Psalm 62 ist ein Psalm, der schon viele Glaubende ermutigt und gestärkt hat. Sein grosses Thema ist das Vertrauen auf Gott. Es wird nicht berichtet, in welcher Lebenssituation David diesen Psalm gedichtet hat. Aber es könnte sein, dass es während seiner Flucht vor seinem Sohn Absalom war, der ihn «von seiner Höhe» (V. 5), von seinem Königsthron, stossen wollte.
Prophetisch zeigt dieser Psalm etwas von den Empfindungen des zukünftigen gläubigen Überrests aus Israel, der in schweren Tagen auf seinen Gott vertraut und still auf seine Rettung wartet. Als Gläubige in der Zeitperiode der Gnade befinden wir uns in anderen Umständen als David oder der jüdische Überrest in der Zukunft. Dennoch können wir diesem Psalm manche nützliche und Mut machende Belehrung entnehmen.
Der Psalm besteht neben der Überschrift aus drei Strophen, die durch das Wort «Sela» erkennbar voneinander abgegrenzt werden:
- Strophe 1 (Verse 2-5): David vertraut auf Gott und blickt auf sich und seine Feinde.
- Strophe 2 (Verse 6-9): David vertraut auf Gott und richtet seinen Blick auf Ihn.
- Strophe 3 (Verse 10-13): David zeigt, worauf wir nicht vertrauen sollen und beschreibt Gott, auf den wir unser Vertrauen setzen wollen.
Auf den ersten Blick scheinen die Strophen 1 und 2 sehr ähnlich zu sein, während Strophe 3 nicht so recht zu den anderen passen will. Doch bei genauerem Hinsehen werden wir feststellen, dass dem nicht so ist: In den ersten beiden Strophen gibt es wohl Unterschiede und die dritte passt gut in den Zusammenhang des Psalms.
Die Überschrift
Der erste Vers macht deutlich, dass David diesen Psalm für Jeduthun dichtete. Jeduthun war zusammen mit Heman «auserlesen, um den HERRN zu preisen» und leitete die Sänger und Musiker im Volk Israel an (vgl. 1. Chr 16,41.42; 25,1.3.6). Für diesen begabten Sänger verfasste David diesen Psalm, wie auch Psalm 39. Diese Tatsache zeigt, wie schön und gesegnet eine gute Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung im Dienst für den Herrn sind.
Die erste Strophe (Verse 2-5)
David beginnt mit einer beeindruckenden Aussage: «Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung» (V. 2). Er stützt sich ausschliesslich auf seinen Gott und vertraut Ihm still, d.h. in ruhiger Ergebung. Dabei ist er überzeugt, dass sein Gott ihm Rettung aus seinen schwierigen Umständen schenken werde. Ein bekannter Prediger hat zu diesem Vers einmal geschrieben: «Der Glaube ist imstande, sozusagen die Fusstritte der nahenden Erlösung zu hören, weil er gelernt hat, still zu sein.» Still auf Gott zu vertrauen und alles von Ihm allein zu erwarten, fällt uns oft schwer. Daher wollen wir uns durch diese Worte Davids ansprechen lassen, vermehrt unserem Gott zu vertrauen und mit Ihm zu rechnen.
In Vers 3 unterstreicht David, dass er sich «nur», d.h. einzig und allein, auf seinen Gott stützte, und nennt ihn seinen «Fels». Gott war das unerschütterliche Fundament, auf dem sein Leben ruhte. Dann wiederholt er, dass Gott seine Rettung war, und bezeichnet seinen Gott als eine «hohe Festung». Eine stark befestigte Burg hoch oben auf einem Felsen ist ein sicherer Zufluchtsort vor dem Feind. Einen solchen Ort fand David in seinem Gott. Das führt ihn dazu, zu sagen: «Ich werde nicht viel wanken.»
Davids Gott ist auch unser Gott. Wir dürfen wissen, dass Er als der «Fels» unter uns und als die «hohe Festung» um uns herum ist. Welch eine Sicherheit gibt uns das!
