Von Gott verlassen

Psalm 22,2; Matthäus 27,46

«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Ps 22,2; Mt 27,46).

1) Einleitung

Dieser Ausruf des unsäglich leidenden Heilands berührt wohl jeden Gläubigen zutiefst. David als Verfasser des 22. Psalms hat ihn niedergeschrieben, obwohl er selbst keine vergleichbare Erfahrung machen musste. Er tat es als Prophet (Apg 2,30).

Unser Herr hat diese Worte am Kreuz «mit lauter Stimme» ausgerufen, ja, Er hat aufgeschrien (Mt 27,46). Sonst lesen wir verschiedentlich, dass Er gerufen hat (Joh 7,37; 11,43). Aber am Kreuz von Golgatha, im Gericht Gottes, war seine Not so gross, dass Er laut aufschrie.

Wir sehen den Herrn Jesus hier als den vollkommenen Menschen, der seine tiefe Not vor Gott ausbreitet. Mit der Hilfe des Herrn und mit tiefster Ehrfurcht wollen wir im Folgenden etwas über diesen notvollen Aufschrei nachdenken. Jedes einzelne Wort hat uns dabei etwas zu sagen.

2) Mein Gott, mein Gott …

In seinem Leben hier auf der Erde war der Herr Jesus wahrer Gott und zugleich wahrer, aber sündloser Mensch. Als der vollkommene Mensch hatte Er bis zum Verlassensein von Gott jeden Augenblick die glückliche Gemeinschaft mit seinem Gott in einer Weise genossen, die wir in ihrer Tiefe – wenn überhaupt – wohl erst im Himmel kennen lernen können. Prophetisch drückt Psalm 22,11b es so aus: «Von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott.» Das Wörtchen «mein» zeigt dabei die tiefe und innige Beziehung, die unser Herr zu seinem Gott hatte. Er war «stets im Gebet» (Ps 109,4). Alles in seinem Leben, auch jedes Leid, das Ihm widerfuhr, ja, sich selbst, «übergab er dem, der gerecht richtet» (1. Pet 2,23).

Und dieser Gott war es, der Ihn, den Reinen und Unschuldigen, für deine und meine Sünden schonungslos richtete. Unser Heiland hat erfahren müssen, dass es «furchtbar ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen» (Heb 10,31).

Das hat Er getan, um dich und mich zu erretten. Damit wir nicht in die ewige Verdammnis, in den Feuersee, kämen, hat Er «die Strafe zu unserem Frieden» auf sich genommen (Jes 53,5). Berührt das eigentlich noch unsere Herzen? Sind wir uns wirklich noch bewusst, dass wir an dieses Kreuz, in dieses schreckliche Gericht Gottes, gehört hätten? Möchten wir Ihm täglich für sein Sterben am Kreuz danken, ohne es je zu vergessen.

3) Mein Gott, mein Gott, warum …

Der Herr Jesus hat diese Frage nicht ausgerufen, weil Er die Antwort nicht wusste, denn Er selbst gibt sie im vierten Vers von Psalm 22: «Doch du bist heilig, der du wohnst bei den Lobgesängen Israels.» Wenn jemals ein Mensch das volle Bewusstsein der Heiligkeit Gottes hatte, dann war Er es. Selbst Gott und Mensch in einer Person, hatte Er über die Sünde und ihre Abscheulichkeit das gleiche Urteil und Empfinden wie der Richter. Weshalb dann diese Frage nach dem Warum? Wir wollen darauf nochmals zurückkommen.

4) Mein Gott, mein Gott, warum hast …

In Gethsemane war es noch anders. Da waren es seine vorempfundenen Leiden, die unseren Herrn so belasteten, dass durch die Vorstellung des Kreuzes mit all seinen Schrecken – vor allem der Kelch des Zorns Gottes über die Sünde – sein Schweiss wurde «wie grosse Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen» (Lk 22,44). Doch damals war es noch nicht eingetroffene Wirklichkeit.

Jetzt, am Kreuz hängend, von bohrenden körperlichen Schmerzen gequält, muss Er erfahren, dass Gott Ihn in den drei Stunden der Finsternis wirklich verlässt! Wie bitter für Ihn, der bis zu diesem Augenblick ununterbrochene Gemeinschaft mit seinem Gott genossen hatte!

  • Dann, in jenen finstern Stunden,
    ehe der Geliebte starb,
    war’s die tiefste seiner Wunden,
    dass dein Antlitz sich verbarg.
    Und Er rief – Du bliebest stumm,
    kehrtest Dich zu Ihm nicht um:
    Dass wir nicht als Sünder sterben,
    musste Er «zur Sünde» werden.

