Der 16. Psalm ist ein Psalm Davids, des lieblichen Psalmisten Israels, der, geleitet durch den Heiligen Geist, lange zum Voraus prophetisch die Gefühle zum Ausdruck brachte, die hier auf der Erde das Herz Christi als Mensch und vollkommenem Diener erfüllen sollten. Dass uns dieser Psalm die Person Christi, seinen Weg und seinen Dienst vorstellt, ist nicht zu bezweifeln; die Schrift selbst versichert es uns (Apg 2,25-28; 13,35).
In 1. Petrus 2,21 wird uns zugerufen: «Christus hat für euch gelitten, euch ein Beispiel hinterlassend, damit ihr seinen Fussstapfen nachfolgt.» Möchten wir dieses göttliche Vorbild daher sorgfältig betrachten, um fähig zu werden, Ihn einigermassen nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen, auf einem Weg, wo Gott seine unendlichen Vollkommenheiten sehen konnte.
Es ist sehr bemerkenswert, das der erste Vers des 16. Psalms ein Gebet ist. Liegt nicht gerade darin das Geheimnis des Wandels Christi als Mensch und Diener auf der Erde? Ein solcher Wandel setzt einen Geist des Gebets, das Erforschen der Gedanken Gottes, die Erkenntnis seines Willens, um ihn zu tun, und den Genuss seiner Gemeinschaft voraus. Das Lukas-Evangelium, in welchem der Heilige Geist ganz besonders die menschliche Seite der herrlichen Person des Sohnes Gottes hervorhebt und was Er hier auf der Erde als Sohn des Menschen gewesen ist, zeigt Ihn uns in sieben verschiedenen Umständen im Gebet (Lk 3,21; 5,16; 6,12; 9,18.28; 11,1; 22,41-45) – nicht zu reden von dem Gebet, das Er zu seinem Vater emporsandte, als Er am Kreuz war (23,34).
Die drei Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas berichten alle von der Taufe des Heilandes am Jordan, von der Berufung der Zwölf, von der Verklärungsszene auf dem heiligen Berg; aber nur der Lukastext zeigt Ihn uns in allen drei Begebenheiten im Gebet. Daraus geht deutlich hervor, dass das Geheimnis eines treuen Wandels in der Verwirklichung eines Lebens des Gebets und der Gemeinschaft mit Gott liegt.
«Bewahre mich, Gott!» Das war das Anliegen des Menschen Christus Jesus auf dem Weg durch eine Welt, wo das Böse herrscht, wo der Feind seine Macht ausübt und seine Listen entfaltet. Wenn Er das Bedürfnis empfand, von seinem Gott bewahrt zu werden, wievielmehr Grund haben dann wir, ein solches Bedürfnis zu spüren! Betrachten wir den Pfad des vollkommenen Menschen, so neigen wir leicht dazu, unsere Verfehlungen mit der Erklärung zu entschuldigen: «Ein solcher Wandel ist für uns unmöglich! Er war der Sohn Gottes; wir sind nur arme Geschöpfe!» Lasst uns jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass Er, obwohl Er der Sohn Gottes war, und nie aufgehört hat, es zu sein, herabgekommen ist, um hier auf der Erde als Mensch zu leben und den Pfad des Menschen vor Gott voranzuwandeln, zweifellos in einer Vollkommenheit, die nur Er allein darstellen konnte, aber Er hat dabei Hilfsquellen in Anspruch genommen, die auch uns zur Verfügung stehen, um uns fähig zu machen, «selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt ist» (1. Joh 2,6). Eine dieser Hilfsquellen also ist das Gebet. Oh, wie sollten wir die Bitte unseres vollkommenen Vorbildes doch immer wieder aussprechen: «Bewahre mich, Gott!», nicht als leere Wiederholung, sondern im tiefen Gefühl unserer Schwachheit und der Gefahren, denen wir ausgesetzt sind! Hätten wir mehr das Bewusstsein dessen, was wir sind, und vom Zustand der Welt, in der wir zu wandeln haben, so würden wir keinen einzigen Schritt tun, ohne zu bitten: «Bewahre mich, Gott!» Der wahre Knecht des HERRN, von welchem der 16. Psalm und das Evangelium nach Markus zu uns reden, ist lange vor Tagesanbruch aufgestanden, um an einen öden Ort zu gehen und dort zu beten (Mk 1,35). Er lebte ein Leben der Gemeinschaft mit seinem Gott, und als Mensch lernte Er Ihn auf diese Weise kennen. Ein solches Erkennen ist es, das zum Vertrauen führt, zu einem Vertrauen, ohne welches jedes Gebet unmöglich oder nur eine leere Form ohne Kraft wäre. Weil Er in Wahrheit sagen konnte: «Ich suche Zuflucht bei dir», hat der vollkommene Mensch seinen Gott gebeten, Ihn zu bewahren: «Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir!»