In den Versen 4 und 5 blickt David auf sich und seine Feinde. Die Feinde stürmten einerseits mit grosser Macht auf ihn ein (V. 4). Anderseits versuchten sie, ihm durch List und Betrug zu schaden (V. 5). Angesichts dieser Bedrängnisse fühlte sich David in seiner Schwachheit wie eine «überhängende Wand», die beim kleinsten Stoss einzustürzen droht, und wie eine «angestossene Mauer», die bereits umfällt. In solchen Situationen vertraute David voll auf seinen Gott. Wenn der Teufel uns als brüllender Löwe mit Macht oder als listige Schlange betrügerisch angreift (1. Pet 5,8; 1. Mo 3,1), dann haben wir in uns selbst keine Kraft, um ihm zu widerstehen, und fühlen uns oft hilflos und schwach. Aber wir stehen auf der Seite des Stärkeren – auf der Seite des Siegers von Golgatha, mit dessen Hilfe wir dem Teufel widerstehen können (Jak 4,7).
Die zweite Strophe (Verse 6-9)
Die Verse 6 und 7 lauten fast gleich wie die Verse 2 und 3. Doch es gibt kleine, aber bemerkenswerte Unterschiede, die ein gewisses Wachstum in Davids Glaubensleben erkennen lassen.
Der erste Unterschied liegt im Gebrauch des Verbs «vertrauen». Während David in Vers 2 von einer Tatsache spricht (vertraut), formuliert er es in Vers 6 als einen Wunsch (vertraue). Er stützt sich hier sozusagen nicht mehr auf sein eigenes Vertrauen. Stattdessen hat er den Wunsch und die Bitte zu Gott, dass er Ihm wirklich vertrauen möge, und fordert sein Herz dazu auf. Auch wir wollen uns immer wieder ermuntern, uns durch nichts aus der stillen Ergebung unter die Wege Gottes abbringen zu lassen und diesen Zufluchtsort nicht zu verlassen.
Ein zweiter Unterschied besteht in der Einfügung des Wortes «denn» zu Beginn des zweiten Satzteils. Dadurch wird aus der zweiten Vershälfte von Vers 6 eine Begründung, statt der Feststellung einer Tatsache wie in Vers 2. David hat Erfahrungen mit seinem Gott gemacht, die ihn in seinem Vertrauen stärken.
Drittens fällt auf, dass David in Vers 2 sagt, dass seine «Rettung» von Gott kommt, während er in Vers 6 davon spricht, dass seine «Erwartung» von Gott kommt. David denkt nicht mehr nur an eine konkrete Rettung aus einer Notsituation, sondern erwartet alles, was er sich erhofft und was gut für ihn ist, von seinem Gott. Er ist bereit, sich ganz von Gott führen zu lassen. Er weiss, dass er einen grossen Gott hat, von dem er Grosses erwarten kann. Wir kennen diesen grossen Gott als unseren himmlischen Vater. Das ist eine viel engere Beziehung, als David sie kannte. Sollten wir nicht erst recht in einer erwartenden und vertrauenden Haltung unseren Weg gehen? Tun wir es, wird tiefer Frieden unser Herz erfüllen.
Ein vierter Unterschied betrifft die Schlussfolgerung Davids bezüglich des «Wankens». In Vers 3 hat er die Zuversicht, dass er nicht viel wanken wird, aber in Vers 7 sehen wir das uneingeschränkte Vertrauen, dass er nicht wanken wird. Auch hier hat die Erfahrung seinen Glauben weiter gestärkt. Zudem blickt er nicht länger auf sich oder die Feinde, sondern in Vers 8 allein auf seinen Gott. Er preist Den, dessen Hilfe er schon so oft erfahren hat. Sein Heil, seine Herrlichkeit, seine Stärke oder seine Zuflucht – alles schreibt David seinem Gott zu. Zu wissen, dass unser Heil nicht in uns, sondern absolut sicher auf Gott ruht, gibt uns grosse Sicherheit. Er ist es auch, der dafür bürgt, dass wir das Ziel – die Herrlichkeit im Himmel – sicher erreichen werden. Auf dem Weg dorthin können wir Ihn ganz persönlich als unseren Fels der Stärke und unseren Zufluchtsort erfahren. Dann kennen wir diese Tatsachen nicht nur, wir haben sie uns – wie David – ganz persönlich angeeignet.