5) Mein Gott, mein Gott, warum hast du …

Der Weg unseres Herrn wurde zunehmend einsamer. Zuerst lesen wir, dass «viele von seinen Jüngern zurückgingen und nicht mehr mit ihm wandelten». Dann stellt der Herr Jesus die herzerforschende Frage: «Wollt ihr etwa auch weggehen?» (Joh 6,66.67). Es hat Ihn tief getroffen, dass viele seiner Jünger sich von Ihm abwandten.

Später heisst es in Matthäus 26,56: «Da verliessen ihn die Jünger alle und flohen.» Nicht zwei oder drei – nein, alle Jünger! Was für ein Schmerz für das Herz unseres Herrn. Die letzten 24 Stunden seines Lebens war Er – was Menschen betrifft – mit seinen inneren Nöten absolut allein gelassen: «Ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden» (Ps 69,21). Zwar standen bei seinem Kreuz noch vier der Seinen. Doch nicht sie gaben Ihm Trost, sondern Er tröstete sie. Bis zuletzt dachte Er nicht an sich selbst, sondern an die anderen.

Aber dann kam das Schwerste. Bis zu den drei Stunden am Kreuz, wo es finster wurde, genoss der Herr Jesus die Gemeinschaft mit seinem Gott. Prophetisch in den Psalmen ausgedrückt, sagte der wahre und abhängige Mensch Jesus Christus: «Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir! – Ich habe den HERRN stets vor mich gestellt, weil er zu meiner Rechten ist, werde ich nicht wanken» (Ps 16,1.8). Aber in den drei Stunden des göttlichen Gerichts wurde Ihm auch das noch genommen: die Gemeinschaft mit seinem Gott.

Wir können es uns nicht vorstellen, was das für unseren Heiland bedeutete: Sein Gott hatte Ihn verlassen!

6) Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich …

In Psalm 37,25 äussert David eine bemerkenswerte Feststellung: «Nie sah ich den Gerechten verlassen.»

Und jetzt hing der Gerechte am Kreuz und musste so schrecklich unter dem Gericht Gottes für fremde Schuld und Sünde leiden. Er, der wohl tuend und heilend über diese Erde gegangen war, der «allezeit das Gott Wohlgefällige» getan hatte, Er wurde verlassen (Apg 10,38; Joh 8,29). Pilatus und seine Frau, Herodes, der Verräter Judas, der Hauptmann beim Kreuz, die Apostel Paulus, Petrus und Johannes: Sie alle bezeugen uns bis heute eindrucksvoll: Unser Herr war schuld- und sündlos (Joh 18,38; 19,4; Mt 27,19; Lk 23,15; Mt 27,4; Lk 23,47; 2. Kor 5,21; 1. Pet 2,22; 1. Joh 3,5). Und doch war Er es, der von Gott so schwer gestraft und verlassen wurde.

7) Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?

Wir haben uns bereits daran erinnert, wie der Herr Jesus immer einsamer wurde. Unter dieser Einsamkeit hat Er sehr gelitten. Psalm 102,8 sagt uns: «Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.» In seinem Innern empfand der Herr Jesus zutiefst, dass da kein Tröster war, keiner, der mitlitt (Ps 69,21).

Aber was war das im Vergleich zu dem Verlassensein von Gott? Keine Stärkung mehr vom Himmel, ganz allein auf sich gestellt, ohne jeden Zuspruch vonseiten seines Gottes, ja, von Diesem selbst geschlagen, hing unser Heiland an dem Kreuz in der Mitte! Drei Stunden lang quälte Ihn dieses Verlassensein von seinem Gott, ehe Er ausrufen konnte: «Es ist vollbracht!», sein Haupt neigte und den Geist in die Hände des Vaters übergab.

8) Noch einmal: Warum?

Wir haben uns gefragt, weshalb der Herr Jesus diese Frage ausrief.

Hat Er diese Frage vielleicht auch wegen dir und mir gestellt? Wenn Er auch zu Gott rief in seiner unendlich grossen Not, richtet sich dieses «Warum?» möglicherweise an unser Herz. Will Er nicht dich und mich fragen: Weisst du, weshalb ich diese Frage an meinen Gott richtete? Wenn wir seinen notvollen Aufschrei einmal aus dieser Perspektive betrachten, trifft das unser Herz bis ins Innerste.

Es war meiner Sünden wegen, dass der Herr Jesus in dieses göttliche Gericht kommen musste. Weil ich so viel Böses getan, gedacht, gesagt habe – deshalb musste Er so schrecklich leiden.

Sollte sich dieses «Warum?» nicht mehr und mehr in dein und mein Herz und Gewissen einprägen? Wenn wir diese Szene mehr vor unserem inneren Auge hätten und sie bewusster in unser Inneres eindringen liessen, was für eine heiligende Wirkung hätte dies für unser praktisches Leben als Kinder Gottes! Lasst uns Ihn deshalb mehr in dieser Weise anschauen, Ihn, der uns so geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat (Gal 2,20).