Die Zeit Jeremias

Jeremia

Im Dienst der Propheten entfaltete sich, entsprechend den verschiedenartigen Bedürfnissen Israels, die Gnade und Langmut Gottes. Die Zeitabschnitte, in denen sie erweckt wurden, wie auch der entsprechende Charakter des Dienstes, machen die Geschichte eines jeden von ihnen wertvoll.

In all den Zeiten, in denen Propheten geweissagt haben, war kein Dienst derart mit Leiden verbunden, wie der Jeremias. Nicht die Resultate sind es, die diesen Knecht Gottes auszeichnen. Im Gegenteil, wohl bei keinem anderen Propheten waren die Früchte seiner Bemühungen so gering, wie bei Jeremia.

Der Dienst Moses gibt von dem anfänglichen Zustand des Volkes Gottes Zeugnis. Er fand die Kinder Israel unter dem harten Joch Pharaos und verliess sie kurz vor ihrem Eintritt ins verheissene Land. Josua durfte sie dann hineinführen. Auch die Geschichte der verschiedenen Befreier vor den Tagen Samuels ist ein Bericht von erlangten Siegen. Jeder von ihnen hinterliess einige Fussspuren auf dem Weg, die bezeugten, dass er gewirkt hatte. So war es später auch mit den Propheten. Die Tage Elias und Elisas waren erfüllt mit Auswirkungen der Güte Gottes gegenüber einem untreuen Volk. Aber wenn wir nach den Ergebnissen der Bemühungen Jeremias ausschauen, so sehen wir nur Verwüstung und Zerfall, die allmähliche Auflösung der bestehenden Ordnung in ein grosses Chaos. Aber trotzdem hörte er nicht auf, in dem sinkenden Wrack in unermüdlicher Treue zu dienen.

Andere, die vor ihm gewesen waren, hatten vorausgesagt, wohin die ungehorsamen und rebellischen Wege Israels führen würden; aber das Los Jeremias war, auf dem Schiff zu bleiben, bis es in Stücke zerbarst. Er warnte und warnte immer wieder vor den Klippen, auf die es zusteuerte, aber Israel hörte nicht. Bis zum letzten Augenblick gebrauchte ihn Gott, um ihnen ihren traurigen Zustand zum Bewusstsein zu bringen, aber ohne Erfolg. Selbst nach der Gefangennahme von Juda und Benjamin verweilte er unter dem im Land verbliebenen Überrest, aber nur, um unter ihm dieselbe Widerspenstigkeit zu finden, dieselbe Entschlossenheit, sich ins Verderben zu stürzen.

Das Wort des HERRN geschah zu Jeremia vom 13. Jahr der Regierung Josias an. Das war eine Epoche der Segnung, der Erweckung. Im 18. Jahr feierte das Volk ein Passah, von dem gesagt wurde: «Und es war kein solches Passah in Israel gefeiert worden wie dieses, seit den Tagen Samuels, des Propheten» (2. Chr 35,18). Jeremia hatte gewiss Anteil an dieser Freude.

Wie viel hängt doch davon ab, wie ein Christ seinen Lauf beginnt! Wie leicht lässt sich das Herz von seiner Umgebung formen, ob sie nun verderblich oder gesund sei! Wem das Los gefallen ist, in jungen Jahren Segenszeiten des Hauses Gottes, wo der Heilige Geist in besonderer Weise wirksam ist, mitzuerleben, geniesst Vorteile, die für seine weitere geistliche Entwicklung zum grossen Nutzen sein können. Solcher Art waren also auch die ersten Tage Jeremias. Von Anfang an durfte er an Segnungen teilnehmen, die es seit den Tagen Samuels in Israel nicht mehr gegeben hatte, wenn er dabei auch feststellen musste, dass Juda nicht mit ganzem Herzen zurückgekehrt war, sondern mit Falschheit (Jeremia 3,10).