Verlangte man danach, von jemandem bewahrt zu werden, dem man kein Vertrauen schenken kann? Gott ist unseres ganzen Vertrauens würdig, aber verstehen wir es wirklich, uns ganz auf Ihn zu stützen? Wohl selten. Und das ist der mutmassliche Grund dafür, dass uns nicht derselbe Geist des Gebets erfüllt, der den vollkommenen Menschen sagen liess: «Bewahre mich, Gott!» Und wenn wir des Vertrauens auf Gott ermangeln, so liegt es sicher daran, dass wir Ihn zu wenig kennen. David sagt anderswo: «Auf dich werden vertrauen, die deinen Namen kennen» (Psalm 9,11). Schon in den menschlichen Beziehungen ist es so: Wen man als eine zuverlässige Person kennt, deren Treue man schon manchmal erprobt hat, dem wird man in den Dingen des Lebens gerne vertrauen.
Aber wir Gläubige gehen hierin oft viel zu weit. Wir setzen unser Vertrauen öfter und viel leichter auf den Menschen und auf sichtbare Stützen als auf Gott. Und dabei haben wir den Abschnitt aus Jeremia 17 doch so manchmal schon gelesen:
«So spricht der HERR: Verflucht ist der Mann, der auf den Menschen vertraut und Fleisch zu seinem Arm macht und dessen Herz von dem HERRN weicht! Und er wird sein wie ein kahler Strauch in der Steppe und nicht sehen, dass Gutes kommt; und an dürren Orten in der Wüste wird er wohnen, in einem salzigen und unbewohnten Land» (Verse 5 und 6). Wir sollen kein Vertrauen auf das Fleisch haben (Phil 3,3.4), sei es das Fleisch in uns oder in anderen. Ein solches Vertrauen wird uns immer bittere Erfahrungen einbringen. Hingegen: «Gesegnet ist der Mann, der auf den HERRN vertraut und dessen Vertrauen der HERR ist! Und er wird sein wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und am Bach seine Wurzeln ausstreckt und sich nicht fürchtet, wenn die Hitze kommt; und sein Laub ist grün, und im Jahr der Dürre ist er unbekümmert, und er hört nicht auf, Frucht zu tragen» (Jer 17,7.8). Ein solcher Mann war Christus! – Wenn wir uns auch nicht auf den Menschen stützen sollen, so sind wir doch glücklich, einem treuen, gottselig lebenden Gläubigen unser brüderliches Vertrauen zu schenken; wir trauen ihm in dem Mass, wie wir bei ihm das finden, was vom neuen Menschen ist. Wir erkennen in ihm etwas, was von Gott ist und das ist es, was Vertrauen bewirkt. Aber was wir auf diese Weise in unseren brüderlichen gegenseitigen Beziehungen geniessen können, sollten wir auch, und in einem viel höheren Mass, in unseren Beziehungen zu Gott verwirklichen. In Tat und Wahrheit kennen wir Ihn zu wenig, weil wir nicht nahe genug bei Ihm, in inniger Gemeinschaft mit Ihm leben. In dieser Gemeinschaft nämlich wird jene Erkenntnis erworben, die zum Vertrauen führt. Gott freut sich über das Vertrauen, das die Seinen in Ihn setzen: «Er kennt die, die zu ihm Zuflucht nehmen.» (Nahum 1,7).
Der erste Vers des 16. Psalms ist sowohl der Ausdruck des Vertrauens als auch der Abhängigkeit. Im Gebet bezeugen wir unser Vertrauen auf Gott und auch unsere Abhängigkeit von Ihm.
So wenig man sich jemandem anvertrauen möchte, den man nicht kennt, so wenig möchte man von jemand abhängig sein, dem man nicht vertrauen kann. Es ist wohl wahr, dass wir zu wenig wissen, was ein Leben der Abhängigkeit von Gott in allen Umständen des Weges eigentlich ist, und zwar darum, weil wir kein völliges Vertrauen des Herzens auf Gott und auf Gott allein offenbaren. Fehlt uns dieses Vertrauen, so liegt es – wie schon gesagt – daran, dass wir unseren Gott und Vater nicht mit der reichen und kostbaren Erkenntnis kennen gelernt haben, die nur in einem Leben der Gemeinschaft mit Ihm erworben wird. Möchten wir doch in den Evangelien und in den Psalmen den Weg Dessen, der unser vollkommenes Vorbild ist, näher betrachten! Lasst uns von Ihm lernen, damit auch wir unsererseits, nicht nur mit den Lippen, sondern mit dem Herzen das Gebet nachsagen, das Er als Mensch hier auf der Erde an seinen Gott richtete: «Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir!»
Gemeinschaft, Erkenntnis, Vertrauen und Abhängigkeit – diese vier Dinge sind eng miteinander verbunden. Lasst uns in der Gemeinschaft mit Gott leben, danach streben und sie pflegen; das ist es, was als Ausgangspunkt vor allem wichtig ist. Dann werden wir lernen, Ihn zu erkennen und Ihm zu vertrauen; und auf Ihn vertrauend werden wir glücklich sein, in seiner Abhängigkeit wandeln zu dürfen. Dann wird der Widerschein einiger Wesenszüge unseres vollkommenen Vorbildes an uns sichtbar werden und wir können dann, wie Er es hier auf der Erde getan hat, in aller Wahrhaftigkeit sagen: «Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir!»