden. Da kam sie und belebte ihre Energie, stärkte und tröstete sie. Aber wie? Indem sie von Ihm redete! Indem sie ihnen die geliebte und ersehnte Person vorstellte, nach der die Herzen ausschauten. Da sie nicht vom Tempel wich, war sie auch in dem Augenblick anwesend, als Simeon «das Kind Jesus» in seinen Armen hielt. «Sie trat zu derselben Stunde herzu, lobte Gott und redete von ihm zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem» (Lk 2,38). Was sie jetzt tat, hatte sie schon immer getan, in all den Tagen des Wartens.

Auch um uns her ist der Verfall. Das Ende der Geschichte der Kirche gleicht nach manchen Seiten hin dem Ende der Geschichte des Volkes Israel. Wie mancher Anlass zur Traurigkeit ist vorhanden, wenn wir nach unten schauen! Die Christenheit ist ein «grosses Haus» geworden (2. Tim 2,20), inmitten einer Welt, die Christus verwirft und den nahe bevorstehenden schrecklichen Gerichten entgegengeht. Selbst unter den Kindern Gottes, unter denen das Zeugnis besteht, sind Dinge, die uns niederbeugen. Ist es da angezeigt, entmutigt still zu stehen, im Bewusstsein unserer Ohnmacht, das aufzurichten, was daniederliegt? Womit sollen wir uns beschäftigen: mit dem, was da geschieht oder mit dem, was anderswo nicht geschieht? Denken wir doch an Anna, die Tochter Phanuels, aus dem Stamm Aser!

In Übung vor dem Herrn über all das, was in uns und um uns her nicht nach seinem Sinn ist, wollen wir im «Tempel» verharren. Lasst uns ausharren – Nacht und Tag, unaufhörlich – in Fasten und Flehen. Jeder sei mit dem Herrn beschäftigt, seine Person erfülle unsere Herzen, damit Lob zu Ihm emporsteige. Das ist es, was Er «stets» von uns erwartet (Heb 13,15). Wir wollen uns aber auch gegenseitig ermuntern, alle die auf Ihn warten, indem wir zueinander von dem Kommenden reden. Dies kann nur zum Segen sein, wenn unsere Herzen von Ihm erfüllt sind, denn «aus der Fülle des Herzens redet der Mund» (Lk 6,45).

Wenn wir dies alles beachten, werden wir in uns selbst viel Freude haben und sie auch um uns her verbreiten. Denken wir vor allem aber auch an die Freude unseres Herrn und Heilandes!

Es wird ausdrücklich gesagt, dass Anna, die Tochter Phanuels, aus dem Stamm Aser gewesen sei. Warum diese Einzelheit?

Am Abend seines Lebens angelangt, hatte Jakob alle seine Söhne um sich versammelt. Jedem von ihnen hatte er einige Worte zu sagen, um ihnen mitzuteilen, was ihnen am Ende der Tage begegnen würde (1. Mo 49,1). Was sagt er über Aser? «Von Aser kommt Fettes, sein Brot; und er, königliche Leckerbissen wird er geben» (Vers 20). Prophetische Worte, die ihre volle Erfüllung in einer kommenden Zeit finden werden, wenn der Stamm Aser zum treuen Überrest gehören wird. In ihm wird der Messias die Freude und die Wonne seines Herzens finden. Aber hatten diese Worte in der Szene von Lukas 2,36-38 nicht schon eine teilweise Verwirklichung gefunden?

Inmitten einer Szene, wo nichts für Ihn ist, ist es für uns ein Glück und ein Vorrecht, wenigstens in einem gewissen Mass das Beispiel Annas, der Tochter Phanuels aus dem Stamm Aser, nachzuahmen, zur Freude unserer Herzen, aber auch zur Freude und zur Befriedigung des Herzens unseres Herrn.