Aber dann hatte er den Tod Josias zu beklagen. Jene frische Freude war von kurzer Dauer. Zwischen den Freuden der Gemeinschaft und der Treue im Kampf besteht eine enge Verbindung. Schwerlich kann das eine ohne das andere bestehen. Jeremia hatte von den süssen Segensströmen getrunken, die so reichlich geflossen waren, und war daher fähig, die Bitterkeit des Kelches zu kosten, den Israel nun zu trinken hatte.

Das letzte Kapitel vom zweiten Buch der Chronika zeigt, wie hervorragend er als Prophet war: Als Folge davon, dass das Volk seine Worte verachtete, wurde es für eine Zeit weggetan. In jenen Tagen gehörte es gewissermassen zum Dienst Jeremias, die Entscheidung des Falles Judas herbeizuführen. Beim sorgfältigen Lesen wird uns deutlich, mit welch zärtlicher Fürsorge er sich für die damaligen Bedürfnisse des Volkes verwendete, und es ist wunderbar zu sehen, wie durch ihn das Erbarmen Gottes zutage trat. Seine Sorge um das Volk glich der Fürsorge von Eltern, die ein ungehorsames Kind vor dem selbstverschuldeten Unheil bewahren möchten, und, wenn ihnen dies nicht gelingt, immer noch die Herzen und Tränen von Eltern haben, und die Leiden dieses Kindes auf sich nehmen.

Handeln wir im Verkehr mit unseren Geschwistern auch in dieser Weise? Wenn wir bei ihnen Eigensinn und Ungehorsam wahrnehmen, warnen wir sie und machen sie auf die Folgen ihres Tuns aufmerksam. Wenn sie diese Warnungen aber in den Wind schlagen und die Auswirkungen vielleicht sogar schlimmer sind, als wir sie ihnen an die Wand malten, wie ist dann unser Herz so leicht bereit, sich der eigenen Treue zu rühmen, das arme Opfer der eigenen Unbesonnenheit sich selbst zu überlassen und ihm nur zu sagen: «Das hast du dir selbst eingebrockt!» Das Herz Jeremias führte eine andere Sprache: «Wenn ihr aber nicht hört, so wird meine Seele im Verborgenen weinen wegen eures Hochmuts; und tränen wird mein Auge und von Tränen rinnen, weil die Herde des HERRN gefangen weggeführt ist» (Kap. 13,17). Ein solcher Dienst, solche Herzen sind heute von Nöten.

Im Buch dieses Propheten findet sich die Geschichte des jüdischen Überrestes, der nicht aus dem Land weggeführt wurde.1 Der Dienst Jeremias war nicht zu Ende, als die Stadt eingenommen wurde und die Mauern fielen. Ein Herz wie das des Propheten, das treu zu Gott und zu seinem Volk steht, wird immer etwas zu tun haben. Bis die Gerichte Gottes eintrafen, hatte er das Volk gewarnt und zur Buße zu führen gesucht. Kaum waren aber die Gefangenen weggeführt, breitete sich schon ein anderes Feld der Tätigkeit vor ihm aus, und in Kapitel 42 sehen wir ihn vor dieser neuen Aufgabe. Die zerstörende Flut hatte alle weggeschwemmt, unter denen er vorher gedient hatte: Die Könige, die Priester, die Fürsten. Der Tempel war nur noch eine Ruine, die Chaldäer hatten dessen Geräte geraubt und die Herrlichkeit Israels war nicht mehr da.

Wie oft schon haben wir gesehen, dass, wenn ein Dienst offensichtlich abgelehnt wurde, der Diener sich zurückzog. Wenn wir auf ein Ziel hin gearbeitet haben und uns plötzlich, vor aller Augen, alles aus den Händen gerissen wird und alle unsere Mühe umsonst zu sein scheint, so wird das Herz matt und müde. Es konnte im Blick auf die Wirkung seines Dienstes unter dem Volk keinen völligeren Fehlschlag geben als den, auf den das Auge des Propheten schaute. Aber sein Herz blieb trotz alledem unversehrt; er war zu einem neuen Dienst bereit. Der Überrest sammelte sich um ihn; ihr Bekenntnis schien aufrichtig und ihr Herz wahr. Sie sprachen zu ihm: «Lass doch unser Flehen vor dich kommen und bete für uns zu dem HERRN, deinem Gott, für diesen ganzen Überrest – denn wenige sind wir übrig geblieben von vielen, wie deine Augen uns sehen – damit der HERR, dein Gott, uns den Weg kundtue, auf dem wir gehen, und die Sache, die wir tun sollen» (Jer. 42,2.3). Obwohl Jeremia das Menschenherz erfahren hatte, war er, wie früher, zum Helfen bereit. Er antwortete: «Jedes Wort, das der HERR euch antworten wird, werde ich euch kundtun» (Vers 4). Nach zehn Tagen wurde ihm dann die Antwort erteilt (Verse 7-22).

