Die Schrift sagt: «Die Bruderliebe bleibe» (Heb 13,1). In der Tat, sie ist so kostbar, dass es unverständlich ist, wenn wir sie je versiegen lassen. Aber wir sind so unweise Leute und lassen uns so leicht vom verhärtenden Einfluss der Welt durchdringen, dass da, wo glückliche Gemeinschaft gewesen war, oft Kälte hereinschleicht.
Oft trocknet die Bruderliebe nur darum aus, weil man ihr nicht wenigstens einen kleinen Ausdruck gibt, und unser wachsamer Feind ist nur zu froh, sie absterben zu sehen. Darum, lieber Bruder, wenn du in deinem Herzen Liebe hast zu deinen Mitgeschwistern, so verbirg sie nicht wie ein Geheimnis, das nicht bekanntwerden darf. Halte die kleinen Zeichen der Liebe nicht zurück, die nicht nur das Herz deines Bruders erfrischen, sondern auch in dem deinen die Liebe am Aussterben hindern. Man kann sich vorstellen, wie Satan sich freut, wenn es ihm gelingt, Christen einander zu entfremden. Wo du diese Entfremdung wahrnimmst, siehst du das Werk Satans; aber wo Christen einander lieben, siehst du das Werk des Geistes Gottes, denn «die Liebe ist aus Gott» (1. Joh 4,7). Siehst du einen Christen in der Kraft der Liebe wandeln? Dann ist jemand vor dir, der unter göttlicher Belehrung steht, denn Paulus sagte von den Thessalonichern, dass sie von Gott belehrt seien, einander zu lieben (1. Thes 4,9). Gott ist verherrlicht und Satan überwunden, wenn unter den Christen die Liebe herrscht.
Die Schrift macht zwischen «Liebe» und «Bruderliebe» einen Unterschied. Auch im Urtext sind es verschiedene Wörter. Liebe ist «agape» und Bruderliebe «philadelplia». «Philadelphia» ist eigentlich eine Liebe, die Freundlichkeit einschliesst, in welcher Form sie unter Brüdern ausgeübt wird. In gewissen Übersetzungen wird dieses Wort auch mit «brüderlicher Zuneigung» wiedergegeben.
Petrus mahnt uns, in der Gottseligkeit die Bruderliebe darzureichen (2. Pet 1,7). Trockene Gottseligkeit – wenn man so sagen darf – genügt nicht; Gottseligkeit muss mit der Wärme christlicher Freundlichkeit, mit brüderlicher Zuneigung verbunden sein. Wie starr und mühsam, wie knirschend und knarrend bewegt sich die Maschine, ja, vielleicht gar nicht, wenn nicht ein paar Tropfen Öl alles reibungslos gemacht haben. So ist es auch mit der Liebe unter den Geschwistern. Liebe überwindet die Schwierigkeiten des Tages, die Kälte und die Teilnahmslosigkeit. Sie gewinnt die Herzen der Heiligen, um ihnen zu dienen. Sicher ist es nicht ohne Bedeutung, dass in einem Buch so voller Sinnbilder wie die Offenbarung, «Philadelphia» der Name der vielleicht am meisten gelobten Versammlung unter den sieben ist.
Bruderliebe allein genügt nicht; sie würde bald zu einem bloss menschlichen Gefühl entarten. «Reicht auch dar … in der Gottseligkeit die Bruderliebe.» Dann heisst es weiter: «in der Bruderliebe aber die Liebe», Liebe in ihrem höchsten, weitesten, edelsten Sinn: Liebe zu Gott, Liebe in der Wahrheit, Liebe zu den Brüdern, die sich darin erweist, dass wir nach seinen Geboten wandeln (2. Joh 1-6), Liebe zum armen, gefallenen Menschen. Wie vollkommen ist doch die Schrift!
Liebe zu den Brüdern ist ein Beweis göttlichen Lebens. Erstens für uns selbst: «Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben» (1. Joh 3,14); zweitens für die Welt: «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt» (Joh 13,35).
Liebe unter Christen ist also ein positives Zeugnis für Gott in der Welt. Wünschen wir, ein Zeugnis für Christus zu sein, das Evangelium zu verkündigen? Ein guter Wunsch! Aber nicht alle sind dafür begabt. Doch gibt es ein Zeugnis, das jeder darstellen kann, selbst der Geringste. Der ist der Grösste, der es am deutlichsten zeigt, und die glänzendste Gabe ist nichts ohne dieses Zeugnis. Es ist die Liebe! Liebe «in der Wahrheit», offenbart unter Gläubigen, verkündigt der Welt Christus.