Wenn wir uns heute etwas mit diesem kurzen Buch im Alten Testament beschäftigen möchten, dann wollen wir dies anhand folgender vier Fragen tun:
- Wer ist der Verfasser?
- An wen sind die Klagelieder gerichtet?
- Was ist die Veranlassung für ihre Niederschrift?
- Was ist das Ziel oder der Zweck dieses Buches?
Der Verfasser
kann aus zwei Gründen nur der Prophet Jeremia sein.
- Er erlebte die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer (Jer 39).
- Einen weiteren Hinweis dafür scheint uns 2. Chronika 35,25 zu geben. Dort wird der Tod des Königs Josia beklagt: «Und Jeremia stimmte ein Klagelied über Josia an. Und alle Sänger und Sängerinnen haben in ihren Klageliedern von Josia geredet bis auf den heutigen Tag, und man machte sie zu einem Gebrauch in Israel. Und siehe, sie sind geschrieben in den Klageliedern.»
Was sagt uns die Heilige Schrift über den Verfasser? Aus Jeremia 1,5 erfahren wir, dass Gott ihn erkannt und geheiligt hatte, ehe er aus dem Mutterschoss hervorkam: «Zum Propheten an die Nationen habe ich dich bestellt.» Er sollte sich nicht vor denen fürchten, zu denen er gesandt wurde, «denn ich bin mit dir, um dich zu erretten, spricht der HERR» (Jer 1,8).
Man hat Jeremia auch schon als den «weinenden Propheten» bezeichnet. Er sollte zum Volk sagen: «Nacht und Tag rinnen meine Augen von Tränen und hören nicht auf, denn die Jungfrau, die Tochter meines Volkes, ist mit grosser Zerschmetterung, mit einem sehr schmerzlichen Schlag zerschmettert» (Jer 14,17). Bereits in Kapitel 13,17 kündigte er an, dass er weinen würde, wenn das Volk wegen des Hochmuts nicht hören würde. Auch in Kapitel 9,1 lesen wir etwas über seine Trauer und Tränen wegen der Erschlagenen der Tochter seines Volkes. Und in Klagelieder 1,16 heisst es: «Darüber weine ich, rinnt mein Auge, mein Auge von Wasser, denn fern von mir ist ein Tröster, der meine Seele erquicken könnte.»
Die Empfänger dieses Buches
Man gewinnt den Eindruck, dass der Verfasser sich an solche richtet, die «des Weges ziehen». Kapitel 1,12: «Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mir angetan worden, mir, die der Herr betrübt hat am Tag seiner Zornglut.»
Denken wir dabei nicht unwillkürlich an die Leiden unseres Herrn Jesus am Kreuz, als «Vorübergehende» Ihn lästerten, indem sie ihre Köpfe schüttelten (Mk 15,29)? In einem Lied heisst es:
- Wie viel Schmerz hast Du erduldet,
wie viel Tränen Du geweint!
Alles das, was wir verschuldet,
lag auf Dir, o Herr, vereint.
Eine Frage an dich, der du dies liest: Gehörst du zu denen, die zweifelhafte Fragen betreffs des Sohnes Gottes haben? Ist dein Weg mit dem Herrn Jesus oder nur so entfernt hinter Ihm her?
Die Veranlassung zur Niederschrift
Wir finden in Gottes Wort sowohl echte als auch unechte Klagen.
So stimmte David ein Klagelied über Saul und Jonathan an, später auch über Abner (2. Sam 1,17; 3,33). Das waren echte, herzbewegende Klagen. Der Herr Jesus klagte und trauerte über Jerusalem: «Als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn du doch erkannt hättest – und wenigstens an diesem deinem Tag –, was zu deinem Frieden dient!» (Lk 19,41.42).
Im Gegensatz dazu finden wir im Neuen Testament auch Hinweise über unechte Klagen und über geheuchelte Trauer. Zum Beispiel berichtet Markus über den Tod des Töchterchens von Jairus: «Er sieht ein Getümmel und wie sie weinten und laut jammerten. Und als er eingetreten war, spricht er zu ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn» (Mk 5,38-40). Eine weitere unechte Klage zeigt uns der Herr in Lukas 7,32: «Sie sind Kindern gleich, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen und sagen: Wir haben euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt, wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint.»
Die Klagelieder Jeremias, der oft über die Sünden seines Volkes weinte, gehören zu den echten Klagen. Jerusalem und Juda befand sich damals in einem überaus traurigen Zustand. Da benutzte Gott die in den Klageliedern zum Ausdruck kommenden Gemütsbewegungen seines Propheten, um zu seinem Volk zu reden. Wir greifen nur einige Verse heraus:
- «Denn der HERR hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Übertretungen» (Klgl 1,5).
- «Jerusalem hat schwer gesündigt, darum ist sie wie eine Unreine geworden» (Klgl 1,8).
- «Ihre Unreinheit ist an ihren Säumen, sie hat ihr Ende nicht bedacht» (Klgl 1,9).
