Seltsamer Jona! Sein Betragen ist verwirrend für den, der noch nicht weiss, zu welchen folgewidrigen Handlungen der Mensch, ja sogar ein Gläubiger, imstande ist.
Wir sehen das nacheinander:
- Jona flieht vom Angesicht des HERRN weg, damit er nicht die ihm übertragene Botschaft der Warnung für Ninive ausrichten muss;
- er ist sich bewusst, als er bei dem grossen Sturm aufgeweckt wurde, dass dieser durch seine Untreue hervorgerufen worden war, denn er «fürchtet den HERRN», er spricht von Ihm zu den erschreckten Seeleuten, er belehrt sie, zeigt ihnen das Mittel zu ihrer Errettung («werft mich ins Meer»), so dass sie nach der Befreiung Gott huldigen;
- er fleht in seiner Bedrängnis aus dem Bauch des Fisches, und, von Gott einer strengen Zucht unterworfen, aber durch seine Güte bewahrt, dankt er noch im «Schoss des Scheols» für die grosse Befreiung, die ihm zuteilwerden würde;
- er geht, nachdem sein Wille gebrochen ist, nach Ninive, wo er die bevorstehende Umkehrung der grossen Stadt ankündigt;
- er wird Zeuge der in den Niniviten bewirkten Buße, weil sie Gott glaubten, und der göttlichen Barmherzigkeit, die sich über diese Bußfertigen ergiesst;
- und jetzt ist er erzürnt, dass Ninive verschont wird, mit einem Zorn, der sich noch steigert, als Gott den Wunderbaum verdorren lässt, nachdem Er ihn «bestellt» hat, so dass der missmutige Prophet sich nicht mehr daran freuen kann.
Ist es möglich, dass die gleiche Person, die durch die Umstände gegangen ist, wie sie uns in den zwei ersten Kapiteln mitgeteilt werden, jetzt unrecht findet, was der HERR danach tut, und sich erzürnt bis zur Unverschämtheit?
Es ist tatsächlich der Gleiche, mit einem Herzen, das jeden Abkömmling von Adam kennzeichnet, einem Herzen, das arglistig und verdorben ist (Jer 17,9). Der bevorzugteste Gläubige, heute der Christ, mit noch höheren Vorrechten begünstigt als Jona, versiegelt und befreit, behält hier auf der Erde die gleichen Wurzeln des Bösen, wie vor seiner Bekehrung. Darum sind ihm Beispiele wie das von Jona gegeben, damit er darauf achte, diese Wurzeln zu töten.
Jona war wohl ein «Prophet des HERRN», und früher sogar ein Prophet der Gnade für sein schuldiges, in Drangsal geratenes Volk, wie wir dies 2. Könige 14,25-27 entnehmen. Er wusste und konnte es besser als irgendein anderer bekennen, dass der HERR barmherzig ist (Jona 4,2), der, bewegt über die Drangsal Israels, Mitleid hatte und dem Volk Retter sandte (2. Kön 13,4.22.23). Und inzwischen hatte Jona im Bauch des Fisches für sich selbst in deutlichster Weise diese Barmherzigkeit erfahren (Jona 2).
Ach, es gibt keine demütigendere Feststellung als diese, dass die Tatsache, ein Gegenstand der Gnade Gottes und darin der Wegbereiter für sein Volk gewesen zu sein, in Jona nur die hochmütige Selbstsucht bestärkt, die uns von Natur anhaftet.
Als der HERR das erste Mal Jona beauftragte, das Gericht über Ninive auszusprechen, hat er sich erkühnt, diese Botschaft zu bemängeln, und er behauptete später, es im Licht der Barmherzigkeit Gottes getan zu haben (Jona 4,2)! Anstatt sich in Eile dem Willen dieses so gekannten Gottes zur Verfügung zu stellen, überlegt er: Gott droht Ninive, Er gibt ihr eine Frist, Buße zu tun, und wenn sie Reue zeigt, vergibt Er dieser gottlosen und für Israel gefährlichen Stadt, während ich, wenn meine Voraussage nicht eintrifft, als ein falscher Prophet angesehen werde!
