Nehemias Gebet

Nehemia 1,1-11

In der Bibel lesen wir von manchen Männern, die von Gott gebraucht wurden, um für sein Volk zum Segen zu sein. Unter ihnen nimmt Nehemia einen bedeutenden Platz ein.

Obwohl er zu den in die Gefangenschaft weggeführten Juden gehörte, wurde er unter der Regierung Artasastas zur hohen und gut bezahlten Stellung eines Mundschenken am Hof erhoben. In seinem Herzen fühlte er sich aber weiterhin mit seinen Volksgenossen verbunden, die in Judäa zurückgeblieben oder unter Esra zurückgekehrt waren.

Als sein Bruder Hanani mit einigen Freunden ihn besuchen kam, zeigte er sogleich seine Anteilnahme darin, dass er sich nach dem Wohlergehen beider Gruppen informierte. Was er zu hören bekam, war sehr enttäuschend, wie wir in Kapitel 1,3 lesen.

Aus der Reaktion Nehemias auf die erhaltenen Informationen können alle, die sich vom Herrn in seinem Dienst gebrauchen lassen möchten, viel lernen. So wie einst Mose, hätte auch er den Schluss ziehen können, dass er nicht zufällig zu dieser Stellung gelangt sei, dass auch er in Verbindung damit eine Aufgabe habe und so weiter. Aber auch er «wählte lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden». Selbstgenügsamkeit und Sucht nach Bequemlichkeit können uns so leicht von einer schwierigen Aufgabe zurückhalten. Bei Nehemia war alles seinem Verlangen untergeordnet, für sein Volk das Wohl zu suchen (Neh 2,10).

Hierin sehen wir seine Gesinnung, und darauf kommt es in erster Linie an. Die beste Empfehlung, die Paulus in Bezug auf seinen Mitarbeiter Timotheus zu geben wusste, bestand nicht darin, dass er von seinem Eifer, seinen Gaben und seiner Erkenntnis redete, sondern im Hinweis auf seine Gesinnung: «Denn ich habe keinen Gleichgesinnten, der von Herzen für das Eure besorgt sein wird; denn alle suchen das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist» (Phil 2,20.21).

Wir hätten uns vorstellen können, dass ein solch energischer, tatkräftiger Mann wie Nehemia direkt reagiert und gesagt hätte: «Da muss unverzüglich etwas getan werden. Ich muss so rasch wie möglich hingehen!»

Wie ist doch bei der Arbeit im Reich Gottes schon viel verdorben worden durch gutgemeinte Hast! Von Mose lesen wir, dass er dachte, Gott werde durch seine Hand Israel Rettung geben. In diesem Stück irrte er sich nicht. Aber er täuschte sich darin, dass er meinte, er müsse in dem Augenblick und auf diese Weise auftreten, wie er es tat, als ein Ägypter einen seiner Brüder schlug.

Nehemias erste Tat war: «Er setzte sich hin.» Er liess das Gehörte vor Gottes Angesicht auf sich einwirken und machte sich völlig eins mit dem Volk in seinem traurigen Zustand, der zur Unehre Gottes war. Er sah seinen eigenen Anteil und den seiner Familie in dem Bösen, das zu diesem Zustand geführt hatte. Das brachte er auch in seinem Gebet zum Ausdruck, und zwar nicht ein- oder zweimal, sondern tagelang. Edward Dennett sagt in seinem Buch über Nehemia: «Viele klagen über den Zustand des Volkes Gottes, aber wenige sind es, die sich mit diesem Volk eins machen. Nur solche können wirklich vor Gottes Angesicht dafür eintreten.»

Wir sehen hier einen grossen Gegensatz zum Gebet Elias in 1. Könige 19. Elia sonderte sich in Gedanken von diesem Volk ab, sprach über seinen eigenen Eifer vor dem HERRN und über die Abweichungen des Volkes. Und dies hatte zur Folge, dass er sich selbst als den einzigen Treuen betrachtete, der im Land übriggeblieben war. Und hierin täuschte er sich auch noch sehr. Dieses Gebet war keine demütige Fürbitte, sondern eine hochmütige Anklage. Paulus sagt daher in Römer 11,2: «Wisst ihr nicht, was die Schrift in der Geschichte Elias sagt? Wie er vor Gott auftritt gegen Israel?» Darum machte Gott seinem Dienst ein Ende und gab ihm den Auftrag, Elisa an seiner Stelle zum Propheten zu salben.

