«Wenn es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christus, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, so erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes, nichts aus Streitsucht oder eitlem Ruhm tuend, sondern in der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das der anderen» (Phil 2,1-4).
Die Philipper hatten durch ihre Sorge für Paulus das an den Tag gelegt, was wir im ersten Vers von Philipper 2 finden: «Ermunterung in Christus, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes, innerliche Gefühle und Erbarmungen.» Trotzdem waren sie nicht völlig eins in Christus. Aber der Apostel wollte angesichts all ihrer Liebe zu ihm keinen Vorwurf machen. Daher fuhr er fort zu sagen: «So erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes.» Damit drückt er aus: Ich sehe, wie besorgt ihr für mich seid. Wenn ihr mich aber ganz glücklich machen wollt, so seid gleich gesinnt – «erfüllt meine Freude». Er tadelt sie auf die zarteste Weise. Er gibt ihnen einen leisen Wink, denn sie hatten diese Ermahnung nötig.
«In der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst.» Hier zeigt er, auf welcher Grundlage diese Einheit der Gesinnung beruht. In einem gewissen Sinn scheint dies unmöglich zu sein. Denn wenn jemand besser ist als ich, so ist es klar, dass ich nicht besser sein kann als er. Wenn das Herz aber wirklich demütig ist, wenn ich mit Christus lebe und meine Freude an Ihm finde, so betrachte ich mich als ein armes schwaches Geschöpf. Als solches kann ich mich mit nichts anderem als mit der Gnade von Christus beschäftigen. In mir selbst erblicke ich nur Fehler. Die ganze Fülle der Gnade sehe ich nur in Christus. Indem ich sie sehe und auch von ihr Gebrauch mache, fühle ich, was für ein elendes Werkzeug ich bin. Ich merke, dass das Fleisch mich hindert und schwächt und das Licht nicht ausstrahlen lässt.
Blicke ich aber auf meinen Bruder, so sehe ich alle Gnade, die Christus über ihn ausgegossen hat. Der Christ sieht Jesus Christus und alle guten Eigenschaften in seinem Bruder. Sogar zu den Korinthern, deren Verhalten so anstössig war, konnte Paulus sagen: «Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus» (1. Kor 1,4). Er begann damit, all das Gute unter ihnen anzuerkennen. Die Liebe erwähnte alles Positive, das sie finden konnte. Auf diese Weise gewann Paulus ihre Herzen und machte sie bereit, auf die Zurechtweisungen zu hören.
Ich erblicke die Gnade in meinem Bruder und nicht das Böse, das in seinem Herzen vorgeht. Dieses sehe ich in meinem eigenen. Als Mose vom Berg herabkam, wusste er nicht, dass sein Gesicht strahlte. Was sein Gesicht strahlen liess, war nicht, dass er sein eigenes Gesicht sah – wir wissen, dass er dies nicht vermochte –, sondern dass er die Herrlichkeit Gottes angeschaut hatte. Diese strahlt in dem Mass von uns aus, wie wir uns Zeit nehmen, sie einfach zu betrachten. Bei meinem Bruder sehe ich alle Güte, alle Gnade, allen Mut, alle Treue, und bei mir alle Fehler.
Wie bereits bemerkt, kann ich natürlich nicht besser sein als er, wenn er besser ist als ich. Doch es handelt sich hier um die Gesinnung, in der ein Christ lebt. Wenn das Herz auf Christus gerichtet ist, verschwinden die Streitsucht und der eitle Ruhm. Es kann nicht anders sein. Auf diese Weise werde ich davor bewahrt, mich falsch einzuschätzen. Denn wenn ich auf die Gnade blicke, sehe ich Christus. Ohne Zweifel muss ich manchmal auf mich selbst blicken und mich im Selbstgericht verurteilen. Am besten aber ist es, wenn ich gar nicht auf mich schauen muss.
«In der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das Seine sehend.»