Nachdem Jona die Tiefen des Scheols erfahren und den HERRN, seinen Retter, gelobt hat, geht er nach Ninive, aber er gehorcht widerwillig und ungern. Er setzt immer seine eigenen Gedanken über die seines Meisters, der ihn sendet, und übt Kritik an seinen Wegen, als wären sie nicht in Ordnung. Er ist eigentlich ebenso rebellisch wie damals, als er nach Tarsis floh. Sein Wille wurde in seinem Tun gehindert, aber sein Herz war nicht verändert.
Als Israelit ist er durchdrungen von der Überlegenheit und den Vorrechten seiner Nation, vergessend, dass der HERR sie nicht wegen ihrer Verdienste auserwählt hatte, sondern aus freier Liebe, und dass Er das Volk aufrecht erhalten hatte wegen seiner Treue zu seinem Bündnis (5. Mo 7,7; 9,7). Jona will keine göttliche Gnade für die Nationen, die er verachtet. Er ist der Wortführer jener Juden, die nie eingewilligt haben, dass ihr Gott der Gott aller ist. Übrigens findet sich die Geschichte Israels in diesen Begebenheiten des Lebens Jonas dargestellt. Das Bewusstsein, das auserwählte Volk zu sein, ist zum Nationalstolz geworden. Was zu dankbarer Demut hätte führen sollen, wurde zur Selbstbefriedigung und zu einer gottentfremdeten, formalistischen Religion. Welch ein Abgrund in unseren Herzen, dass die Entfaltung der Gnade darin solche Resultate hervorbringen kann!
Seien wir doch auf der Hut, dass bei uns Christen, die wir abgesondert worden sind durch dieselbe Gnade, dies nicht in ein Pharisäertum ausartet, wie der Herr Jesus in Israel einem solchen begegnet ist. Die verantwortliche Kirche hat himmlische Segnungen in ihrem Bereich, sie hat sich damit gebrüstet und ist so weit gekommen, dass sie behauptet, das Monopol des Heils zu besitzen. Der Tag ist nicht fern, wo Babylon, das sich christlich nennt, sagen wird: «Ich sitze als Königin …»
Dieser unnachgiebige Israelit war ferner durchdrungen von seiner Propheten-Würde. Nicht nur überträgt er die Wichtigkeit der Botschaft, die ihm übergeben ist, auf sich, sondern stellt sich über die Botschaft und somit über den, der sie ihm anvertraute. Ein Jahrhundert vorher hatte Elia sich von seinem Dienst zurückgezogen, weil er, trotz seines Gehorsams, das Volk nicht zu dem HERRN zurückführen konnte. Jona zieht sich zurück, bevor er gehorchte, aus Furcht, dass sein Dienst des Gerichts, wie er dachte, durch die Barmherzigkeit Gottes für nichtig erklärt werden könnte. Er hätte sich geehrt gefühlt, über Ninive das Gericht auszurufen und diesen Gottlosen die Vernichtung vorauszusagen, wenn er überzeugt gewesen wäre, dass am Ende von vierzig Tagen diese Vernichtung vollzogen worden wäre. Aber, wie ein anderer gesagt hat, «im Vorgefühl, dass, wenn Ninive Buße täte, Gott ihr Barmherzigkeit erweisen würde, befürchtete Jona, dass Gott zu gut sei»! Er betrachtete die Leute von Ninive jeder Vergebung unwürdig, und er sah nicht ein, dass er unwürdiger war als sie, er, der den Plan Gottes nach seinem eigenen Gutdünken schmälerte, der Gott richtete und eifriger für seinen eigenen Ruf besorgt war als für den Willen Gottes. Jede Milderung des Urteilsspruches erschien ihm als eine Unehre für sich selbst. Er empfand es schmerzhaft, als er sah, wie dieser Urteilsspruch zurückgezogen wurde, nachdem er ihn ausgerichtet hatte. Was bedeuteten ihm diese Tausende von Seelen im Vergleich zu seinem Ruf? Dieses erbärmliche Einstehen für das eigene Ich verrät seine niedrige Gesinnung, ganz besonders, als sein gekränkter Stolz begleitet wurde vom Unwillen über den Verlust des Wunderbaumes. Der entmutigte Elia hatte ganz andere Beweggründe, als er ausrief: «Es ist genug, nimm nun, HERR, meine Seele!»
