Fragen ohne Antwort (1)

Markus 4,40; Markus 9,33; Markus 14,6

Beim Lesen der Evangelien fällt uns auf, dass unser Herr den Männern und Frauen, denen Er auf seinem Weg begegnete, sehr oft Fragen stellte. Viele davon sind ohne Antwort geblieben. Das ist leicht verständlich, denn seine Worte und seine Fragen waren das Wort Gottes, das lebendig ist «Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der Gedanken und Überlegungen des Herzens» (Heb 4,12). Dieses Schwert berührt den empfindlichen Punkt: das Gewissen und das Herz; seine Schläge können nicht abgewehrt werden, sie verschlagen dem Menschen die Stimme, so dass er nicht antworten kann.

Diese Fragen, die in den vier Evangelien enthalten sind, richten sich zum grössten Teil auch an uns. Möge der Herr uns schenken, sie zu Herzen zu nehmen. Wir greifen hier nur einige heraus.

«Habt ihr noch keinen Glauben?» (Markus 4,40)

Es war am Ende eines Tages, an dem Jesus seinen Jüngern vieles gelehrt und es ihnen gegeben hatte, «das Geheimnis des Reiches Gottes zu erkennen» (Vers 11). Sie hatten also diesen Tag in seiner Nähe verbracht. Und als nun der Abend kam, da nahmen sie Ihn in dem Schiff mit, in glücklicher Gemeinschaft mit Ihm.

Auch wir sind am Ende eines Tages oder eines Abschnittes unseres Lebens angelangt, das wir mit Ihm verbracht haben. Wir hatten, wie die Jünger, das Vorrecht, seine Stimme zu hören, da Er uns ja sein Wort in die Hände gegeben und uns vieles daraus gelehrt hat (Vers 2). Wie die Jünger, durften auch wir Ihn mitnehmen «wie Er war», Ihn selbst, ausserhalb aller Formen und Zäune, welche die Religion um Ihn herum aufgerichtet hat. Wir haben nur noch ein kleines Stück Weges zu gehen, bis wir am andern Ufer anlangen, und auch wir haben die Gewissheit, dort anzukommen. Der Herr Jesus war es, der zu ihnen gesagt hatte: «Lasst uns übersetzen an das jenseitige Ufer», und dieses Wort gab ihnen die Zuversicht, auch wirklich mit Ihm dorthin zu gelangen. Was uns betrifft, wissen wir, dass Er bis zur Ankunft im sicheren Hafen bei uns bleiben wird. Das schützt uns vor Schiffbruch. Wie könnten wir mit einem solchen Passagier im Schiff versinken?

Wenn jener Tag auch ermüdend war, so schien doch der Abend still zu werden. – So mögen auch wir heute auf ruhigem Wasser dahintreiben. Schon sehen wir am fernen Ufer die Lichter blinken. Da vergessen wir so leicht, dass der Wind sich erheben kann. Wir bekennen uns zum Glauben und zum Vertrauen und sind im Verborgenen vielleicht fast ein wenig stolz darauf. Wir verlassen uns auf die Festigkeit der Barke, auf die Stille des Meeres, auf unsere Geschicklichkeit im Steuern, und natürlich auch auf den Schutz des Herrn, wenigstens solange alles gut geht …

Aber dann kann sich plötzlich und unerwartet ein Sturm erheben. Alles, worauf wir uns stützten, bricht zusammen – Gesundheit, gesicherte Position, Familie, Freunde, Geistes- und Körperkräfte … Das Meer ist aufgewühlt, die Barke füllt sich mit Wasser. Wir sehen nicht mehr klar und wissen nicht mehr, wohin wir uns wenden sollen, und der Helfer, von Dem wir erwarteten, dass Er solche Gefahren von uns fernhalte, scheint zu schlafen. Sieht Er denn unsere verzweifelte Lage nicht? Ist Er gleichgültig? Lässt Er uns kentern? – «Habt ihr noch keinen Glauben?»

Aber bevor Er diese Frage an seine Jünger richtete, die ihr Gewissen berührte und bewirkte, dass sie ihr Haupt senkten, war Er innerlich bewegt ob ihrer Angst und Not; Er liess sie nicht vergeblich auf Befreiung warten: «Dann schreien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, und er führt sie heraus aus ihren Drangsalen. Er verwandelt den Sturm in Stille, und es legen sich die Wellen. Und sie freuen sich, dass sie sich beruhigen, und er führt sie in den ersehnten Hafen» (Psalm 107,28-30). Die Belehrung folgte nachher; zuerst mussten die Furchtsamen beruhigt und die Gefahr, die sie bedrohte, abgewendet werden. Bevor Er sie schalt, bedrohte Er den Wind und den See. Vor der herzefforschenden Frage ertönte sein Machtwort, das den Widersacher entwaffnete, und dieses Wort war nicht eine Frage, sondern ein Befehl: «Schweig, verstumme!»

Das ist die Art und Weise, wie der Herr handelt – die Handlungsweise der Liebe – gegenüber den Seinen, gegenüber uns. Er antwortet zuerst auf das Gebet, selbst wenn es ungestüm ist, selbst wenn es von Kleinglauben zeugt; zuerst beruhigt und befreit Er, und dann erst – haben wir dies nicht schon oft erfahren? – kommt die Frage: «Habt ihr noch keinen Glauben?»

