Der Prophet Habakuk (1)

Habakuk 1

Die Prophezeiung Habakuks unterscheidet sich von anderen Prophezeiungen dadurch, dass sie sich nicht direkt an Israel oder an die Nationen richtet und dass keine genaue Zeitangabe erwähnt wird, wann die Weissagung gegeben wurde. Es wird jedoch klar, dass Habakuk in einer Zeit lebte, in der das Volk Gottes völlig versagt hatte. Als Folge davon lastete Gottes Hand entsprechend seinen Regierungswegen im Gericht auf seinem Volk.

Die Prophezeiung ist in Form eines Zwiegesprächs zwischen dem Propheten und Gott abgefasst. Darin wirft der Prophet, erschüttert in seinem Geist durch all das Versagen unter dem Volk Gottes, seine Last auf Ihn. Er erfährt, dass er in seiner Not nicht nur durch den Herrn aufrechterhalten wird, sondern dass er dazu geführt wird, in Ihm zu frohlocken und auf den Höhen einherzuschreiten (Ps 55,23; Hab 3,18.19).

Kapitel 1

Verse 1-4. In den Anfangsversen lernen wir die Seelennot des Propheten kennen, wenn er dem Herrn den tiefen geistlichen Zustand des Volkes Gottes bekennt. Sein Geist ist erschüttert, nicht nur wegen der Gottlosigkeit der Nationen, sondern wegen des Bösen unter dem Volk Gottes. Gerade unter denen, die durch Güte, Gerechtigkeit, Frieden und Eintracht hätten gekennzeichnet sein sollen, entdeckt er Gewalttat, Verwüstung, Streit und Hader.

Ausserdem muss er feststellen, dass unter dem Volk Gottes keine Kraft vorhanden ist, um gegen das Böse zu handeln. Sie versagen darin, das Wort Gottes zu gebrauchen, denn er muss zugeben, dass das Gesetz kraftlos ist und das Recht nicht mehr hervorkommt. Die Gottlosen sind die Bestimmenden. Darum ist jedes Urteil, zu dem sie kommen, falsch oder verdreht.

Ferner macht es, rein äusserlich betrachtet, den Anschein, als ob der Herr den Schrei des Gottesfürchtigen nicht erhören, noch sein Volk von dessen Mühsal erretten würde.

Angesichts all dieser Nöte seufzt der Prophet im Geist, denn Gottes Wort erlaubt wohl einen Seufzer, aber niemals ein Murren (Röm 8,22-27). Zudem seufzt der Prophet vor dem Herrn. Leider besteht bei uns Gläubigen nur zu oft die Neigung, über das Versagen des Volkes Gottes untereinander zu diskutieren, und zwar in einem solchen Geist der Bitterkeit, dass das Seufzen zu einem regelrechten Murren wird, oder zu einem Klagen über das, was Gott in seinem Handeln mit seinem Volk zulässt. Somit können Worte der Klage, die wir gegeneinander äussern, entweder einen verborgenen Geist der Auflehnung gegen Gott verraten, oder ein Versuch sein, uns selbst zu erheben, indem wir andere herabsetzen. Es ist gut, wenn wir diesen Fallstricken entgehen, indem wir den Schmerz unseres Geistes und die Übungen unserer Seele vor dem Herrn ausschütten.

Verse 5-10. In den folgenden Versen haben wir die Antwort Gottes auf den Schrei dieser gequälten Seele. Sie zeigt uns das, was in der Weissagung Habakuks so vorherrschend ist: das Handeln Gottes in seinen Regierungswegen, sowohl mit seinem Volk, das versagt hat, als auch mit einer bösen Welt.

Gott kann dem Bösen gegenüber nicht gleichgültig sein. Wenn sein Volk in einen tiefen moralischen Zustand gefallen ist, so muss Gott es entweder aufgeben oder in Züchtigung mit ihm handeln. Wir leben in der Gnadenzeit; doch die Gnade setzt die Regierung Gottes nicht beiseite. Wie in den Tagen Habakuks, so ist auch heute das Volk Gottes gefallen, und die Versammlung, als ein verantwortliches Zeugnis für Gott, ist ruiniert. Die Folge davon finden wir in 1 Petrus 4,17 erwähnt, wo der Apostel uns erinnert: «Die Zeit ist gekommen, dass das Gericht anfange beim Haus Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen!» Diese Regierung Gottes mag nicht die Form eines direkten Eingreifens annehmen, denn wir haben heute den Tag der langmütigen Gnade Gottes, und Christus wartet, bis seine Feinde als Schemel seiner Füsse gelegt sind. Trotzdem kann Gott dem Bösen gegenüber nicht gleichgültig sein, und es bleibt wahr, dass die Menschen das ernten, was sie säen.