Jona kannte sich selbst schlecht. Zweifellos stieg aus diesem Grund nicht der Gedanke in ihm auf, dass Ninive Buße tun könnte: er wusste nicht, was wahre Buße ist und ebenso wenig wusste er, dass Gott durch Güte zur Buße leitet.
Denn Jona hatte im Grund genommen zu lernen, und wir mit ihm, dass Gott nicht so sehr nach dem handelt, was wir sind, sondern nach dem, was Er ist, und dass seine Liebe alles übersteigt, was wir erdenken können.
Es ist wahr, Jona spricht von der Gnade, in seinem Gebet im 2. Kapitel. Er tadelt solche, «die auf nichtige Götzen achten und ihre Gnade verlassen«. Aber in seinen Gedanken ist die Gnade nur für sein Volk da, ihr exklusiver Besitz: Sein Ausspruch bezieht sich nur auf die Leute seines Volkes, die sich den Götzen zuwenden, auf die Bevorzugten, die den Bund Gottes vergessen, den Er mit ihnen geschlossen hatte. Er weiss nicht, dass Gott allein seinem Bündnis treu sein kann, weil dieser Bund aus reiner, unveränderlicher, aber souveräner Gnade Gottes entstand, und diese Gnade über die Grenzen des Volkes hinausgeht, und sie nur aus reiner Gnade das auserwählte Volk Gottes bleiben.
Welch ein ganz anderer Mensch wäre Jona gewesen, hätte er die Heiligtümer Gottes aufgesucht. Statt angesichts des nicht ausgeführten Gerichts zu zürnen, hätte er sich dann darüber gefreut, dass seine Botschaft, als von Gott kommend, geglaubt wurde (Jona 3,5) und Ninive Buße tat. Er hätte sich mit Gott gefreut, anstatt, wie der ältere Sohn im Gleichnis, sich zu weigern, an der Freude des Vaterhauses teilzunehmen. Er erzürnte gegen Gott.
Gehen wir weiter zurück! Hätte nicht, als ihm die Botschaft anvertraut wurde, sein erster Gedanke sein sollen, für Ninive im Gebet einzustehen, wie einst Abraham, der vor dem HERRN stehen blieb, als er erfuhr, was auf Sodom wartete, und zu flehen, dass die schuldige Stadt Buße tue und dass Sünder gerettet würden? Das Wichtige war nicht, ob Ninive zerstört wurde oder nicht – ein Hauch des Mundes des HERRN hätte dazu genügt (Jes 11,4) – sondern dass der Gottlose Buße tut und Gott ihm Gnade erweist. Da ist es, wo Gott seine Ehre einsetzt. Es liegt an Ihm, die nötige Sühnung zu finden, und wir wissen, wo und in wem sie gefunden worden ist, so dass jetzt allen das volle Heil angeboten werden kann, durch die Predigt von Jesus Christus, des Gekreuzigten.
Das alles sollte zu unseren Herzen reden, die wir die Liebe Gottes, offenbart in Christus, kennen und die wir in Beziehung zu Ihm stehen wie zu einem Vater, die wir seine Natur, sein Leben besitzen und in deren Herzen seine Liebe ausgegossen worden ist durch den Heiligen Geist. Wir sind hier auf der Erde gelassen, als Träger des Wortes des Lebens, jenes Evangeliums, das von dem vom Himmel offenbarten Zorn redet, damit bußfertige Sünder zum Heil geführt würden.
Seien wir also auf der Hut, die Gnade nicht zu missbrauchen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Zum Beispiel, wenn man Verachtung oder einfach Gleichgültigkeit denen gegenüber zeigt, die wir am Herzen haben sollten, um sie zu warnen und für sie zu beten. «Wir tun nicht recht. Dieser Tag ist ein Tag guter Botschaft; schweigen wir aber und warten, bis der Morgen hell wird, so wird uns Schuld treffen» – so sagten die in ihrem Gewissen beunruhigten Aussätzigen von Samaria (2. Kön 7,9). «Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!», sagte Paulus (1. Kor 9,16). Erinnern wir uns ferner an das Gleichnis des unbarmherzigen Knechtes (Mt 18,24-35). Die Abtrünnigen, von denen Judas ein düsteres Bild entwirft, verkehren nicht nur die Gnade in Ausschweifung, sondern suchen einen Vorwand, um sich in hochmütiger Weise abzusondern, indem sie gegen andere und gegen Gott murren. Die Menschen der bösen Zeiten der letzten Tage, die eine Form der Gottseligkeit aufrecht halten, deren Kraft aber verleugnen, sind unter anderem gekennzeichnet als «unversöhnlich», «grausam», «eigenliebig» (2. Tim 3,2.3).
