Eine ernste Gefahr für die Kinder Gottes ist die Bitterkeit, das Seufzen über widrige Umstände. Darum ist Gott in seinem Wort bemüht, uns nach jeder Richtung hin vor dieser Gefahr abzuschirmen. Er will nicht, dass Bitterkeit in uns sei; sie soll von uns «weggetan» sein (Eph 4,31). Er ermahnt uns auch, darauf zu achten, dass unter uns «nicht irgendeine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse» (Heb 12,15); denn sie kann alle beunruhigen und viele verunreinigen. So macht Gott in dieser ernsten Sache jeden von uns für sich selbst und uns alle füreinander voll verantwortlich.
Unmöglich kann ungerichtete Bitterkeit in einem Herzen zu aufrichtigem Lob werden. Jeder derartige Versuch wäre Heuchelei. «Die Quelle sprudelt doch nicht aus derselben Öffnung das Süsse und das Bittere?» (Jak 3,11). Sind die erneuerten Herzen nicht ein Quell des Süssen für Gott und für unseren Herrn? Er kommt ja in seinen «Garten», um zu pflücken und zu essen und zu trinken (Hld 5,1). Ein bitteres Herz aber ist verunreinigt und hat keine Wohlgerüche für Ihn. Er findet darin nicht Dankbarkeit, wirkliches Lob und wahre Anbetung, die doch gewiss auch zur «Frucht der Mühsal seiner Seele» gehören.
Bitterkeit kommt nicht von selbst und unvermittelt aus unseren Herzen hervor; sie hat in der Regel eine Vorgeschichte, anfangend von der Wurzelbildung bis zum Aufsprossen. Bitterkeit bleibt auch nicht bei einem für unbedeutend gehaltenen Stand des Aufsprossens stehen, sondern wuchert weiter, bis sie zu einem Baum wird, dessen Früchte naturgemäss nur sehr «bitter» sein können. Schon im Leben der einzelnen wirkt sie sich verheerend aus und ist, von ihnen ausgehend, auch eine furchtbare Gefahr für andere.
Das siebte Kapitel des Buches Hiob lässt uns die Geschichte der Bitterkeit eines Herzens erkennen. Für Hiob selbst gehört dieses Kapitel sicher auch zur Geschichte seines «Ausharrens» in tiefem Leid (Jak 5,11). Wesentliche Mitschuld an der Sprache der Bitterkeit, die wir hier vernehmen, haben die auf falschen Voraussetzungen beruhenden Anklagen seiner drei Freunde. Für Hiob also war diese Bitterkeit gewiss ein Tiefpunkt inmitten seines Ausharrens. Darum darf man von diesem Kapitel aus nicht unbedingt auf das Gesamtbild der Person Hiobs schliessen; dazu wäre eine umfassendere Betrachtung des ganzen Buches notwendig. Aber das in Hiob 7 aufblitzende Herzensbild kann uns als Spiegel dienen, worin wir das Wesen unserer eigenen Bitterkeit erkennen können, wenn solche vorhanden wäre, bei uns, die wir im Ausharren nicht zu der Höhe eines Hiob heranreichen.
Hiob 7 hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem bekannteren siebten Kapitel des Römerbriefes. Beide Kapitel sind voll des «ich, mein, mir, mich»! In beiden Kapiteln finden sich diese persönlichen Fürwörter je fünfzig Mal Es sind also Kapitel des Absehens von Gott und vom Herrn, Kapitel der Beschäftigung einer Seele mit sich selbst. Die Folgen sind in Römer 7 Verzweiflung hinsichtlich der Errettung und in Hiob 7 Bitterkeit im Blick auf die Wege Gottes. Die Beschäftigung mit dem eigenen «Ich» verhindert immer den Frieden des Herzens.
Es ist eine zuweilen leider erfolgreiche Methode Satans, das Herz gerade dann mit sich selbst zu beschäftigen, wenn es ganz besonders mit dem Herrn beschäftigt sein sollte. Umgekehrt lässt er uns oft künstlich voller Tätigkeitseifer sein, wenn es gerade einmal besser wäre, sich selbst im Licht zu prüfen. Wenn es nun keinen Umstand unseres Lebens gibt, den wir, ohne den Herrn hinein zu bringen, geistlich zu ertragen vermögen, so müssen wir umso dringender ständig vor uns selbst auf der Hut sein. Bringen wir in äusserlich scheinbar günstige Umstände unseren Herrn nicht hinein, so besteht die Gefahr der Unabhängigkeit und des Leichtsinns. Bewegen wir uns aber in schwierigen Umständen und Notlagen ohne ihn, so verlieren wir Vertrauen und Zuversicht; wir beginnen an der «Gnade Mangel zu leiden», was zu bitterer Auflehnung gegen Gott und seine Knechte führen kann. Man spricht dann in zunehmendem Mass von sich selbst, aber weniger von Gott, immer mehr von den Umständen und immer weniger von Gottes Hilfe und von Beugung unter seine mächtige Hand. Dann spricht man nicht nur Ungereimtes über seinen Gott, sondern oft auch über die Geschwister und findet kein Ende mehr darin.
