Der Apostel Paulus war dafür besorgt, dass sein «Kind» Timotheus ernstlich bezeuge, nicht Wortstreit zu führen, was zu nichts nütze und zum Verderben der Zuhörer sei. Anderseits sollte er selbst sich befleissigen, «sich Gott als bewährt darzustellen, als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit recht teilt» (2. Tim 2,14.15). Offenbar wünschte er, dass Timotheus die Wahrheit in ihrem richtigen Zusammenhang festhalten und anwenden möge. Das sollte auch unser Streben sein, sowohl zu unserer eigenen Auferbauung und Freude, als auch im Dienst für andere. Wir sollten unter Gebet und Abhängigkeit vom Heiligen Geist das Wort der Wahrheit so zu lesen und zu erforschen suchen, dass wir es für uns selbst und für andere mit Klarheit, nicht in Verwirrung, erfassen können.
Vielleicht haben wir beim Lesen des Wortes der Wahrheit im Alten Testament die Notwendigkeit dieser Ermahnung des Apostels eingesehen. Da besteht die Gefahr, sie für die Versammlung Gottes auszulegen (direkt anstatt geistlich anzuwenden), auch wenn sie sich ausschliesslich auf das irdische Volk Israel bezieht. Aber wir sind uns vielleicht nicht bewusst, dass dieselbe Notwendigkeit, die Wahrheit recht zu teilen, auch beim Lesen des Neuen Testaments besteht. Die Betrachtung einiger Stellen aus jedem der vier Evangelien mag dazu dienen, die Wichtigkeit und Nützlichkeit einer richtigen Unterscheidung der Wahrheit, wie sie in der Schrift offenbart ist, zu unterstreichen.
Im Bericht der Ereignisse der Nacht des Passahmahls geben Matthäus (26,26-29) und Markus (14,22-25) die Einsetzung des Mahls des Herrn in den fast gleichen Worten wieder. In Verbindung mit dem Brot lauten die Worte des Herrn: «Nehmt, esst; dies ist mein Leib.» Aber Lukas (22,19-20) fügt einige Worte hinzu: «Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dies tut zu meinem Gedächtnis!» «Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.»
Johannes (Kap. 13-17) gibt einen ausführlicheren Bericht über das, was sich an diesem Passahmahl zutrug als die drei anderen. Aber, obwohl er so viel über das schrieb, was der Herr in dieser Nacht tat und sagte, obwohl er bei Tisch sein Haupt an Jesu Brust lehnte, obwohl er es war, der fragte, wer von ihnen den Herrn verraten würde – schrieb er doch kein Wort über die Einsetzung des Brotbrechens zum Gedächtnis an den Herrn! Das war kein Versehen des Johannes, sondern die Absicht des Heiligen Geistes.
In den synoptischen Evangelien (Mt 26,36-46; Mk 14,32-42; Lk 22,39-46) lesen wir vom Kampf und den Gebeten im Garten Gethsemane, wobei der Herr sagte: «Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber …». Johannes hingegen (Kap. 18) sagt in seinem Bericht über die Gartenszene nichts von dem Niederfallen im Gebet, wie die anderen Evangelien. Dagegen schreibt er, dass Jesus, als Petrus Ihn zu verteidigen suchte, zu ihm sagte: «Stecke das Schwert in die Scheide! Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?» Johannes teilt auch seine Worte mit, die Er äusserte, als Er das Kreuz vor sich sah: «Jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!» (Joh 12,27.28).
Ferner lesen wir in Matthäus 27,45.46 und Markus 15,33.34 von der Finsternis von der sechsten bis zur neunten Stunde, und dass Jesus um die neunte Stunde mit lauter Stimme aufschrie: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Lukas (23,44-46) berichtet von der Finsternis und von dem Schrei mit lauter Stimme, aber die Worte des Schreies sind weggelassen. Dagegen lesen wir: «Und Jesus rief mit lauter Stimme und sprach: Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!» Beachten wir diesen Ausspruch, wie auch die Worte Jesu, als das Volk Ihn wegführte und kreuzigte: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!» (Vers 34).
Wiederum sagt Johannes nichts von diesem (siehe Kapitel 19). Er war dort in dieser schrecklichen Szene und stand so nahe beim Kreuz, dass Jesus zu ihm sagen konnte: «Siehe, deine Mutter!» Er hörte diese Worte, und wenn er bis zum Ende anwesend war, hörte er gewiss auch den Schrei mit lauter Stimme. Doch berichtet er nicht davon; doch zeugt er von dem, was die anderen Chronisten nicht tun, von den Worten des Herrn Jesus – die Er wahrscheinlich nicht mit lauter Stimme äusserte «Es ist vollbracht». Vielleicht waren diese Worte in erster Linie für des Vaters Ohren bestimmt, wie das zuvor ausgesprochene Bekenntnis: «Das Werk habe ich vollbracht, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte» (Joh 17,4); aber seither sind diese überaus kostbaren Worte auch den Myriaden seiner Nachfolger zu Ohren gekommen.