Als Folge davon können wir auch andere ermuntern, «allezeit», d.h. beständig – in guten und in schweren Zeiten – auf Gott zu vertrauen. So tut es David in Vers 9. Zugleich fordert er sie auf: «Schüttet euer Herz vor ihm aus!» Es ist ein grosses Vorrecht, dass wir jederzeit mit Freimütigkeit zum Thron der Gnade hinzutreten können (Heb 4,16). Dort dürfen wir durch Gebet und Flehen unsere Anliegen vor Gott kundwerden lassen (Phil 4,6). Wie wir dies tun sollen, illustriert David mit einem treffenden Bild. Schüttet man ein Glas Wasser aus, ist es sowohl vollständig leer als auch unwiederbringlich leer. So können und sollen wir alles, was unsere Herzen bewegt, im Gebet vor den Herrn bringen: unsere Sorgen und verborgenen Nöte, unsere Wünsche und Bitten, aber auch jede Sünde. Wenn wir es dann vor dem Gnadenthron ausgeschüttet haben, wollen wir es dort vor Ihm lassen und nicht etwa die Sorgen wieder mitnehmen.
«Gott ist unsere Zuflucht» – mit dieser nochmaligen Erwähnung unseres Zufluchtsortes beschliesst David am Ende von Vers 9 die zweite Strophe dieses Psalms.
Die dritte Strophe (Verse 10-13)
Diese Strophe klingt anders als die beiden ersten. Und doch passt sie gut in diesen Psalm, dessen Thema das Vertrauen auf Gott ist. Denn hier wird uns in den Versen 10 und 11 gezeigt, worauf wir nicht vertrauen sollen. In den Versen 12 und 13 erfahren wir etwas über die Eigenschaften Gottes, damit wir unser Vertrauen mehr auf Ihn setzen.
Auf dreierlei sollen wir nicht vertrauen:
- Nicht auf Menschen (V. 10). Im Vergleich zu Gott, unserem Felsen, sind die Männersöhne leichter als ein Hauch – nichtig und nicht vertrauenswürdig. Der Prophet Jeremia warnt in Kapitel 17,5 mit grossem Ernst vor dem Vertrauen auf Menschen: «So spricht der HERR: Verflucht ist der Mann, der auf den Menschen vertraut und Fleisch zu seinem Arm macht und dessen Herz von dem HERRN weicht!» Demgegenüber sagt er in Vers 7: «Gesegnet ist der Mann, der auf den HERRN vertraut und dessen Vertrauen der HERR ist!» Das wollen wir uns zu Herzen nehmen.
- Nicht auf unlautere Mittel, um Vorteile zu erlangen (V. 11a). Vielleicht sind wir auf den ersten Blick geneigt, die Worte zu Beginn von Vers 11 als nicht relevant für uns abzutun. Mit Erpressung und Raub haben wir doch nichts zu tun! Wenn der Herr uns bisher bewahrt hat, solche Sünden zu begehen, wollen wir Ihm dafür danken. Aber neigen wir nicht manchmal dazu, uns durch den Einsatz unlauterer Mittel Vorteile zu verschaffen? Das Ausüben von Druck in einer «Ellenbogengesellschaft», der «Raub» von Arbeitszeit, von Steuern oder von Anerkennung, die anderen zustehen, seien hier nur als Beispiele genannt.