Die Herzen des Volkes neigten zu Ägypten hin. Ägypten hat, trotz all seiner Knechtschaft, für das natürliche Herz eine grosse Anziehungskraft. Der Überrest, müde von den Kämpfen, durch die das Volk hindurchgegangen war, suchte Ruhe für das Fleisch. «Wären wir doch in Ägypten gestorben!», so schrien einst und jetzt die Herzen Israels. Ägypten – ein Bild von der Welt – zieht auch unsere Herzen an; es enthält Dinge, die das Fleisch wertschätzt. Wenn wir diesen fleischlichen Neigungen Raum lassen, ist unsere Sprache ähnlich wie die des Überrestes: «Nein, sondern wir wollen in das Land Ägypten ziehen, wo wir keinen Krieg sehen und den Schall der Posaune nicht hören und nicht nach Brot hungern werden, und dort wollen wir wohnen» (Vers 14). – Vor dieser Ruhe des Todes möge uns der Herr bewahren!

Als die Leute zu Jeremia kamen, um ihn zu bitten, Gott für sie zu befragen, da sagten sie: «Damit der HERR, dein Gott, uns den Weg kundtue, auf welchem wir gehen, und die Sache, die wir tun sollen.» Gott hätte ihnen für jene Tage der Not gewiss alles Nötige geben können. Es gab nie eine Zeit, in welcher der Herr nicht die Menschen segnete, die auf Ihn vertrauten; es gab nie einen Ort, mochte er noch so einsam und verlassen sein, wo Gott den bedrängten Seinen nicht zu Hilfe kommen konnte. Sein Wort lautete: «Wenn ihr in diesem Land wohnen bleibt, so werde ich euch bauen und nicht abbrechen und euch pflanzen und nicht ausreissen; denn es reut mich des Übels, das ich euch getan habe. Fürchtet euch nicht vor dem König von Babel … und ich werde euch Barmherzigkeit zuwenden, dass er sich euer erbarmt und euch in euer Land zurückkehren lässt» (42,10-12).

Aber die Worte des Propheten wurden verachtet, und trotz aller göttlichen Drohungen, die sich erfüllen mussten, wenn sie nach Ägypten zurückkehrten, zogen sie dorthin, ein weiteres Mal widerspenstig gegen den Befehl Gottes. Wiederum stand Jeremia allein. Seine Weissagungen – die Verheissungen des Segens wie auch die Androhungen des Gerichts – vermochten sie nicht abzuhalten, nach Ägypten hinabzugehen. Die Macht des Unglaubens hatte sie so sehr erfasst, dass Jochanan, der Sohn Kareachs, und alle Heerobersten mit dem ganzen Überrest das Land verliessen und auch Jeremia zwangen, mit ihnen nach Ägypten hinabzuziehen.

Doch auch dort hatte er ein Wort Gottes für sie. Sobald das Volk in Ägypten war, verfiel es völlig dem Götzendienst, den es schon im Land begonnen, dann aber wieder für eine Zeit aufgegeben hatte. Wenn wir uns einmal vom Strom mitreissen lassen, so wird er uns viel weiter tragen, als es in unserer Absicht lag. Dieser Überrest hoffte in Ägypten Ruhe zu finden, um nie mehr den Krieg zu sehen, nie mehr die Trompete zu hören und nie mehr Hunger zu leiden, aber infolge seines Abfalls vom HERRN wurde er dort durch Schwert und durch Hunger aufgerieben. In keiner Zeitepoche der Geschichte Israels finden wir einen so verhärteten Seelenzustand wie den, in welchen dieser Überrest hinabsank – siehe ihre Antwort an Jeremia im Kapitel 44,16-19.