Zweifler und Kritiker mögen alle diese «Auslassungen» und «Unterschiede» als Ungenauigkeiten bezeichnen und daraus schliessen, dass die Schriften nicht inspiriert und nicht zuverlässig seien. Aber ihre Wortstreitereien sind nutzlos, und sie verunsichern ihre Hörer. Wahre Gläubige sollten bezüglich der Inspiration der Schriften keine Zweifel haben, denn «alle Schrift ist von Gott eingegeben» (2. Tim 3,16). Was für die Zweifler und Kritiker nur «Knochen zum Streiten» sind, können schmackhafte Wahrheiten sein für jene, die durch die Hilfe des Heiligen Geistes befähigt sind, das Wort der Wahrheit recht zu teilen.
Die Berichte der vier Schreiber der Evangelien, die die obigen Szenen auf Golgatha beschreiben, sind ein Zeugnis für ihre Inspiration. Jeder schrieb seine Biographie als wesentlichen Teil eines vollkommenen Ganzen; die vier Berichte stellen zusammen den vierfältigen Aspekt des Kreuzes dar. Mit Sicherheit teilten sie das Wort der Wahrheit recht, weil jeder geleitet war durch den Heiligen Geist.
Der Bericht des Johannes hat den Aspekt vom Brandopfer An diesem Opfer war alles für Gott: alles davon stieg als ein duftender Wohlgeruch zu Ihm empor. Somit wäre es unpassend gewesen, das Verlassensein von Gott, das Flehen, dass der Kelch an Ihm vorübergehen möge, oder selbst das Brotbrechen, das ein Teil für die Seinen, nicht für den Vater ist, zu erwähnen. Das Brandopfer war ganz für Gott, und alles was Johannes vom Sohn berichtet, war zur Verherrlichung und Wonne des Vaters. Gewiss, im Brandopfer nach 3. Mose 1 war die Annahme dessen eingeschlossen, der das Opfer darbrachte. Die Priester, die Söhne Aarons hatten dabei das heilige Vorrecht, am Altar zu dienen, die Opferteile auf das Holz über dem Feuer zu legen, und den Geruch des Opfers, der zu Gott emporstieg, wahrzunehmen. Aber Johannes redete nur von dem, was als lieblicher Wohlgeruch zu Gott, dem Vater, emporstieg. Er verfolgte nur diese direkte Linie.
Lukas stellt das Speisopfer vor; daher wäre der Schrei: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» hier nicht am Platz gewesen. Das Speisopfer war wie das Brandopfer ein duftender Wohlgeruch, darstellend das bis zum Tod gehorsame Leben Jesu. Die Leiden und Trübsale des Kreuzes, so wie Lukas davon berichtet, waren von der Hand der Menschen, nicht von der Hand Gottes; und je mehr dieser Heilige dem prüfenden Feuer unterworfen wurde, desto kostbarer war der Duft, der zu seinem Vater emporstieg. Hier lesen wir: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», und: «Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist.» Gemäss Lukas 23 und Philipper 2 war der Höhepunkt des Speisopfers, dass es «bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» ging.
Die Berichte von Markus und Matthäus über die Kreuzigung und den Tod Christi stellen offensichtlich das Sünd- bzw. das Schuldopfer vor. Beachte in dieser Beziehung die folgenden Stellen: «Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte» (Röm 8,3; Mk 1,1; 15,34.39). «Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht» (2. Kor 5,21). «Der unserer Übertretungen wegen hingegeben» (Röm 4,25). «Der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat» (1. Pet 2,24). Daher findet sich der Bericht des Verlassenseins von einem heiligen Gott und der Schrei des heiligen Opfers in Markus und Matthäus.
In 3. Mose 1-7 sind die unterscheidenden Einzelheiten der Opfer beschrieben. In den Evangelien hat derselbe Geist von ihrer Erfüllung durch den Tod des Gegenbildes berichtet. Es sollte unser Wunsch sein, durch den gleichen Geist belehrt zu werden, das Wort der Wahrheit recht zu teilen, um so des Geistes unterschiedliche Belehrung in jedem Teil der Heiligen Schrift zu erfassen.