Liebe – die Liebe des Christus – ist das grosse Thema des Hohenliedes. Unter dem Bild des Bräutigams und der Braut redet es von all den herzlichen Zuneigungen, die Christus in den Herzen der Seinen entfachen will. Gibt es etwas Wichtigeres, als dass unsere Zuneigungen auf Ihn gelenkt und unsere Empfindungen für Ihn geweckt werden? Wie oft klagen wir darüber, dass so wenig Liebe unter dem Volk Gottes vorhanden sei. Aber redet das nicht gleichzeitig von wenig Liebe zum Herrn selbst? Und wenn so wenig Liebe zu ihm empfunden wird, liegt die Ursache nicht in der mangelhaften und schwachen Wertschätzung seiner Liebe zu uns? Das Mass unserer Liebe und Zuneigung zum Herrn entspricht dem Mass unseres Geniessens seiner Liebe zu uns. Hier liegt der grosse Wert des Liedes der Lieder. Es will unsere Liebe zu unserem Herrn wecken und vertiefen, indem es uns Seine Liebe enthüllt und gross macht.
Einführung
Vers 1. Das Lied der Lieder, von Salomo.
Christus ist das grosse Thema der ganzen Heiligen Schrift, und der Heilige Geist zeigt uns in ihren verschiedenen Teilen besondere Merkmale von Christus und seinen Herrlichkeiten. Hier, im Hohenlied, ist sein Hauptanliegen, die Liebe des Christus zu den Seinen vorzustellen.
Als Vorbild für diese Liebe hat der Geist Gottes die Beziehung zwischen Bräutigam und Braut benützt. In einer Reihe von Liedern wird uns die Liebe eines erhabenen Bräutigams zu einer Braut von niedriger Abstammung gezeigt, und gleichzeitig folgen wir den verschiedenen Erfahrungen, durch die sie in die volle Gemeinschaft mit ihm und in den Genuss seiner Liebe gebracht wird.
Der Bräutigam ist ein König namens Salomo oder Schelomo. Die Braut ist eine Hirtin namens Sulamith (= weibliche Form von Schelomo).
Das Hohelied besteht zur Hauptsache aus einer Reihe von Zwiegesprächen zwischen dem Bräutigam und der Braut. Es werden aber noch andere Personen eingeführt, zum Beispiel reden gelegentlich die Töchter Jerusalems; auch haben wir die Stadtwächter, die Wächter der Mauern und die kleine Schwester. Aber diese Personen beteiligen sich kaum oder gar nicht an den Zwiegesprächen.
Im Verlauf dieser Zwiegespräche wird uns zuerst die unendliche und unveränderliche Liebe des Bräutigams entfaltet. Zweitens sehen wir die Entwicklung und das Wachstum der Liebe der Braut und wie sie in die Beziehung zum Bräutigam eingeführt wird, sich seiner Liebe erfreut und aus ihrer niedrigen Stellung erhoben wird, um den Thron mit dem König – ihrem erhabenen Bräutigam – zu teilen.
Es wird kaum jemand infrage stellen, dass wir im Bräutigam ein Vorbild von Christus haben. Vielleicht haben einige etwas Schwierigkeiten mit der Bedeutung der Braut. Es kann aber wenig Zweifel bestehen. dass die Braut als ein Bild von Gottes irdischem Volk Israel (oder genauer vom gottesfürchtigen Überrest der Juden in der Zukunft, der Israel darstellen wird) gebraucht wird, und von den Erfahrungen, durch die es schliesslich in die Beziehung mit seinem Messias eingeführt wird.
Der Bräutigam und die Braut sind Vorbilder, die von den Propheten häufig gebraucht werden, um diese Beziehung aufzuzeigen. Der Prophet Jesaja kann im Blick auf diese Zeit sagen: «Wie der Bräutigam sich an der Braut erfreut, so wird dein Gott sich an dir erfreuen» (Jes 62,5). Wenn der Herr durch den Propheten Hosea spricht und die zukünftige Wiederherstellung Israels sieht, äussert Er die ergreifenden Worte: «Ich werde sie locken und sie in die Wüste führen und ihr zum Herzen reden», und dann, nachdem ihre Zuneigungen geweckt worden sind, kann Er zu ihr sagen: «Ich will dich mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue; und du wirst den HERRN erkennen» (Hosea 2,16.21.22). Im Hohenlied sind es gerade diese Wüstenerfahrungen, durch die der Herr zum Herzen seines Volkes spricht, die nun im Vorbild an uns vorüberziehen.
Während sich die Propheten jedoch hauptsächlich mit den Gewissensübungen befassen, durch die der gottesfürchtige Überrest der Juden zur Buße darüber geführt wird, dass sie ihren Messias verworfen und gekreuzigt haben, ist es diesem einen Buch – dem Hohenlied – vorbehalten, ihre Herzensübungen vorzustellen und das Erwecken ihrer Zuneigungen durch die Entfaltung der hingebungsvollen Liebe des Christus – der Liebe, die sie einst verschmäht hatten.