«Was habt ihr auf dem Weg besprochen?» (Markus 9,33)

Der Herr hatte seine letzte Reise begonnen, die Ihn nach Jerusalem führen sollte. Die Tage seiner Aufnahme erfüllten sich. Vor seinen Blicken waren die Leiden, die Tränen, das Verlassensein, der Tod.

Er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: «Der Sohn des Menschen wird in die Hände der Menschen überliefert, und sie werden ihn töten; und nachdem er getötet worden ist, wird er nach drei Tagen auferstehen …» (9,31). Er bereitete sich darauf vor, sein Leben zum Heil der Welt zu geben, zum Heil der Jünger auch, die Ihm nachfolgten und für die sein Herz mit Liebe erfüllt war. Was aber beschäftigte ihr Herz auf dem Weg?

«Was habt ihr auf dem Weg besprochen? Sie aber schwiegen; denn sie hatten auf dem Weg miteinander beredet, wer der Grösste sei.» Diese Gleichgültigkeit und, sagen wir es offen, dieser ihr Hochmut überrascht uns, stösst uns sogar ab; denn wenn sie untereinander verhandelt hatten, wer der Grösste sei, war es da in Wirklichkeit nicht so, dass jeder bei sich dachte, er sei des ersten Platzes würdig? Sie hatten immer noch die Hoffnung, dass ihr Meister, den sie ohne allen Zweifel liebten, das Reich empfangen werde und dass sie dann die Genossen des Königs sein würden, die an seinem Hof einen hohen, wenn möglich den höchsten Platz einnähmen.

Wie war es nur möglich, so fragen wir uns, dass in einem solchen Augenblick derartige Gedanken ihr Herz erfüllten? Aber wenn wir bei uns selbst stehen bleiben und die Frage des Herrn Jesus als an uns selbst gerichtet betrachten, so müssen wir, wie die Jünger, den Mund schliessen. Womit beschäftigen wir uns zum Beispiel, wenn wir vom Gottesdienst heimkehren, nach den feierlichen Augenblicken in der Gegenwart des Herrn, wo Er uns, wie einst den Jüngern am Tag der Auferstehung, seine durchbohrten Hände und seine durchstochene Seite gezeigt hat, wo wir ein wenig die Gemeinschaft seiner Leiden verwirklicht haben? Mit wem sind wir auf dem Weg, der uns nach Hause führt, beschäftigt? Mit Ihm, oder mit uns selbst und unseren Umständen? Ach, wie schnell vergessen wir Den, Dessen Tod wir eben verkündigt haben und Der uns zuruft: «Tut dies zu meinem Gedächtnis!» Wir haben es wohl zu seinem Gedächtnis getan, aber wie lange hat dieser Eindruck gedauert, wie lange stellten wir uns selbst auf die Seite, um Ihm in unserem Leben den ganzen Platz zu geben? Eine Stunde, einen Tag, oder eine ganze Woche?

Wir sind, wie die Jünger, auf dem Weg der Nachfolge hinter dem Meister her, nicht um nach Jerusalem, sondern zum Vaterhaus hinaufzugehen, und das Wort sagt uns, was uns auf dieser kurzen Wegstrecke beschäftigen soll: «Im Übrigen, Brüder, alles, was wahr, alles, was würdig, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was lieblich ist, alles, was wohllautet, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob gibt, dies erwägt» (Phil 4,8). Alle diese Dinge sind in einer Person, in Christus, zusammengefasst.

Ist es wirklich so bei jedem von uns? – «Was habt ihr auf dem Weg besprochen?»

«Was macht ihr ihr Schwierigkeiten?» (Markus 14,6)

In den Augen der Menschen war die Handlung dieser Frau eine Torheit. Welche Torheit, das Alabasterfläschchen zu zerbrechen und diese echte, kostbare Narde, scheinbar niemandem zum Nutzen, auf das Haupt des Herrn auszugiessen! Welche Torheit, die Frucht der Arbeit eines ganzen Jahres vielleicht, auszuschütten! – So spricht die menschliche Weisheit, die Gott, der sich in Christus offenbart hat, nicht erkennt (1. Kor 1,21), die nicht weiss, was seiner Heiligkeit geziemt, und keine Ahnung hat von dem, was Anbetung ist. Diese menschliche Weisheit fürchtete sich hier nicht, der bescheidenen Frau Schwierigkeiten zu machen, die gerade durch ihr Tun der Liebe, die in ihrem Herzen war, Ausdruck gab. Mangel an Ehrfurcht vor dem Herrn und an Liebe zu Ihm, Mangel an Liebe dieser Frau gegenüber kam hier bei den Jüngern zum Vorschein, und das alles unter der Hülle einer angeblichen Weisheit und eines völlig äusserlichen Interesses für die Armen verborgen.

Wie sollten wir uns davor hüten, die Freude unserer Geschwister zu trüben, die, vielleicht viel besser als wir es tun, die Freude der Gemeinschaft mit dem Herrn und der Anbetung verwirklichen! Unsere Kritik und wir sind so leicht geneigt, Beweggründe zu kritisieren und zu richten – wird uns vielleicht in den Augen derer, die uns zuhören, erheben. Aber dann wird Der, welcher Herzen und Nieren prüft, die Frage an uns richten: «Was macht ihr ihr Schwierigkeiten?», und auch wir werden Ihm nicht antworten können.