Beim Warten auf einen Zug an einem kalten, nebligen Morgen, liessen sich unerwartet die melodischen Töne eines jubilierenden Vögleins vernehmen. Der kleine Sänger war ausser Sichtweite, aber gewiss wurden alle, die zu dieser trüben Stunde seinen Gesang hörten, dadurch aufgemuntert.
Wie Salomo im Hohenlied 2,12 sind wir geneigt, den entzückenden Gesang der Vögel mit dem Frühling oder mit sonnigen Tagen in Verbindung zu bringen. «Die Blumen erscheinen im Land, die Zeit des Gesanges ist gekommen.» Aber dieser kleine Vogel sang im Nebel eines trostlosen Tages fröhlich dahin. – Hat er uns nicht etwas zu sagen?
Singen geht uns leicht vom Herzen, wenn mit uns alles gut geht. Aber singen wir auch auf einem Weg, der von gegenwärtigen oder drohenden Schwierigkeiten umwölkt ist?
Die Schrift berichtet von einigen Gläubigen, die dies zu tun vermochten. Elihu sagte zu dem schwergeprüften Hiob: «Gott, mein Schöpfer, der Gesänge gibt in der Nacht» (Hiob 35,10). So konnte man zum Beispiel David, den «Lieblichen in Gesängen Israels», in mancher dunklen Nacht seiner Geschichte seine Lieder singen hören. «Den HERRN will ich preisen allezeit, beständig soll sein Lob in meinem Mund sein …» (Ps 34,2).
Auch die Geschichte des Paulus und Silas, die ins innerste Gefängnis des Kerkers in Philippi geworfen wurden, redet von Lobgesängen aus einem dumpfen und finsteren Verlies. Sie litten unsäglich mit in den Stock gepressten Füssen, steif und wund durch brutale Behandlung, in einer denkbar unbehaglichen Lage. Aber die anderen Gefangenen hörten sie um Mitternacht beten und Gott lobsingen. Wie gross muss die Verwunderung aller gewesen sein, solches zu hören, in derartigen Umständen, zu einer solchen Stunde. Ein herrliches Ergebnis dieser «Gesänge in der Nacht» zeigte sich in der Bekehrung des Kerkermeisters und seines Hauses, die alle an den Herrn Jesus Christus glaubten und errettet wurden.
Paulus und Silas mochten sich wohl an die Worte des Psalmisten erinnert haben: «Bei Nacht wird sein Lied bei mir sein, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens» (Ps 42,9).
Lasst uns auch an die dunkle Nacht des Verrates unseres Herrn denken, von der der Evangelist sagt: «Es war aber Nacht.» Eine tiefere Dunkelheit als nur der natürliche Einbruch der Nacht begann, als Judas jenen Obersaal verliess, in dem der Herr mit seinen Jüngern das Passah gefeiert hatte. Aber nach dem Passahmahl sangen sie gleichwohl ein Lied (Mk 14,26). So hatten sie immer getan; die Juden pflegten bei diesem Fest so zu tun. Aber als sie das Lied jetzt sangen, war Jesus im Begriff, sich als das wahre Passahmahl hinzugeben, den Blick auf den Tag der Auferstehung und auf den Tag seiner Verherrlichung zur Rechten der Majestät in der Höhe gerichtet. «Die Schande nicht achtend, hat Er für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldet.» Als sich um Ihn her die Dunkelheit auszubreiten begann und sich immer mehr vertiefte, bis sie sich schliesslich auf Golgatha zur undurchdringlichen Finsternis verdichtete, sang Er also zuerst das Passahlied, stärkte Er die Seinen, betete Er für alle, die je und je an Ihn glauben würden (Johannes 17), und konnte dann vorangehen, um den ganzen Willen Gottes auf dem Kreuz zu erfüllen.
Möchten diese Gedanken über das Singen im Dunkeln uns helfen, Ihn an Tagen der Prüfung und der Trübsal zu lobpreisen, nicht nur, wenn unser Weg hell und angenehm ist, sondern auch, wenn er dunkel und trüb wird. Wartet nicht auch auf uns die Freude, für immer bei Ihm zu sein, Ihm gleichgestaltet, da, wo es keine Dunkelheit gibt, sondern nur Licht, Liebe und glückseliges Frohlocken?