Durch den evangelistischen Dienst von Paulus war die Versammlung in Philippi entstanden. Die Gläubigen dort unterstützten ihn und seinen Dienst fortan durch Gebet und materielle Gaben. Nun sitzt er in Rom in Gefangenschaft und kann ihnen nicht mehr unmittelbar dienen. Den weiteren Weg zu Christus in der Herrlichkeit werden sie ohne seinen direkten Beistand gehen müssen. Aber die enge geistliche Beziehung zwischen ihm und ihnen besteht weiter, und als er wieder einmal eine finanzielle Unterstützung von ihnen bekommt, entsteht dieser Brief. Gleich nach dem einleitenden Gnaden- und Friedensgruss lässt er in den Versen 3-11 die Philipper wissen, dass er für sie betet. Das Gebet – aber auch der Austausch darüber – stärkt die guten Beziehungen untereinander. Er hat viel zu danken, und er hat auch konkrete Bitten für sie:
1) Dank
«Ich danke meinem Gott bei all meiner Erinnerung an euch allezeit in jedem meiner Gebete» (V. 3.4).
Das Danken muss und soll sich nicht auf «abstrakte» Gemeinsamkeiten beschränken. Man kann einen Katalog von Beispielen für «Dankesthemen» zusammenstellen, wenn man die ersten Verse aus jedem Brief von Paulus nachliest. Da geht es um Glauben, Gnade, Zeugnis, Geschwisterliebe, Gnadengaben, Glaubenswerke, Frucht und Wachstum, Ausharren, Hoffnung usw. (Röm 1,8; 1. Kor 1,4-7; Kol 1,3-6; 1. Thes 1,2.3; 3,9; 2. Thes 1,3).
Anlass zur Dankbarkeit ist für Paulus die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen, die etwa zehn Jahre zurückliegen (Apg 16). Wie gut ist es, wenn es gemeinsame Dienste und Aufgaben für den Herrn gibt, gemeinsame Glaubenserfahrungen, gemeinsam getragenes Leid, gemeinsam genossene Freude! Das verbindet.
2) Fürbitte
«… indem ich für euch alle das Gebet mit Freuden tue» (V. 4).
Füreinander zu beten setzt voraus, dass man voneinander weiss und dass man miteinander spricht – auch über Gebetsanliegen. Kommen meine Mitgeschwister in meinen Gebeten vor? Da gibt es bestimmt viele konkrete Anliegen.
Bei Paulus verbinden sich Dank und Fürbitte: Er dankt allezeit in jedem seiner Gebete, indem er für sie alle das Gebet (Bitten, Flehen) mit Freuden tut. Ein geistlicher Blick für die Mitgeschwister fördert tiefer gehende Gebetsanliegen zu Tage, die ihren geistlichen Zustand betreffen. Wie das bei Paulus aussah, kann man in den Versen 9-11 nachlesen.
Wie kann ich persönliche Gebetsanliegen in konkreten Lebenssituationen mit einer Bitte für die geistliche Entwicklung meiner Mitgeschwister verbinden? Was heisst z.B. «überströmende Liebe, Erkenntnis und Einsicht» (V. 9), wenn jemand vor einer wichtigen Entscheidung steht? Der Ansatz von Paulus nimmt mich in die Lebensumstände meiner Mitgeschwister und in ihre geistliche Entwicklung hinein. Das wird sich positiv auf die geschwisterlichen Beziehungen auswirken.
3) Zuversicht
«… indem ich eben darin guter Zuversicht bin, dass der, der ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollenden wird bis auf den Tag Jesu Christi» (V. 6).
Bei den Philippern war durchaus nicht alles perfekt. Bei uns auch nicht! Erkenne ich bei meinen Mitgeschwistern Probleme oder geistliche Defizite? Auch wenn solche Defizite bestehen, sollten sie mir nicht den Blick darauf verdecken, dass es in jedem Gläubigen ein Werk Gottes gibt. Er wird es vollenden, bis jeder am Ziel beim Herrn Jesus in der Herrlichkeit angekommen ist.
Zuversicht – und zwar «gute Zuversicht» – ist demnach die richtige Haltung gegenüber den anderen. Sie ist besser als Skepsis oder Geringschätzung, und sie ist auch besser als Oberflächlichkeit und Desinteresse. Ich nehme den geistlichen Zustand der Mitgeschwister nicht als unabänderlich hin, sondern sehe ihn als entwicklungsfähig an: Es wurde etwas begonnen, das noch vollendet werden kann, und zwar von Gott, nicht von mir. Das Ganze betrachte ich mit einer positiven, wohlwollenden Haltung – eben «zuversichtlich». Ich anerkenne das Gute, Gottgewirkte (Heb 6,9.10; 1. Thes 1,3; Röm 15,14) und vertraue auf das weitere Wirken des Herrn (1. Kor 1,8.9; 2. Kor 7,16).
4) Recht vor Gott
«… wie es für mich recht ist, dass ich dies über euch alle denke … Denn Gott ist mein Zeuge» (V. 7.8).
Vielleicht helfen die ersten drei Punkte dieser «Checkliste» bei der Prüfung, ob meine Haltung gegenüber meinen Mitgeschwistern «recht ist». Bemerkenswert ist die Formulierung: «für mich recht». Statt meines Urteils darüber, was für andere recht ist, ist meine Verantwortung, Gottes Urteil über mich anzuerkennen. Wenn ich in mein Herz schaue und meine Gedanken und Empfindungen auf den Prüfstand stelle, kann ich dann sagen: «Gott ist mein Zeuge», dass ich meine Mitgeschwister liebe?