In der Versammlung von Korinth war Böses vorhanden, das wie Sauerteig alles zu durchdringen drohte. Paulus wies daher auf ihre Verantwortung hin, den Bösen aus ihrer Mitte wegzutun.

Aber diesem Auftreten musste eine gemeinschaftliche Demütigung vor dem Herrn vorausgehen und ein aufrichtiges Leidtragen über das, was in ihre Mitte eingedrungen war.

Darby sagt: «Wie eine Geschwulst an einem menschlichen Körper, beweist die Sünde, dass der Leib sich nicht in einem gesunden Zustand befindet. Die Versammlung wird nie imstande sein, Zucht auszuüben, wenn sie sich nicht zuerst eins gemacht hat mit der Sünde des einzelnen. Wenn sie es nicht auf diese Weise tut, bekommt die Zucht einen richterlichen Charakter, was im Widerspruch steht mit der in Christus empfangenen Gnade.»

Wir wollen noch auf einige Einzelheiten im Gebet Nehemias eingehen. Er nennt Ihn den Gott des Himmels. Dieser Name spricht davon, in welchem Verhältnis sich Gott in jener Zeit, nach der Wegführung seines irdischen Volkes, offenbarte. Aber zugleich gebraucht er auch den Namen HERR, unter welchem Namen Er sich mit seinem irdischen Volk als der Gott des Bundes verbunden hat. Mit dem Bekenntnis ihrer Sünden rechtfertigt Nehemia Gott und erkennt er an, dass Er gerecht ist in allem, was Er über sein Volk hatte kommen lassen, weil sie es durch ihre Übertretungen und Abweichungen schlimm getrieben hatten. Aber er beruft sich auch auf die Verheissungen Gottes, wie wir sie am Schluss von 3. Mose 26 finden. Berührt es unsere Herzen nicht, wenn wir hören, wie er Fürsprache einlegt für sie: «Sie sind ja deine Knechte und dein Volk, das du erlöst hast durch deine grosse Kraft und deine starke Hand» (Neh 1,10).

Im folgenden Vers spricht er auch vom «Gebet deiner Knechte». Hat er in seiner grossen geistlichen Not verwandte Seelen gefunden, die sich mit ihm demütigten und mit ihm zum Herrn riefen? Das liegt eigentlich auf der Hand. Wir finden dies auch in den Büchern Daniel und Esther. Würde dies doch auch in unseren Tagen mehr gefunden! Das hätte eine viel bessere Auswirkung als all das Reden über Abirrungen von anderen und über das Böse, das da und dort gefunden wird. Mit diesem Reden wird nichts Gutes erreicht, es kann zu bösem Geschwätz führen, das gute Sitten verdirbt. Zudem begeben wir uns dabei in die Gefahr, dass der pharisäische Gedanke «besser-zu-sein-als-andere» unsere geistliche Kraft ruiniert. Die Rolle des Anklägers ist viel leichter als die des Fürbittenden.

«Lass es doch deinem Knecht heute gelingen und gewähre ihm Barmherzigkeit vor diesem Mann!» (Neh 1,11). Er ist sich bewusst, wie gross die Not und wie dringend die Notwendigkeit ist, dass eingegriffen wird. Die Sache kann keinen Aufschub erleiden. Lass es mir heute gelingen. Aber wie grosse Eile der Dienst auch hat, er will Gott nicht vorauslaufen; er weiss, dass der Herr den Weg für ihn öffnen muss. Wir dürfen unserem Herrn im Gebet alle Dinge vorlegen, auch unsere Gedanken und Wünsche. Und wenn wir das tun, müssen wir auf Ihn warten, bis Er den Weg deutlich öffnet. Das kann oft länger dauern, als wir erwarten oder sogar als nützlich erachten. Nehemia hat dies auch lernen müssen. Tagelang hat er gebetet und vier Monate lang hat er auf die Erhörung dieses Gebetes warten müssen. Gottes Antwort war nicht heute, sondern vier Monate später.