Um diese Auslegung anzunehmen, ist es nötig, mit der zukünftigen Geschichte Israels, wie sie in den alt- und neutestamentlichen Prophezeiungen dargelegt wird, etwas vertraut zu sein. Dort lernen wir, dass die Juden im Unglauben in ihr Land zurückkehren werden, in der Hoffnung, dadurch Befreiung von Unterdrückung und Ruhe von Verfolgung zu finden. In der Folge werden sie aber in eine Bedrängnis kommen, wie es sie nie zuvor seit ihrem Bestehen als Volk gegeben hat, und nie wieder geben wird. Die nördlichen Mächte werden sie von aussen bedrängen, und «das Tier» (Off 13,4) wird sie von innen unterdrücken. Nachdem sie Christus verworfen haben, werden sie die Regierung des Antichristen annehmen, der unter Missachtung des Gottes seiner Väter einen «Gott, den seine Väter nicht gekannt haben», einsetzen wird. Mit dem «Gräuel der Verwüstung», der an heiligem Ort stehen wird, werden sie in den ärgsten Götzendienst verfallen, so dass ihr letzter Zustand schlimmer sein wird als der erste.
Aber inmitten der abgefallenen Nation wird es einen Überrest geben, in dem der Geist Gottes wirken wird. Dieser Überrest wird um des Namens Christi willen, den sie bekennen, von allen Völkern bedrückt und gehasst werden, und viele von ihnen werden getötet werden. Wegen diesen Verfolgungen werden manche Anstoss nehmen, und die Liebe vieler wird erkalten. Aber Gott wird zu ihren Gunsten eingreifen, und ihretwegen werden die Tage der grossen Drangsal abgekürzt werden.
Dieser Überrest nun ist es, der im Hohenlied im Bild der Braut vor uns steht, und ebenso der Weg, auf dem Gott inmitten all ihrer Trübsal zu ihren Herzen reden und ihre Zuneigungen aufwecken wird.
Wenn dies auch die strikte Auslegung des Hohenliedes ist, so schmälert das doch keineswegs die Anwendung auf die Versammlung – die himmlische Braut – oder auf den einzelnen Gläubigen. Denn im Handeln Gottes mit all den Seinen gibt es gemeinsame Grundsätze. Jemand hat über das Hohelied gesagt: «Christus liebt seine Versammlung, Er liebt sein irdisches Volk, Er liebt die Seele, die Er zu sich zieht. Daher enthält es eine moralische Anwendung für uns, die sehr wertvoll ist.» Es ist diese moralische Anwendung auf den einzelnen Gläubigen, die wir in der nachfolgenden Betrachtung hauptsächlich im Auge haben.
Das Hohelied kann in sechs Lieder eingeteilt werden, deren Themen wie folgt zusammengefasst werden können:
- Lied: Die Zusicherung der Liebe (Kapitel 1,2 –2,7)
- Lied: Das Aufwecken der Liebe (Kapitel 2,8-3,5)
- Lied: Die Gemeinschaft der Liebe (Kapitel 3,6-5,1)
- Lied: Die Wiederherstellung der Liebe (Kapitel 5,2-6,12)
- Lied: Das Zeugnis der Liebe (Kapitel 7,1-8,4)
- Lied: Der Triumph der Liebe (Kapitel 8,5-14)
So werden wir sehen, dass Liebe das grosse Thema des Hohenliedes ist – die Liebe des Christus. Anhand der Bilder des Bräutigams und der Braut redet es von all jenen Zuneigungen, die Christus in den Herzen der Seinen erweckt.
Was könnte wichtiger sein, als dass die Zuneigungen zu Christus angefacht werden! Wir beklagen uns oft, dass unter den Gläubigen so wenig Liebe vorhanden sei. Aber das beweist leider, dass wenig Liebe zum Herrn selbst vorhanden ist. Und wenn wenig Liebe zu Ihm da ist, kommt dies nicht daher, dass die Liebe des Herrn zu uns zu wenig geschätzt wird? Das Mass unserer Liebe zum Herrn entspricht dem Mass des Bewusstseins seiner Liebe zu uns. Darin liegt der grosse Wert des Hohenliedes. Es erweckt unsere Liebe durch das Entfalten seiner Liebe. Es gibt in der Schrift noch andere Lieder: Lieder zum Preis der Schöpfung, Siegeslieder und Lieder zum Lob und Dank; aber das Thema dieses Liedes ist Liebe – die Liebe des Christus – und darum wird es das Hohelied oder das Lied der Lieder genannt.