Der Apostel schrieb den Ephesern: «Ich habe gehört von dem Glauben an den Herrn Jesus, der in euch ist, und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt» (Eph 1,15).
Kann das auch von uns gesagt werden?
Wir neigen alle dazu, einen Kreis zu bilden, dem nur die von uns Bevorzugten und die uns Sympathischen angehören, solche, deren Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten mehr oder weniger unsere eigenen sind, oder wenigstens solche Geschwister, die unsere Geduld nicht strapazieren.
Das wäre aber nicht die wahre Liebe «zu allen Heiligen» und auch keine wahre Liebe zu den Auserkorenen eines solchen Kreises. Da würden wir uns mehr von der Liebe zu uns selbst als von der Liebe zu jenen leiten lassen.
Das Fleisch liebt das, was uns angenehm ist, was uns keine Mühe kostet und auch, was der Liebenswürdigkeit unserer Natur Anerkennung einbringt. Eine solche Liebe kann daher ohne wirkliche Übungen der neuen Natur und ohne die in unseren Herzen wirkende mächtige Kraft des Heiligen Geistes gedeihen. Wir sollten also unsere Seelen immer prüfen und uns fragen, wie es in dieser Sache um uns steht. Welchen Platz hat der Herr Jesus in den wichtigsten Beweggründen und Gegenständen unserer Herzen? Haben wir Ihn vor uns und seine Verherrlichung, wenn unsere Gedanken und Gefühle gegenüber den Heiligen tätig sind? Ich bin zwar durchaus nicht der Meinung, unsere Liebe könne gegenüber jedem dieselbe Form und denselben Ausdruck erreichen. Sie muss sich in der Energie und Weisheit des Heiligen Geistes entfalten und den an sie gestellten verschiedenen Anforderungen entsprechen.
Wenn es zum Beispiel eine Person ist, die unter Zucht steht, so wäre es ein grosser Fehler, wenn wir meinten, unsere Liebe zu ihr müsse sich über diesen Umstand wegsetzen. Dabei dürfen wir natürlich niemals aufhören, eine solche zu lieben, denn wenn bei uns keine Liebe vorhanden ist, werden wir niemals imstande und im richtigen Geist sein, um mit und für den Herrn Zucht auszuüben. Nicht nur Verurteilung der Sünde muss in unseren Herzen sein, sondern auch echte Liebe zu der Person, die gefehlt hat.
Wenn wir nicht in dieser Geistesverfassung sind, ist es besser, auf Gott zu warten, bis die Angelegenheit im Geist der göttlichen Gnade geordnet werden kann. Gewiss, die Gerechtigkeit muss handeln, aber nicht einmal unserem Kind gegenüber sollte die Züchtigung im Zorn ausgeübt werden. Deshalb ist in Zuchtfällen nicht nur Selbstgericht geboten, sondern auch grosse Geduld vonnöten, es sei denn, es liege ein so ernster Fall vor, dass ein Zögern strafbare Weichlichkeit oder Mangel an Entschiedenheit und Eifer für Gott sein würde.
Aber wenn wir uns auch in solchen Umständen von allen sichtbaren Liebeserweisungen enthalten müssen, so findet die Liebe doch Raum und Gelegenheit, sich kundzutun, auch wenn sie es für eine Zeit nur in der Gegenwart Gottes, verborgen vor menschlichen Augen, tun kann.
Wir empfinden «Liebe zu allen Heiligen», weil es Heilige, Heilige Gottes sind. Sie zu lieben, weil Gott sie abgesondert und in ewige Beziehung zu sich selbst gebracht hat, das ist die einzig wahre christliche Liebe ihnen gegenüber.
Versteht mich nicht falsch. Ich will nicht sagen, dass es verkehrt sei, persönliche Freunde zu haben. Auch unser Herr hatte Freunde (Joh 11,11; 15,14). Seine Liebe zu Johannes war anders, als die Liebe zu den übrigen Jüngern. Aber in einem anderen Sinn liebte Er alle gleich; als seine Heiligen waren sie Ihm alle unvergleichlich kostbar. Wenn Er auch die Treue einiger seiner Diener loben konnte, so war Er doch für alle in gleicher Weise besorgt, um sie zu ermuntern oder wiederherzustellen. Und so müssen auch wir jedem der verschiedenen Wege der Liebe Raum lassen.
Aber wenn auch die Liebe zu allen Heiligen die Grundlage unseres Umgangs mit ihnen allen sein soll, so sind wir selbstverständlich nicht gebunden, Dinge persönlicher Natur vor jedem auszubreiten, nur weil es ein Heiliger ist. Es gibt eben Gläubige, die nicht zu den weisesten der Menschen zählen, und wenn wir unsere Schwierigkeiten denen nicht mitteilen, die noch kein reifes Urteil haben und daher in solchen Fällen gar nicht zu helfen imstande sind, so stellen wir damit ihre Zugehörigkeit zu den Heiligen nicht infrage.
Liebe zu allen Heiligen soll uns erfüllen. Und wenn diese Liebe tätig ist, lernen wir den Wert des göttlichen Grundsatzes kennen, dass «in der Demut einer den andern höher achten soll als sich selbst» (Phil 2,3). Ich halte dafür, dass dieser Grundsatz auf alle Heiligen anwendbar ist. Da mag einer arm sein an Gedanken, ja sogar unwissend, hastig im Geist, stark im Vorurteil, wertlos als Berater, aber wenn seine Seele offensichtlich dem Herrn anhängt und Ihn über alles wertschätzt, sollte ich ihn dann nicht höher achten als mich selbst? Wenn ich wahrnehmen kann, dass er das in sich hat, was mich erfrischt und erbaut, ist er dann nicht wertvoller als ein zuverlässiger Freund und weiser Berater, der kein Bruder in Christus ist? Im geringsten Heiligen ist das, was göttlich ist, und das tut meinem Herzen wohl und demütigt es gleichzeitig. Selbstverständlich muss ich keine Person um einer Eigenschaft willen schätzen, die sie gar nicht besitzt. Gott stellt kein solches Unding vor uns hin, um unsere Liebe zu wecken.
Es ist immer gut, die Kostbarkeit eines jeden Heiligen vor Augen zu haben. Zeige mir den Schwächsten unter allen, und den, der dir am meisten Mühe macht – auch vor einem solchen sollten wir wirklichen und echten Respekt pflegen, weil er ein Kind Gottes ist. Nicht nur ist Gott für ihn, sondern auch das, was von Christus ist, ist in ihm. Dies allein schon sollte ihn dem empfehlen, der die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn schätzt.
Übrigens, wie viel Versagen ist bei uns selbst zu finden! Wenn wir uns selbst betrachten, entdecken wir da nicht vieles in uns, was nicht mit Christus übereinstimmt? Oh, dass wir doch stets vor allem auf der Hut wären, was den Geist Gottes betrüben könnte. Dieses Selbstgericht hätte eine gute Wirkung und würde unsere Selbsteinschätzung herabsetzen. Wenn wir unser eigenes, leider so häufiges Fehlen angesichts einer so reichen und vollkommenen Gnade betrachten, können wir dann noch so gross von uns denken?
Wenn wir dann gleichzeitig bei unseren Mitgeschwistern nicht ihre Fehler, sondern die Liebe Christi für sie und sein Leben in ihnen vor Augen hätten, welche Wirkung hätte es auf uns?
Liebe zu allen Heiligen! Christus in den Heiligen sehen, das ist die Kraft der Liebe, die Er durch uns ausströmen lassen will.