«Dieser Mann!» ein merkwürdiger Ausdruck, den Nehemia für den König gebraucht, in dessen Dienst er als Mundschenk steht.

Artasasta regierte mit absoluter irdischer Macht über das grosse Weltreich. Es war dieser Mann, der auf die Anklage feindlicher Menschen und Völker hin dem Wiederaufbau Jerusalems unter Esra ein Ende setzte (Esra 4,7-23). Seine Verfügung lautete: «So gebt nun Befehl, diesen Männern zu wehren, damit diese Stadt nicht wieder aufgebaut werde, bis von mir Befehl gegeben wird» (4,21).

Nehemia kannte natürlich diesen Beschluss. Er kannte auch seinen mächtigen Gebieter. In der Geschichte ist dieser König als ein sehr despotischer und launenhafter Mensch bekannt, leicht von Frauen und Günstlingen beeinflussbar. Und von der Entscheidung dieses Königs hing nun das Gelingen dieses ganzen Unternehmens ab? Nicht doch. Für den Glauben Nehemias war er nichts weiter als «dieser Mann». Gott konnte die Gedanken dieses Mannes leiten und durch ihn seine Pläne zu Gunsten des Volkes ausführen. Und nun wartete Nehemia betend ab, dass dieser Augenblick anbräche.

Vier Monate später kam die Chance. Im zweiten Kapitel sehen wir ihn in seiner Funktion vor dem Angesicht des Königs. Was er in den vergangenen vier Monaten in ringendem Gebet durchgemacht hatte, liess auf seinem Gesicht Spuren zurück. Das fiel sogar seinem König auf. Als dieser nach der Ursache seines Kummers fragte, fürchtete er sich sehr, gab aber doch eine ehrliche, offenherzige Antwort. Und dann kam der kritische Augenblick, die Frage des Königs: «Um was bittest du denn?» – «Da betete ich zu dem Gott des Himmels; und ich sprach zu dem König.» Wie kurz musste doch dieses Gebet gewesen sein, äusserlich wohl nicht einmal wahrnehmbar! Keine besondere Haltung, keine gefalteten Hände oder geschlossene Augen, nicht viele Worte. Das war, wie man sagt, ein «Stossgebet».

Aber sind das nicht oft die besten Gebete? Nehemia wird uns nicht nur als ein Mann beschrieben, der kraftvolle Taten verrichtete, sondern auch als ein Mann des Gebets. Gebete von ihm finden wir in den Kapiteln: 1,4-11; 2,4; 4,4.5 und 9; 5,19; 6,9 und 14; 13,14.22.29 und 31. Diesen Zug hat er mit allen Männern gemeinsam, die Gott für grosse Dinge gebraucht hat.

Als er dem König sein Gesuch vorgelegt hatte, wurde er gefragt, wie viel Zeit er für diese Aufgabe rechne nötig zu haben. Die Zeit, die er nannte, wird wohl zwölf Jahre gewesen sein (siehe Kapitel 5,14 und 13,6). Nachdem der König auch hiermit seine Zustimmung bezeugt hatte, erbat Nehemia noch einige Gunsterweisungen von seinem Gebieter. Hierin unterschied er sich deutlich von Esra, übrigens auch in anderen vergleichbaren Punkten ihres Auftretens. Aber sie hatten auch verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Esra ging im Auftrag des Königs Kores mit einer grossen Gesellschaft, um den Tempel und den Dienst darin wieder herzustellen. Nehemia ging auf eigenes Ersuchen hin, um Ordnung in die Angelegenheiten zu bringen und empfing dazu eine Ernennung zum Statthalter. Gott selbst erwählt seine Werkzeuge für eine bestimmte Aufgabe und gibt ihnen dafür die Fähigkeit. Wir sehen, dass Er dabei auch der natürlichen Veranlagung Rechnung trägt.

So sehen wir auch grosse Unterschiede zwischen Elia und Elisa, zwischen Paulus und Barnabas, um nur einige zu nennen. Oft gibt Er mehreren Knechten einen gemeinsamen Auftrag, den sie trotz unterschiedlichen Charaktereigenschaften einmütig auszuführen haben.