Zur Zeit Habakuks war das Volk Gottes im Verfall begriffen, und die Nationen waren durch Gewalttat und Verderben gekennzeichnet. In all dem Bösen wird der Prophet dazu berufen, das ernste Werk Gottes im Gericht zu sehen. Hinter allem, was die Menschen erlebten, war Gott am Werk, und der Mann Gottes sollte über das Tun des Menschen hinausschauen, um das Werk Gottes zu erkennen.

Heute leben wir in den letzten Tagen, die der Apostel Paulus als Tage beschreibt, in denen die bekennende Christenheit mit Riesenschritten auf das Niveau des Heidentums absinkt, wie dies aus dem Vergleich von 2. Timotheus 3,1-5 mit Römer 1,21-32 deutlich ersichtlich wird. In diesen gefahrvollen Zeiten ist es die Pflicht des Gläubigen zu erkennen, was Gott zur Züchtigung seines Volkes und in seiner Regierung im Gericht über die Welt wirkt.

In den Tagen Habakuks hatte Gott die Chaldäer erweckt, um dieses Werk des Gerichts gemäss seinen Regierungswegen auszuführen. Trotzdem wird uns mitgeteilt, dass das Volk Gottes aufgrund seines tiefen Zustands dem Zeugnis Gottes über sein eigenes Werk nicht glauben würde. Sie weigerten sich, die Hand Gottes hinter ihren Feinden, die zu ihrer Züchtigung gebraucht wurden, zu erkennen. Wir wissen, dass der Apostel diese Stelle zitierte, als er das Evangelium in Antiochien predigte. Er verkündigte die Gnade Gottes, die die Vergebung durch Christus beinhaltet, und dass alle, die glauben würden, von allem gerechtfertigt werden. Daran anschliessend zitierte er den Propheten Habakuk, um die Zuhörer vor der Verachtung des Werkes der Gnade durch Unglauben zu warnen, so wie ihre Vorväter das Werk der Regierung durch Unglauben verachtet hatten (Apg 13,41).

Trotz des Unglaubens des Menschen geht das Werk Gottes, sei es in Gnade oder in Regierung, jedoch weiter. So wird dem Propheten in seinen Tagen gesagt, dass Gott die Babylonier erweckt habe, um sein Werk gemäss seiner Regierung auszuführen. Die Babylonier werden kaum daran gedacht haben, dass sie zum Höhepunkt ihrer Macht geführt wurden, um in der Hand Gottes ein Instrument zur Züchtigung seines Volkes und zur Eindämmung des Bösen unter den Nationen zu sein. Doch so war es in den Tagen des Propheten, und so ist es stets in der Geschichte dieser Welt gewesen, wenn skrupellosen Tyrannen für eine Zeit erlaubt wurde, ihre Pläne der Aggression über die umliegenden Völker zu verfolgen.

Das Volk der Chaldäer wird als eine grimmige und ungestüme Nation beschrieben, die sich durch Grausamkeit und Gewalttätigkeit auszeichnete. Mit aggressiver Gewalt durchzogen sie die Erde, um Wohnungen in Besitz zu nehmen, die ihnen nicht gehörten. Durch ihre schrecklichen Taten flössten sie Furcht und Schrecken ein. Sie waren sich selbst ein Gesetz und hatten keinerlei Achtung vor den Gewohnheiten der Nationen. Weil sie unter das Niveau von natürlichen Menschen gesunken waren, werden wilde und grausame Tiere als Bilder gebraucht, um die unmenschliche Grausamkeit darzustellen, mit der sie die Nationen plünderten. Eine Zeitlang würden sie alle wegraffen; Könige und Fürsten würden beseitigt und jede Festung würde eingenommen werden.

