Psalm 22 zeigt uns ein vollbrachtes Werk. Der gute Hirte hat sein Leben für seine Schafe hingegeben. Während der drei Stunden der Sühnung, als die Schrecken des Gerichts Gottes über Ihn kommen mussten, hat Er nicht den Trost gehabt, der – in Psalm 23 – das Teil der Seinen ist. «Du bist bei mir» bezeugt der Erlöste, der durch das Tal des Todesschattens schreitet (Vers 4). Der Heiland hingegen musste ausrufen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Wie so viele der Antworten auf dieses «warum», so erinnert auch das Ende von Psalm 22, wo die meisten der Zeitwörter in der Zukunftsform sind, an die vielfältigen Folgen des Werkes des Kreuzes. Diese Folgen begrüsst hier der Erlöser, der zum Voraus in den verschiedenen Klassen der geretteten Personen schon die reiche und vollständige Frucht der schrecklichen Mühsal seiner Seele sieht.
Psalm 23 redet von der Gegenwart. «Der HERR ist mein Hirte». Damit werden die Gegenwartsnähe und die Dauerhaftigkeit der Beziehung festgestellt, die sich auf die Leiden von Psalm 22 gründet. Die Folge dieser Beziehung ist: Ich bin gewiss, dass mir nichts mangelt. Er, der in Psalm 22 die Macht seiner Liebe gezeigt, der gestern alles getan hat zum Heil meiner Seele, kann daher nun alles tun, um meinen heutigen Bedürfnissen zu entsprechen, aufgrund derselben Macht und derselben Liebe. Aber, obwohl es wahr ist, dass mir nichts mangelt, ist das Zeitwort «mangeln» hier nicht in der Gegenwartsform, als eine einfache Feststellung, die ich machen kann. Es ist auch nicht in der Vergangenheit. Die geziemende Dankbarkeit, die dem Herrn für seine treue Fürsorge in der Vergangenheit gebührt, lässt mich zwar, wenn ich zurückschaue, oft sagen: es hat mir an nichts gemangelt. Aber da redet nicht die Dankbarkeit, sondern der Glaube, und darum haben wir hier die Zukunftsform. «Mir wird nichts mangeln», bezeugt der Erlöste, der seinen Herrn gut kennt. Und wie glücklich ist der gute Hirte, darauf erwidern zu können: «Ich bin gekannt von den Meinen» (Joh 10,14).
Die Verse 2 und 3 enthalten vier Zeitwörter in der Gegenwart. Der gegenwärtige Augenblick ist der, in dem ich nötig habe, genährt, erfrischt, erquickt und geleitet zu werden. Was ich gestern empfangen habe, entsprach meinen gestrigen Bedürfnissen. Für die heutigen brauche ich neue Hilfe, weil der Herr weiss, dass ich, wenn ich Vorräte sammeln könnte, mich auf diese stützen würde und nicht mehr auf Ihn. Aus diesem Grund musste das Manna in der Wüste vom Volk jeden Morgen neu gesammelt werden. Und so verhält es sich auch mit den Pfaden der Gerechtigkeit, in denen der Herr mich leitet. Es genügt nicht, dass ich gestern gerecht gewandelt habe, noch dass ich beabsichtige, es morgen zu tun. Der Herr hat heute seinen Weg für mich, einen Pfad, den ich vielleicht allein einschlagen muss, aber in dem Er mich sicher führen wird, indem Er mir selber darin vorangegangen ist. Und beachten wir, es ist «um seines Namens willen», dass Er mich in diesen «Pfaden der Gerechtigkeit» wandeln lässt, die inmitten einer Welt voller Ungerechtigkeit gebahnt sind. Der wichtige Beweggrund, um uns vor den Menschen richtig zu betragen, ist nicht unser Ansehen, nicht einmal das Wohl der anderen, sondern die Furcht des Namens, den wir tragen dürfen, dieses schönen Namens Christi, der über die Christen ausgerufen ist. Wir sind berufen, ihn vor der Welt würdig darzustellen. Und dieses Zeugnis haben wir jetzt abzulegen.
Alle Tätigkeiten des Hirten, aufgezählt in den Versen 2 und 3, sind notwendig, damit mir tatsächlich nichts mangelt. Aber im 4. Vers wird ein Umstand erwähnt, durch den ich vielleicht nicht zu gehen habe: die Wanderung durch «das Tal des Todesschattens», und darum ist das Zeitwort wandern hier in der Bedingungsform: «wenn ich wanderte» – anders ausgedrückt: wenn ich zu wandern hätte. Das Todestal kann im Allgemeinen Sinn als Bild aufgenommen werden für eine Prüfung, die man erfahren muss, und 1. Petrus 1,6 fügt dazu eine Beschränkung bei: «wenn es nötig ist». Denn der Herr liebt uns zu sehr, als dass Er uns leiden liesse, wenn es nicht unbedingt sein muss. Und wenn wir unter diesem Tal den Tod im buchstäblichen Sinn verstehen, so erinnern wir uns, dass er besiegt ist. Der Gläubige, der durch ihn gehen muss, erfährt nur noch den Schatten davon, in Erwartung der Auferstehung. Aber selbst dieser Tod des Leibes, dieser «Weg der ganzen Erde» (Josua 23,14) wird Ausnahmen haben. Ein ganzes Geschlecht der Gläubigen – vielleicht das unsere – wird in dem Augenblick in dem der Herr seine Versammlung holen wird, lebend sein. Ja, die Bedingungsform ist hier in doppelter Hinsicht am Platz.