- Nicht auf Reichtum (V. 11b). Auch auf Geld und Vermögen sollen wir nicht vertrauen. Gottes Wort verurteilt Reichtum nicht, wohl aber das «Reich-werden-Wollen» und die «Geldliebe» (1. Tim 6,9.10) sowie das Vertrauen auf den Reichtum. Salomo sagt dazu in Sprüche 23,4.5: «Bemühe dich nicht, reich zu werden, lass ab von deiner Klugheit. Willst du deine Augen darauf hinfliegen lassen, und siehe, fort ist es? Denn sicherlich verschafft es sich Flügel wie ein Adler und fliegt zum Himmel.» Auch Paulus fordert dazu auf, nicht «auf die Ungewissheit des Reichtums Hoffnung zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich darreicht zum Genuss» (1. Tim 6,17). Wenn wir in Hebräer 13,5.6 zu einem Wandel ohne Geldliebe aufgefordert werden und auch dazu, uns mit dem zu begnügen, was vorhanden ist, dann wird das damit begründet, dass der Herr unser Helfer ist, der uns nicht versäumen und nicht verlassen wird. So wollen wir unser Vertrauen auf Ihn setzen!
David schliesst diesen Psalm, indem er auf drei Eigenschaften unseres Gottes hinweist, dem wir voll vertrauen können:
- Gott ist stark (V. 12). In Bezug auf die Tatsache, «dass die Stärke bei Gott ist», sagt David, dass Gott einmal geredet hat und er selbst dies zweimal gehört hat. Gott ist so unwandelbar, dass ein einziger Ausspruch genügt, um uns einer Sache zu versichern. Doch wenn Gott spricht, tun wir gut daran, es «zweimal» zu hören, es mit unseren Ohren und in unsere Herzen aufzunehmen und daran festzuhalten. Die Stärke Gottes hat sich einst machtvoll gezeigt, als Er das Volk Israel aus Ägypten befreite. Es wird sogar wiederholt davon gesprochen, dass Er dies «mit starkem Arm» getan hat (z.B. 5. Mo 26,8; Jer 32,21; Dan 9,15). Auf diesen starken Gott stützte sich David voll Vertrauen. In 2. Samuel 22,33 sagt er: «Gott ist meine starke Festung, und er lenkt vollkommen meinen Weg.» Dieser Gott ist bis heute unverändert stark und will auch uns stärken. «Im Übrigen, Brüder, seid stark im Herrn und in der Macht seiner Stärke» (Eph 6,10).
- Gott ist gütig (V. 13a). Der starke Gott ist auch ein guter Gott. Vielfach wird in den Psalmen von seiner Güte gesprochen. David selbst hatte sie Zeit seines Lebens in reichem Mass erfahren. Wiederholt erwähnt er die Güte Gottes, wenn er daran denkt, dass Gott seine Zuflucht und Festung ist (z.B. Ps 31,20; 36,8; 59,18; 144,2). Auch wir verdanken der Güte Gottes so viel. Sie ist es, die uns zur Buße geleitet hat (Röm 2,4) und durch die wir errettet worden sind (Tit 3,4). In der Zukunft wird Gott den «überragenden Reichtum seiner Gnade in Güte an uns erweisen in Christus Jesus» (Eph 2,7).
- Gott ist gerecht (V. 13b). Was die Güte Gottes betrifft, müssen wir beachten, dass Er diese nie auf Kosten seiner Gerechtigkeit ausübt. An manchen Stellen wird die Güte Gottes zusammen mit seiner Gerechtigkeit genannt. Hier zeigt David die Gerechtigkeit Gottes an der Tatsache, dass Gott jedem nach seinem Werk vergilt – sei es gut oder böse. Für David war dies ein tröstlicher Gedanke. Für uns kann es ebenfalls so sein. Auch die Hebräer, die durch manche Schwierigkeiten gingen, wurden mit diesem Gedanken ermuntert: «Gott ist nicht ungerecht, euer Werk zu vergessen und die Liebe, die ihr für seinen Namen bewiesen habt, da ihr den Heiligen gedient habt und dient» (Heb 6,10).
Lohnt es sich nicht, einem solchen Gott in guten und schweren Zeiten still zu vertrauen? Davids Beispiel will uns dazu motivieren.