Vers 11. Dann, auf dem Höhepunkt ihrer Eroberungszüge würden sich ihre Gedanken ändern und, nicht zufrieden mit der skrupellosen Zerstörung von Menschen, würden sie weitergehen und gegen Gott verstossen. In völliger Missachtung der Tatsache, lediglich Instrumente in der Hand Gottes zu sein, und aufgeblasen durch ihre eigenen Erfolge, würden sie den wahren Gott verwerfen und einen eigenen Gott nach ihren Gedanken errichten und ihre eigene Macht anbeten. So geschah es, wie wir wissen, als Nebukadnezar sagte: «Ist das nicht das grosse Babel, das ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?» (Dan 4,27). Wie jeder andere Tyrann im Lauf der Geschichte hatte er zu lernen, dass der Gott, der ihn erweckt hatte, um die Übeltäter zu bestrafen, derselbe ist, der ihn auch erniedrigen wird, wenn er gegen den wahren Gott sündigt, indem er für sich selbst göttliche Verehrung beansprucht.

Der Prophet hat seine Klage vor Gott ausgeschüttet; und dieser ist seiner Seelennot begegnet, indem Er ihm versichert hat, dass hinter der «schrecklichen und furchtbaren» Grausamkeit des Feindes gegenüber dem Volk Gottes und den Nationen Er selbst in seinen Regierungswegen ein Werk der Züchtigung wirke.

In den folgenden Versen hören wir den Propheten wieder zu Gott reden. Diesmal jedoch nicht, um seine Seelennot wegen des tiefen Zustands des Volkes Gottes vor Ihm auszuschütten, sondern um Gott dringend anzurufen wegen der Bosheit derer, denen erlaubt wurde, das Volk Gottes zu züchtigen. Die abschliessenden Worte Gottes geben deutlich zu verstehen, dass diese gottlose Nation, der es gestattet wurde, andere Länder zu überrennen, in der Beiseitesetzung des wahren Gottes und der Errichtung eines falschen Gottes als das Produkt ihrer eigenen Macht enden würde.

Vers 12. Sogleich greift der Prophet diese Lästerung auf, um das Gericht über diese gottlose Nation vonseiten Gottes anzurufen. Sie mögen den wahren Gott leugnen; aber, so fragt der Prophet: «Bist du nicht von alters her, HERR, mein Gott, mein Heiliger?» Kann Gott in Übereinstimmung mit seiner eigenen Herrlichkeit und Heiligkeit gleichgültig gegenüber der Gottlosigkeit derer sein, die Ihn herausfordern, indem sie sich selbst göttliche Macht anmassen? Unmöglich! Der Prophet beugt sich unter das, was der Herr gesagt hat, und bekennt, dass das Volk Gottes zu seiner Zurechtweisung unter dessen Zucht gekommen ist. Doch kann er hinzufügen: «Wir werden nicht sterben.» Wenn Gott sein Volk züchtigt, so deshalb, damit es in Übereinstimmung mit Ihm lebe. Wenn Er seine Feinde richtet, so bedeutet dies ihr ewiges Verderben, entsprechend dem Lohn, den sie verdient haben (vgl. Jer 46,28). Der Prophet erkennt somit klar, dass die Chaldäer trotz der augenscheinlichen überwältigenden Erfolge in Wirklichkeit auf dem Weg ins Gericht waren, selbst wenn sie in der Zwischenzeit von Gott zum Gericht anderer gebraucht wurden.

Vers 13. Der Prophet gründet seine Schlussfolgerung nicht nur auf die Gottlosigkeit des Feindes, sondern auch auf die Heiligkeit Gottes. Er ist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermag Er nicht anzuschauen. Kann Gott schweigen, wenn Er sieht, wie Ihn der Feind lästert, wie er trügerisch mit den Nationen umgeht und wie er mit noch grösserer Ungerechtigkeit handelt als jene, für die er zur Züchtigung gebraucht worden ist?

Verse 14-16. Diese gottlose Nation behandelte die Menschen, als ob sie nur Fische des Meeres oder Gewürm wären, die keinen Herrscher haben, der sie leitet und beschützt. Nachdem sie sich der Schwachen und Hilflosen bemächtigt haben, gebrauchen sie sie, um sich ein angenehmes Leben und Überfluss zu verschaffen. Ausserdem besteht ihre Hauptsünde darin, dass sie aus ihrer Macht, durch die sie ihre Erfolge errungen haben, einen Gott bilden und damit den wahren Gott beiseitesetzen.

Vers 17. Der Prophet fasst seinen Einwand in der Frage zusammen, ob dem Feind erlaubt werden soll, dass er fortfahre, die Nationen zu erschlagen und seine Netze anzubeten.