Wenn Menschen von gewissen Persönlichkeiten Biographien schreiben, sind sie meist darauf bedacht, nur helle Farben zu gebrauchen und Ungünstiges wegzulassen, damit ihr Porträt in einem vorteilhaften Licht erscheint. Die Heilige Schrift macht es anders. Selbst wahrhaft grosse Männer und Frauen erscheinen darin in ungeschminkter Wirklichkeit; was sie aber anziehend macht, ist die Wirksamkeit der Gnade Gottes in ihnen.
So ist es auch mit Johannes, der auch Markus genannt wird.
In Apostelgeschichte 12,12-14 wird uns sein Elternhaus in Jerusalem beschrieben. Seine Mutter war eine fromme Frau. Sie gehörte zur dortigen Versammlung, die durch Zeiten der Verfolgung ging. Trotz drohender Gefahr öffnete sie den Geschwistern ihr Haus, dass sie sich darin versammeln konnten. In diesem Haus wurde gebetet. Selbst ihre Magd Rhode war mit den Geschwistern und den Dienern Gottes vertraut. Als Petrus an die Tür klopfte, erkannte sie seine Stimme sogleich mit Freuden und liess sich nicht beirren, selbst als man es ihr im Kleinglauben auszureden versuchte.
In dieser Umgebung also lebte Johannes-Markus. Vielleicht war ihm hier auch der Apostel Petrus von Nutzen (vgl. 1. Pet 5,13). Wuchs da wohl in seinem Herzen der Wunsch, dem Herrn zu dienen? Es scheint so, denn als Barnabas und Saulus, diese beiden gesegneten Werkzeuge Gottes von Judäa nach Antiochien zurückreisten und sich von da aus zu dem Werk aufmachten, zu dem sie der Heilige Geist berufen hatte, nahmen sie auch ihn zum Dienst mit (Apg 12,25; 13,5).
Was konnte er ihnen helfen? Vielleicht gab es da ganz geringe Dienste zu tun, die in äusseren Dingen den beiden Knechten Gottes von Nutzen waren. Elisa in der ersten Zeit seines Dienstes zum Beispiel, goss Wasser auf die Hände des Elia (2. Kön 3,11). Wer von Herzen dem Herrn dienen will, schätzt sich glücklich, jede Handreichung zu tun, die Er ihm anweist. Für Ihn ist nichts unbedeutend.
Aber Markus hatte sich den Missionsdienst wohl anders vorgestellt. Da gab es nicht nur Reisen in andere Länder, zu anderen Völkern mit anderen Sitten. Da gab es auch unsägliche Mühe und Schwierigkeiten. Es war damals so wie heute: Die Mehrzahl der Menschen wollten nicht auf das Evangelium hören. Die Boten Gottes wurden ausgelacht, verspottet und sogar verfolgt. Barnabas und Paulus hielten diesen Widerwärtigkeiten, die dem natürlichen Menschen so unerträglich sind, in der Kraft des Herrn stand. Was auch kommen mochte, sie wollten und mussten die Botschaft ausrichten. Paulus sagte später einmal: «Ich nehme keine Rücksicht auf mein Leben» (Apg 20,24). Das war allezeit sein fester Grundsatz, auch hier in Pamphylien.
Aber Markus war vermutlich noch nicht so weit. Er hatte wohl noch nicht gelernt, allezeit vor dem Angesicht des Herrn zu wandeln. Vielleicht hielt er im Verborgenen noch Dinge fest, die den Heiligen Geist hinderten, sein Herz zu erfüllen. Wenn dem so war, musste ihn eine lähmende Menschenfurcht beschlichen haben, so dass er sich nicht mehr weiter wagte. Es ist auch sehr wohl möglich, dass ihm eine innere Bindung an das Judentum, wovon sich die Gläubigen in Jerusalem so schwer lösen konnten, die Freimütigkeit zum Werk der Evangelisation unter den Nationen nahm. Eines dieser Dinge oder alle zusammen mussten ihn bewogen haben, sich von den beiden tatkräftigen Evangelisten zu trennen und nach Jerusalem zurückzukehren (Apg 13,13). Armer Markus!