Unser Kapitel zeigt, wie das so gehen kann. Es beginnt mit einem gefährlichen Übergang: Der Blick, welcher doch nach oben gerichtet bleiben sollte, senkt sich, um die Welt und das Leben darin zu betrachten. Wie aber wird man dies tun, wenn man sich selbst in Mühseligkeit befindet und in Gefahr ist, Gott nicht mehr darin zu verherrlichen? Ach, man sieht nur noch Mühsal über Mühsal; alles erscheint einem als ein hartes Tagwerk mit vergeblichem Harren auf Lohn. Man ist bereits von der Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes abgekommen, und darum wird jetzt aus dem inmitten der Umstände von Gott abgewendeten, mit sich selbst beschäftigtem Herzen die Wurzel der Bitterkeit aufsprossen: «So sind mir zuteilgeworden Monde der Nichtigkeit, und Nächte der Mühsal mir zugezählt» (Vers 3) und: «Ich werde des Umherwerfens satt bis zur Dämmerung» (Vers 4).
Ach, geliebte Geschwister, halten wir doch ein, wenn es je einmal so weit kommen sollte oder gar schon gekommen ist! Wir haben allen Grund, aufzuschrecken, wenn wir uns sagen hören: «Ich habe es satt!» Noch nie hat dies jemand mit glücklichem Gesicht sagen können. Man achte darauf, wenn es jemand ausspricht; man weiss dann, welchen Anblick man dabei selbst darböte. Ja, das Angesicht würde gegen uns zeugen (Jes 3,9), von Christus wäre nichts mehr darin zu sehen.
Ach, wenn wir in unseren Umständen nichts mehr von Christus sehen, dann richten wir unser Augenmerk nur noch auf die harten Tatsachen (Vers 5), wir verlieren dann aus dem Auge, was die Trübsale eigentlich bewirken sollen (Röm: 5,3-5) und glauben nicht mehr an die «Hoffnung, die nicht beschämt», denn man sagt ja: «Meine Tage … schwinden ohne Hoffnung» (Vers 6). Ja, man ergeht sich in Hoffnungslosigkeit (Verse 7-10) und will, weil man es wohl nicht mehr anders kann, den Mund nicht mehr zurückhalten, von der «Bedrängnis» zu reden und in der Bitterkeit seiner Seele zu klagen (Vers 11). Sicher war man einmal glücklich – jetzt aber ist man ein klagender Christ.
Aber selbst hier bleibt diese aufsprossende böse Wurzel noch nicht stehen; aus der Klage wird Anklage, Anklage selbst gegen Gott! Hältst du mich, Gott, denn für ein Ungeheuer, dass du diese Wache (der Umstände) gegen mich aufstellst (Vers 12), so dass es keinen Trost, kein Ausruhen mehr für mich gibt (Vers 13)? Du erschreckst mich, du ängstigst mich so, dass meine Seele Erstickung vorzieht, lieber den Tod wählt (Vers 14-15)! Ja, das ist Anklage gegen Gott, wir müssten jetzt sagen, gegen den uns in Christus so unaussprechlich liebenden himmlischen Vater. Die Seele richtet sich nicht mehr gegen die Umstände – wie in Vers 4 – sondern direkt gegen Gott als den Urheber der Umstände: «Ich verachte es», (Vers 16). Welche Verkennung der Güte Dessen, der alle Umstände zum Guten mitwirken lassen will!
Aber man glaubt, ohne Grund der persönliche Angriffspunkt Gottes zu sein und fragt Ihn: «Habe ich gesündigt, was tat ich dir an, du Beobachter der Menschen?» (Vers 20). Man leidet eben völligen Mangel an der Gnade Gottes.
Wir wünschen uns selbst und allen Geliebten, angesichts dieser Warnung des Wortes vor Bitterkeit, für die Gnade ein allezeit geöffnetes Herz zu haben, zu immer rechtzeitiger Hilfe von oben.
Was aber ist die einzige Rettung, wenn wir in vergangenen Tagen die rechtzeitige Hilfe nicht gesucht haben und diese bittere Wurzel aufsprossen und vielleicht schon so schrecklich wachsen konnte?
Ach, man muss vor Gott zusammenbrechen! Bei welchem Punkt unseres Kapitels die eigene Bitterkeit auch angelangt sein mag – man muss vor Ihm zusammenbrechen. Erwarte doch ja niemand, dass der Herr die Umstände, auch nicht solche der Zucht, zerbrechen kann, ohne die in seiner Absicht liegenden Ergebnisse des Segens bewirkt zu haben. Erst müssen wir vor Ihm zerbrochen sein.
Oh, lasst uns alle, wirklich alle vor Bitterkeit gewarnt sein!
Setzt man das Gold dem Feuer aus, weil es kein Gold ist? Nein, es soll dadurch gereinigt werden.