Was ist nun «recht»? Die geschwisterlichen Beziehungen sollen von Liebe geprägt sein. Daran erkennt man Jünger des Herrn Jesus, dass sie Liebe untereinander haben (Joh 13,35). Diese Liebe glaubt und hofft alles Gute – auch über und für die Geschwister (1. Kor 13,7). Unrecht ist es dagegen, einander zu verachten oder zu richten, einander zu beneiden, zu streiten, Unterschiede zwischen Personen zu machen, gegeneinander zu reden (Röm 14,10; Gal 5,26; Jak 4,1; 2,1; 4,11).
Paulus führt hier vor, wie es geht, sich mit der Wahrheit zu freuen (1. Kor 13,6; 2. Joh 4), indem er das betont und für das dankt, was ihn mit den Philippern vor Gott verbindet.
5) Gemeinschaft
«… weil ihr mich im Herzen habt und sowohl in meinen Fesseln als auch in der Verteidigung und Bestätigung des Evangeliums ihr alle meine Mitteilnehmer der Gnade seid» (V. 7).
Die gute Zuversicht von Paulus gründete auf den guten Erfahrungen, die er in seiner Beziehung zu den Philippern gemacht hatte.
Es ist wahr, dass Gottes Liebe sich dadurch auszeichnet, dass sie auch dort liebt, wo der andere keinen Anlass dazu gibt. Sie ist also nicht eigennützig und braucht nichts Liebenswertes, um lieben zu können. Normal ist es aber doch, dass es Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen gibt, über die ich mich freue und die mir helfen zu lieben – denn die Liebe freut sich mit der Wahrheit (1. Kor 13,6).
Paulus und die Philipper hatten Gemeinsamkeiten in mehreren Punkten:
- Er wusste, dass sie ihn «im Herzen hatten».
- Sie litten mit ihm in seiner Verfolgung und Gefangenschaft. Sie beteiligten sich an seiner evangelistischen Arbeit durch Interesse, Gebet und finanzielle Unterstützung für das, was er tat (Phil 4,15-18; 2. Kor 8,1-5). Sicher waren auch sie in dem Umfeld und den Aufgaben tätig, die der Herr ihnen gegeben hatte.
- Sie waren in dieser Arbeit Mitteilnehmer der Gnade. Bei ihrem Interesse, ihren Gebeten und ihrem Mitwirken hatten sie die Perspektive von Gottes Gnade. Ein solcher Blick lenkt weg vom eigenen Tun hin zum Wirken Gottes. Diese Perspektive bestärkt aber auch im Tun und Leiden, weil sie auf Gott hinweist, dessen Gnade «genügt» (2. Kor 12,9).
6) Sehnsucht
«… wie ich mich nach euch allen sehne mit dem Herzen Christi Jesu» (V. 8).
Die Sehnsucht (das griechische Wort stammt aus der Wurzel «herbeiwünschen») ist der tief empfundene Wunsch nach direkter Gemeinschaft (Röm 1,11; 2. Tim 1,4; 2. Kor 9,14; Phil 2,26; 1. Thes 3,6).
Paulus pflegte den brieflichen Kontakt, aber er wünschte persönlich bei seinen geliebten Geschwistern in Philippi zu sein. Gemeinschaft braucht Gemeinsamkeit und Zusammensein. Es ist normal, dass sich das geschwisterliche Miteinander nicht nur auf die Zusammenkünfte beschränkt. Die ersten Christen verharrten in der Gemeinschaft (Apg 2,42), und die nächsten Verse zeigen, wie sie das verwirklichten (V. 44-47).
Sehnsucht ist eine Empfindung der Liebe. Die Liebe ist eine Willensentscheidung, aber sie ist auch eine innere, seelische Empfindung, keine gefühllose, rein verstandesmässige Sache. Mit Sehnsucht hatte sich auch der Herr gesehnt, das letzte Passah mit seinen Jüngern zu essen, bevor Er am Kreuz litt und starb (Lk 22,15).
Paulus und die Philipper – ein Vorbild für Geschwisterliebe aus Erfahrung
Paulus lehrt uns mit seiner Einleitung des Philipper-Briefs dreierlei:
- Gute Beziehungen zu Mitgeschwistern gehen «über Eck», sie sind in Gott verankert: Dank an Gott, Gebet zu Gott, Vertrauen auf Gottes Wirken, «Eichen» der Empfindungen an Gottes Massstab, Bewusstsein der gemeinsamen Abhängigkeit von Gottes Gnade, Füllen des Herzens mit der Liebe Christi.
- In gute Beziehungen zu Mitgeschwistern kann ich investieren: Ich kann für sie danken und bitten. Ich kann das auch äussern, kann alles Positive aussprechen und mich vom Herrn Jesus prägen lassen.
- Für gute Beziehungen zu Mitgeschwistern ist es hilfreich, wenn man Gemeinsamkeiten hat: gute Erinnerungen, gemeinsame Gebetsanliegen, gemeinsame Aufgaben im Dienst für den Herrn, Erlebnisse von Gottes Wirken in den Geschwistern, Erfahrungen von ihren Interessen und Empfindungen zu einem selbst.