Hier sind wir am Ende des Dienstes des Propheten angelangt. Wie hätte nun auch er sagen können: «Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt!» (Jes 49,4).

Wir gingen manchen Segens verlustig, wenn wir über die in diesem Propheten beschriebenen Weg der Gnade Gottes mit seinem Volk nicht nachsännen; tun wir es aber, so müssen wir uns dicht an der Seite Jeremias halten. Andere hatten ihren Dienst in Babylon; Gott gedachte der Seinen, die dort waren. Wenn wir aber diesem Propheten folgen, so lernen wir einmal mehr die unergründliche Gnade kennen, die in Gott ist. Anderseits sehen wir aber auch, wie das Böse im Menschenherzen zunimmt, je mehr Gottes Güte sich offenbart.

Durch wie viele verschiedene Szenen ging dieser Mann Gottes hindurch, von den Tagen Josias an, wo er mit Freuden am Passahfest des teilnahm, bis zu den Tagen der schrecklichen Verwüstung, die er in den Klageliedern in so grosser Trauer beschreibt! – Oh, dass wir mehr solcher Herzen unter uns hätten! «Mit Wasserbächen rinnt mein Auge wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes» (Klgl 3,48).

Wie weiter oben bemerkt, durften andere Knechte Gottes, die nach seinem Willen unter ihrer Generation dienten, die Früchte ihrer Arbeit um sich her erblicken. In keinem von ihnen sehen wir aber ein solch mitfühlendes Herz wie bei Jeremia. Gott hat ihn für diesen Tag aufgespart und ihm ein Herz für diese Aufgabe gegeben – ein Herz, das schwer geprüft wurde, aber über die Wunden Israels weinen konnte. Dieser Prophet war auch der Ausdruck des Herzens Gottes für sein Volk. «Wie sollte ich dich hingeben, Ephraim, dich überliefern, Israel?» (Hosea 11,8); so redete der HERR, und sein Prophet war hier ein Beweis der Gnade Gottes.

Wenn wir auf die Geschichte der Kirche Gottes zurückblicken, so erkennen wir, wie Er sich immer wieder Werkzeuge erweckte, um ihren Bedürfnissen zu begegnen. Der Geist Gottes handelt entsprechend seiner Erkenntnis der vorhandenen Nöte. In den letzten Tagen des Christentums, vor der Entrückung der Gläubigen, wird Gottes Hand im Heranbilden von Herzen nach der Art Jeremias zweifellos freigebig bleiben, um den Bedürfnissen seiner Heiligen zu entsprechen, aber der Abfall wird derart zunehmen, dass das Wirken seiner Knechte, selbst des hingebensten Dieners, in dem grossen Haus der Christenheit kaum eine Spur hinterlassen wird. Je näher wir dem Ende nahen, werden die Schwierigkeiten und die Fruchtlosigkeit des Dienstes zunehmen. Aber keiner soll sich dadurch entmutigen lassen, denn letzten Endes dienen wir «dem Herrn Christus», der als der «gerechte Richter» für den, der «den guten Kampf kämpft» und den Lauf im Glauben vollendet, als Vergeltung die «Krone der Gerechtigkeit» bereit hält (2. Tim 4,7-8).

  • 1Dieser Überrest, der nach der zweiten Wegführung der Juden nach Babylon im Land Juda verblieben war, bestand aus «Geringen, die nichts hatten» (Kap. 39,10). Zu ihnen kehrten dann auch die Heerobersten mit ihren Männern zurück, die vor den Chaldäern ins Innere des Landes geflüchtet waren. Auch die in Moab, Ammon und Edom zerstreuten Juden kamen in das Land Juda zurück (Kap. 40,7-12). Dem Herzenszustand nach glich dieser Überrest einem Korb «sehr schlechter Feigen, die nicht gegessen werden konnten» (Kap. 24).