Wenn wir wirklich wissen, und das noch viel besser als Jona, dass unser himmlischer Vater barmherzig ist, so lasst uns barmherzig sein wie Er. Freuen wir uns darüber, dass Er vergibt, preisen wir Ihn, der als Einziger imstande ist, sich über das Böse zu erheben, weil Er im Werk seines Sohnes das Mittel der Vergebung gefunden hat. Lasst uns lieben, weil Er uns geliebt hat!
Wir möchten noch die wunderbare Geduld unterstreichen, die der HERR Jona erwiesen hat. Hören wir Ihn zu Jona reden, als dieser sich erzürnte. «Ist es recht, dass du zürnst? … Ist es recht …?» Welch einfache Wege schlägt Gott ein, um ihn zu überführen! Er lässt den wohltuenden Wunderbaum wachsen und nimmt ihn dann weg. Ein demütiger Jona hätte ausgerufen: «Welch ein Tor bin ich! Ohne das göttliche Eingreifen komme ich um, und eines seiner geringsten Geschöpfe genügt, um mir das Leben zu retten!» Doch im Gegenteil, er wurde missmutig: Mit Recht zürne ich; wenn ich nicht mehr Bedeutung habe in deinen Augen, ist es besser, dass ich sterbe. Aber Gott stellt ihn vor seine Güte, die Er zu seinen Geschöpfen hat, zu denen Jona, obwohl er Prophet war, auch gehört. Er hat kein anderes Anrecht auf die Gunst Gottes, als das kleinste und schlechteste Geschöpf: er ist auch ein Gegenstand seiner Barmherzigkeit.
Mit dieser klaren und souveränen Erklärung Gottes, der sich herablässt, seine Wege zu rechtfertigen, kommt die Geschichte Jonas zum Abschluss. Sie lässt den Propheten in seinem Missmut zurück. So ist es durch die ganze Geschichte Israels hindurch, von dem Jona, wie wir daran erinnert haben, ein Vorbild ist: Israel schritt von einem Stadium zum anderen, jedes gekennzeichnet durch eine neue und immer traurigere Erfahrung, was die menschliche Natur anbetrifft, bis die Geschichte mit einem grossen Fragezeichen vonseiten des Menschen endete. Aber jede Phase endete auch mit einer immer klareren Bekräftigung der Treue Gottes zu seinen Verheissungen, die die Liebe diktiert hat, sowohl seinem Volk als auch der ganzen Menschheit gegenüber. Der Glaube schaut auf diese unumstösslichen Verheissungen, sieht deren Erfüllung in Christus (2. Kor 1,20) zur Verherrlichung Gottes und zum Wohl derer, die seinem Wort glauben. Das Gericht ist ein fremdes Werk für Ihn; seine Freude und seine Ehre ist, Gnade zu erweisen.
Und wenn wir zum Neuen Testament übergehen, ist es nicht rührend festzustellen, dass Jona unter allen Propheten und Männern Gottes des Alten Testaments der Einzige ist, den Jesus als ein Vorbild von Ihm in seinem Tod und von Ihm als Prediger bezeichnet (Mt 12,40.41)? Der «Grössere als Jona» stellt so das Ergebnis seines Zeugnisses in Ninive ans Licht. Er lässt den Widerhall davon vor die Seele treten, bis zum Tag des kommenden Gerichts. Dann wird gesehen werden, was Jona in seinen Tagen nicht wahrzunehmen wusste, nämlich, dass die Barmherzigkeit von der Gerichtsandrohung unzertrennlich ist. Es gab damals Buße und folglich Barmherzigkeit; aber es wird auch – und nichts ist ernster als das – Gericht ohne Barmherzigkeit geben für alle, die die Güte Gottes verachtet haben werden.
«Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben, betend im Heiligen Geist, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben» (Judas 20-21).