«Ich fürchte nichts Übles»:1 eine neue Bezeugung des Glaubens, und daher ist das Zeitwort im Urtext in der Zukunftsform! Was alle Furcht von uns fernhält, selbst in der Nähe des Todes, ist das Wissen um die Gegenwart des Herrn, als Antwort auf die Verheissung in Jesaja 43,2: «Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir». Hier in Psalm 23 würde man erwarten: «denn du wirst mit mir sein, wenn dieser Fall eintritt». Aber dem ist nicht so: «Du bist bei mir», erklärt der Erlöste. Die Gegenwart seines Erretters ist eine Erfahrung jeden Augenblicks, in guten und in bösen Tagen, vor, nach, wie auch während der Prüfung. Beachten wir, dass die Verheissung des Herrn Jesus, die das Matthäus-Evangelium abschliesst, ebenfalls in der Gegenwart steht: «Siehe, ich bin bei euch alle Tage …» Der ICH BIN, der Emmanuel (Gott mit uns) ist da für mich in den Tagen, da alles leicht ist, wie auch in den Augenblicken der Prüfung, wenn es nötig ist, dass ich sie durchschreite. Man hat schon gesagt, dieses «Du bist bei mir» sei das Herz von Psalm 23.
Der Stecken und der Stab des Hirten, oder anders gesagt: die vorbeugende Vorsorge und sein Schutz sind ebenfalls gegenwärtige Notwendigkeiten. Jetzt habe ich nötig, gegen die Feinde von aussen, Satan und die Welt, geschützt zu werden, wie auch gegen die Feinde von innen: das natürliche Herz, das zum Bösen zieht. Und mein Hirte kennt, besser als ich, die Gefahren, denen ich ausgesetzt bin. Zu wissen, dass ich Gegenstand dieser Aufmerksamkeit und dieser vorbeugenden Züchtigung bin, ist ein gegenwärtiger Trost, ein Beweis meiner Sohnesbeziehung und der treuen Liebe, deren Gegenstand ich fortwährend bin (Heb 12,7).
In der Wüste hat mein Gott einen Tisch aufgerichtet. Warten wir nicht, bis wir im Himmel sind, um den Himmel zu geniessen! Der Feind möchte uns daran hindern, und wir dürfen nicht vergessen, dass er da ist, uns beobachtet und uns zu ertappen sucht. Aber um die Feinde kümmert sich Gott, solange wir mit «seinem Tisch», mit den Segnungen von oben beschäftigt sind. Was taten Josua und ganz Israel als Erstes in den Ebenen Jerichos, unter den Blicken ihrer Feinde? Sie beteten an und nahmen Speise zu sich, im Blick auf den bevorstehenden Kampf. Sie feierten das Passah und assen vom Erzeugnis des Landes (Jos 5,10.12).
«Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt», fährt der Psalmist fort, in diesem Psalm das einzige Wort in der Vergangenheit. Diese Salbung ist ein Bild von der des Heiligen Geistes, die ein für alle Mal an uns geschehen ist. Wir haben nicht, wie gewisse Leute behaupten, eine bezügliche Erneuerung, eine neue Ausgiessung zu erwarten. Sie ist der Zustand eines befriedigten Herzens: «Mein Becher fliesst über», das ist die Folge dieser Salbung und steht in der Gegenwart, weil dies in jedem Augenblick meine Erfahrung sein kann: «Mein Becher», das ist mein gegenwärtiges Teil, was Gott mir gibt; ich bin berufen, davon völlig befriedigt zu sein, weil Gott es ist, der es mir gibt. Hebräer 13,5 lädt uns ein, uns mit dem zu begnügen, was vorhanden ist, was wir gegenwärtig haben. Und wenn ich mit dem Mann des Glaubens in Psalm 16,5 sagen kann: «Der HERR ist das Teil … meines Bechers», dann kann mein Becher gewiss nicht verfehlen, immer voll zu sein, und meine Freude ist dann völlig.
Die Zukunftsform des Glaubens im letzten Vers erinnert mich noch einmal daran, dass, wenn der Hirte alle Tage bei mir ist, mir das, was Ihn kennzeichnet – Güte und Huld – mir an keinem Tag meines Lebens fehlen kann. Zu dieser Gewissheit in meiner Pilgerschaft kommt, auch wieder in der Zukunftsform, meine Gewissheit betreffend das Ende meines Lebenslaufes hinzu: «Ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar.» Dort habe ich mein Zuhause. Der mich errettet hat, ist heute bei mir im Tal, durch das ich wandere; morgen werde ich droben bei Ihm sein, in der Ruhe des Vaterhauses.
- 1Eigentlich: «werde ich nichts Übles fürchten»