- «Wir, wir sind abgefallen und sind widerspenstig gewesen, du hast nicht vergeben» (Klgl 3,42).
- «Es ist wegen der Sünden seiner Propheten, der Ungerechtigkeiten seiner Priester» (Klgl 4,13).
- «Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr, wir, wir tragen ihre Ungerechtigkeiten» (Klgl 5,7).
Wie macht sich der treue Prophet eins mit fremder Schuld! Das kommt besonders in den Worten zum Ausdruck: «Der HERR ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen» (Klgl 1,18). Hier spricht er als Mund der am Boden zerstörten Stadt Zion in damaliger Zeit. In Kapitel 1,20 sagt er sogar: «Ich bin sehr widerspenstig (oder trotzig) gewesen.»
Ziel und Zweck dieses Buches für uns
Haben die Klagelieder auch uns etwas zu sagen? Ja, ganz bestimmt! – In Kapitel 3,40.41 finden wir drei beherzigenswerte Punkte:
- Prüfen und erforschen wir unsere Wege,
- und lasst uns zu dem HERRN umkehren!
- Lasst uns unser Herz samt den Händen erheben zu Gott im Himmel!
Prüfen und erforschen wir unsere Wege
Wie wichtig ist es für uns, einmal Bilanz zu ziehen. Das tat auch David in Psalm 139,23.24: «Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!»
Lasst uns zu dem HERRN umkehren!
Wenn wir den Herrn bitten, dass Er uns erforsche und prüfe, dann werden wir Licht über unseren eigenen Zustand erhalten. Die Folge wird sein, dass wir einsehen, dass wir zu Ihm umkehren müssen. Die Versammlung in Ephesus hatte vom Herrn in vieler Hinsicht ein gutes Zeugnis erhalten. Doch Er musste sie zur Buße auffordern: «Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tu Buße und tu die ersten Werke» (Off 2,4.5). Also lasst uns zum Herrn umkehren!
Lasst uns unser Herz samt den Händen erheben zu Gott im Himmel!
Nachdem wir Bilanz gezogen haben, indem wir uns in der Gegenwart des Herrn unser eigenes Herz zeigen liessen und dann zu Ihm umkehrten, werden wir mit Dankbarkeit unser Herz und unsere Hände betend zu Gott erheben. «Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit» (1. Joh 1,9). In der Folge werden wir wunderbare Erfahrungen machen: «Dies will ich mir zu Herzen nehmen, darum will ich hoffen: Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind, denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende, sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist gross. Der Herr ist mein Teil, sagt meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen» (Klgl 3,21-24).
Einige Merkmale der Klagelieder
In der Elberfelder-Übersetzung wird in den Fussnoten zu Kapitel 1,1; 3,1; 4,1 und 5,1 auf Besonderheiten der Verseinteilung in diesem Buch hingewiesen. In einer Tabelle zusammengefasst, sehen diese Besonderheiten im hebräischen Text wie folgt aus:
Lied | Anzahl Zeilen pro Strophe | In alphabetischer Reihenfolge | Ausnahmen |
1 2 3 4 5 | 3 3 3 2 2 | 1. Zeile 1. Zeile alle Zeilen 1. Zeile – | 1,7 2,11 – – 5,1-22 |
Alle fünf Lieder weisen je 22 Strophen auf, d.h. so viele wie Buchstaben im hebräischen Alphabet.
Diese besondere Lied- und Verseinteilung der Klagelieder unterstreicht die wörtliche Inspiration auch dieses Teiles der Heiligen Schrift. Und lässt uns das nicht an den Herrn Jesus denken, der gesagt hat: «Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende» (Off 22,13)?
Wenn wir der Reihe nach die einzelnen Kapitel dieses Buches durchgehen, erkennen wir die Gefühle des über den Zustand des Volkes trauernden und weinenden Propheten. Er sieht alles im Licht Gottes. Er anerkennt Ihn als HERRN. Diesen Titel finden wir wiederholt in Kapitel 2. Ausserdem noch in Kapitel 3,31-33, wo es heisst: «Der Herr verstösst nicht auf ewig, sondern wenn er betrübt hat, erbarmt er sich nach der Menge seiner Gütigkeiten. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschenkinder.»
Wo liegt der Ursprung der vielen Gütigkeiten Gottes? Beim Heiland-Gott! «Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien, errettete er uns, nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit» (Tit 3,4.5). «Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte und Geduld und Langmut und weisst nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet?» (Röm 2,4).
So dürfen wir Gläubige aller Güte Gottes rühmend gedenken, wie es hier in den Klageliedern der Prophet Jeremia tat. Mit David können wir sagen: «Ich will frohlocken und mich freuen in deiner Güte, denn du hast mein Elend angesehen, hast Kenntnis genommen von den Bedrängnissen meiner Seele. – Wie gross ist deine Güte, die du aufbewahrt hast denen, die dich fürchten, gewirkt für die, die Zuflucht zu dir nehmen angesichts der Menschenkinder!» (Ps 31,8.20).