Liebe und Erkenntnis

1. Korinther 13,1-13

Das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes ist mit Recht das «Hohelied der Liebe» genannt worden. In zu Herzen gehenden Worten beschreibt der Apostel Paulus das Wesen wirklicher christlicher Liebe, wie wir sie in Vollkommenheit im Leben des Herrn Jesus dargestellt und ausgelebt finden. In den ersten drei Versen stellt der Apostel diese Liebe anderen Eigenschaften und Tugenden gegenüber, die nach menschlichen Beurteilungskriterien ebenfalls einen hohen Wert haben mögen und worauf die Korinther vielleicht sehr stolz waren.

Im Vergleich zur Liebe sind diese Eigenschaften und Fähigkeiten (wie z.B. das Reden in Sprachen, das Hingeben des Körpers für andere) ohne die Liebe jedoch wertlos. Die dreimalige Wiederholung des Ausdrucks «aber nicht Liebe habe» zeigt dies deutlich (V. 1.2.3).

In Vers 2 geht es um Erkenntnis. Wir lesen: «Wenn ich alle Erkenntnis weiss, … aber nicht Liebe habe, so bin ich nichts.» Diese Erkenntnis könnten wir als «Kopfwissen» bezeichnen. Es ist nicht die von Gott gewirkte Erkenntnis, von der wir an anderen Stellen lesen und in der wir wachsen sollen (vergleiche z.B. 2. Petrus 1,8 und 3,18), sondern das verstandesmässige Erfassen und Begreifen von biblischen Wahrheiten. Damit soll durchaus nicht gesagt werden, dass wir bei der Beschäftigung mit Gottes Wort unseren Verstand ausschalten sollen (das Gegenteil ist der Fall). Eine gute Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis sind ja eine Gabe des Schöpfers, für die wir dankbar sein sollten. Aber wir dürfen den Verstand nicht überbewerten und in den Mittelpunkt stellen. Der Verstand des Menschen kann, wenn es um biblische Wahrheiten geht, niemals mehr als ein Tor oder Kanal sein. Entscheidend ist, wie unser Herz miteinbezogen ist. Deshalb spricht Paulus in Epheser 1,18 nicht von den erleuchteten Augen des Verstandes, sondern von den «erleuchteten Augen eures Herzens».

Gottgemässe Erkenntnis führt immer dazu, dass unsere Herzen brennend für den Herrn werden und wir Ihn mehr lieben. So war es z.B. bei den Emmaus-Jüngern, deren Herzen brennend wurden, nachdem der Herr ihnen die Schriften geöffnet hatte (Lk 24,32).

Vergleichen wir nun einmal kurz die verstandesmassige Erkenntnis mit der Liebe, und wir werden sehen, was das Vorzüglichere ist.

Zu welchem Ergebnis führt die Erkenntnis? Was bewirkt die Liebe?

In 1. Korinther 8,1 werden die Ergebnisse von Liebe und Erkenntnis einander gegenübergestellt. «Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber erbaut.» Nehmen wir als Beispiel einen schönen, bunten, aufgeblasenen Luftballon, mit dem ein Kind spielt und an dem es seine helle Freude hat. Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Der Luftballon ist geplatzt und in der Hand des jetzt traurigen Kindes bleiben nur noch ein paar unansehnliche Fetzen zurück. So ist verstandesmässige Erkenntnis. Nach aussen sieht alles sehr schön und positiv aus. Doch es ist eine Hülle ohne Substanz, ohne Wert für Gott. Wirkliche Liebe hingegen erbaut, d.h. sie basiert auf einem Fundament und bringt uns näher zum Herrn Jesus. Sie ist mit einem Gebäude zu vergleichen, das auf einem festen Grund ruht und durch äussere Einflüsse nicht erschüttert wird.

Welches Ziel verfolgt die Erkenntnis? – Was sucht die Liebe?

Die Tatsache, dass uns die Liebe näher zu unserem Herrn bringt, führt uns zu den unterschiedlichen Gegenständen von Erkenntnis und Liebe. Bei der Erkenntnis geht es um eine Sache, bei der Liebe um eine Person. Verstandesmässige Erkenntnis sucht die Wahrheit der Bibel intellektuell – vielleicht sogar wissenschaftlich – zu begreifen und zu erfassen. Ein solches Beschäftigen mit der Wahrheit mag Licht bringen, aber es bleibt in jedem Fall kaltes Licht. Gottgemässes Aufnehmen der biblischen Wahrheit hingegen sucht immer zuerst die Person des Herrn Jesus. In Epheser 3,17.18 wird uns als Voraussetzung für das Erfassen des Ratschlusses Gottes die Tatsache vorgestellt, dass der Christus in unseren Herzen wohnt und wir in Liebe gewurzelt und gegründet sind. Das ist wirkliches, geistliches Wachstum. Deshalb sollten wir uns bei der Beschäftigung mit der Lehre – die wichtig ist – immer die Frage stellen, in welcher Beziehung Christus zur Wahrheit steht, mit der wir uns gerade beschäftigen. Ohne Ihn bleiben selbst die höchsten Wahrheiten ohne echten Einfluss auf unser Herz und Leben.

Welche Auswirkungen hat die Erkenntnis? – Wohin führt die Liebe?

Wir können die Erkenntnis in gewissem Sinn «lernen», ohne selbst dabei angesprochen zu werden. So war es bei den Pharisäern. Sie kannten das Alte Testament gut, ohne dass es einen Einfluss auf ihr Inneres gehabt hätte. Bei der Liebe ist es anders. Je mehr wir in Liebe gewurzelt und gegründet sind, umso mehr wird das in unserem Leben sichtbar werden. Wir versenken uns in die Liebe, und gleichzeitig werden wir durch die Liebe verändert. Eine solch wechselseitige Beziehung kennt die reine Erkenntnis nicht.

Schliesslich kann man es in der Erkenntnis zu einer gewissen «Perfektion» bringen. Vielleicht bleiben wir keiner Frage über Gottes Wort eine Antwort schuldig. Und doch gilt Gottes Urteil: «So bin ich nichts.» Erkenntnis ohne Liebe bringt mich nicht weiter. Gott sieht das Herz. Er möchte unsere Herzen brennend für Ihn machen, der uns so sehr liebt. Maria Magdalene war eine Frau mit wenig Erkenntnis, aber mit viel Liebe. Die Jünger mochten viel mehr wissen als sie, aber in der entscheidenden Stunde war Maria da, wo sie ihren Herrn zu finden glaubte. Die Jünger suchen wir dort vergeblich. Marias Liebe zu Ihm war überströmend, und deshalb war gerade sie es, die die gewaltige Botschaft des Auferstandenen hörte: «Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und meinem Gott und eurem Gott» (Joh 20,17).

Unsere tägliche Bitte zum Herrn sollte deshalb sein, dass unsere Herzen Ihm in Liebe entgegenschlagen und dass wir in der Liebe wachsen. Dieser Wachstumsprozess wird nicht zu Ende kommen, solange wir auf der Erde sind. Den Thessalonichern konnte Paulus bestätigen, dass Bemühungen der Liebe vorhanden waren, und doch schreibt er ihnen auch, dass sie «reichlicher zunehmen sollten» (1. Thes 1,3; 4,10). Wenn es so ist, dann schenkt Gott ohne Zweifel eine wachsende, gottgemässe Erkenntnis seiner Wahrheit und vor allem der Person seines geliebten Sohnes, unseres Herrn.