Paulus aber und Barnabas vollendeten ihre erste Reise und kehrten dann für einige Zeit nach Antiochien zurück. «Paulus aber und Barnabas verweilten in Antiochien und lehrten und verkündigten mit noch vielen anderen das Wort des Herrn. Nach einigen Tagen aber sprach Paulus zu Barnabas: Lass uns nun zurückkehren und in jeder Stadt, in der wir das Wort des Herrn verkündigt haben, die Brüder besuchen und sehen, wie es ihnen geht. Barnabas aber wollte auch Johannes, genannt Markus, mitnehmen. Paulus aber hielt es für recht, den nicht mitzunehmen, der sich in Pamphylien von ihnen getrennt hatte und nicht mit ihnen zu dem Werk gegangen war. Es entstand aber eine Erbitterung, so dass sie sich voneinander trennten …» (Apg 15,35-41)
Paulus und Barnabas erbitterten und trennten sich! Und warum? Wegen Markus! Wie zieht doch oft der Fall eines Einzelnen auch schlimme Folgen für andere nach sich! Von Barnabas, dem «guten Mann» und «voll Heiligen Geistes» hören wir nicht mehr viel. Er segelte nach Zypern und nahm seinen Neffen Markus mit. Später erwähnte ihn Paulus mehrmals in seinen Briefen, ohne irgendwelche bittere Empfindungen gegen ihn zu haben. Ob bei Barnabas wohl verwandtschaftliche Gefühle überwogen? Hatte Markus noch keine Beweise einer wirklichen Änderung seines Zustandes erbracht? Wir müssen es annehmen. Nur Paulus und Silas, sein neuer Begleiter, wurden «von den Brüdern der Gnade Gottes befohlen.»
Gott sei Dank! Die Geschichte des Markus ist damit nicht zu Ende. Gottes Erziehungswege mit den Seinen gehen in aller Stille weiter und führen schliesslich zum Ziel, wenn der Eigenwille zerbrochen und das Herz durch Gnade befestigt oder wiederhergestellt ist. So geschah es auch mit Markus. Er erkannte seinen Zustand im Licht Gottes und tat wahre Buße vor Gott und Menschen. Darüber besteht kein Zweifel; denn ohne ein tiefes Werk in Herz und Gewissen ist keine Wiederherstellung möglich.
Gerade Paulus, der ihn einst nicht mitnehmen wollte, schrieb nach mehreren Jahren den Kolossern: «Es grüsst euch … Markus, der Neffe des Barnabas, dessentwegen ihr Befehle erhalten habt.» Wir wissen nicht, welcher Art diese Befehle waren, doch müssen sie positiv gewesen sein, denn der Apostel fuhr fort: «Wenn er zu euch kommt, so nehmt ihn auf» (Kol 4,10).
Wie tröstlich! Wir können einem Bruder, der nicht gut steht oder noch zu lernen hat, wohl zureden, aber wenn es nichts fruchtet und sich unsere Bemühungen als vergeblich erweisen, so bleibt er dennoch in den Händen dessen, der die Treue selbst und ein unvergleichlicher und geduldiger Lehrer ist. Er vermag das geknickte Rohr aufzurichten und den glimmenden Docht anzufachen. Aber wir, zeigen wir Ausharren in der Fürbitte?
Im Brief an Philemon (Vers 24), der zur selben Zeit wie der Kolosserbrief geschrieben wurde, nennt Paulus, der grosse Apostel, den Markus sogar seinen «Mitarbeiter». Er deutet nicht mit dem Finger auf ihn und hält ihm nicht immer und immer wieder sein einstiges Versagen vor. Er empfand und handelte in Übereinstimmung mit Gott, der «reich ist an Barmherzigkeit» und «reich an Vergebung», der nicht «immer rechtet» und nicht «in Ewigkeit nachträgt» (Ps 103,9).
Das Letzte, was Paulus, kurz vor seinem Märtyrertod, über Markus aussagte, finden wir im 2. Timotheus-Brief 4,11: «Nimm Markus und bring ihn mit dir, denn er ist mir nützlich zum Dienst»! Das war völlige Rehabilitierung durch Gottes Gnade. Als Zerbrochener und Zerschlagener hatte er nun gelernt, dem Herrn zu folgen, sich auf Ihn zu stützen und sich in Ihm zu freuen. Nun konnte er Ihm wirklich dienen! Selbst die Verfolgungen durch den blutdürstigen Kaiser Nero konnten den ehemals furchtsamen Diener nicht mehr zum Rückzug bewegen.
Wie man allgemein annimmt, ist das Evangelium nach Markus, das Jesus als den treuen und vollkommenen Diener darstellt, unter der Leitung des Heiligen Geistes von diesem Markus geschrieben worden, der einst ein untreuer Diener war. Wie mochte er dabei im Geist in tiefer Bewunderung und Anbetung den Schritten des göttlichen, vollkommenen Knechtes gefolgt sein, der nie vor Widerspruch, Schmach und Widerwärtigkeiten zurückwich, sondern jeden Auftrag Gottes «sogleich» ausführte! (Dieses Wort wird in diesem Evangelium sehr oft gebraucht.)
Ist die Geschichte des Markus, wie der Heilige Geist sie niederschrieb, nicht eine Ermunterung für uns alle, die wir ihm so sehr gleichen, weit mehr als dem hingebenden und grossen Diener Paulus?