Dieser Mann und was er getan hat wird nur im zweiten Timotheus-Brief erwähnt (2. Tim 1,16-18; 4,19). Aber sein Beispiel leuchtet umso mehr hervor, als die moralische Finsternis, von der dieser Brief spricht, dichter geworden ist. Paulus hatte in Rom eine zweite Gefangenschaft zu erleiden, die viel strenger war als die erste (Apg 28); und was ihm noch viel mehr zusetzte, als diese persönlichen Umstände, war dies, dass er aus der Tiefe seines Gefängnisses machtlos den Vorboten des Zusammenbruchs dessen zusehen musste, wofür er sein Leben aufgeopfert hatte. Mehr als je drängte die Sorge um alle Versammlungen auf ihn ein. Aber er hatte ja dieses Gut dem anvertraut, der die Macht hatte, es zu bewahren. Mochte nach aussen hin jeder Stützpunkt zusammenbrechen, der feste Grund Gottes blieb bestehen. Der, dem Paulus geglaubt hatte, konnte nicht anders als den Glauben rechtfertigen, den er in Ihn gesetzt hatte.
Solange das Werk ein schönes Aussehen und Gedeihen hatte, fehlte es kaum an Schmach. Aber jetzt, wo sein Hauptkämpfer Trübsal litt bis zu Fesseln, wie ein Übeltäter (2. Tim 2,9), wurden die Herzen erprobt, und die Abtrünnigen mehrten sich. Die meisten hatten sich vom Apostel abgewandt, weil sie fanden, dass sein Weg entschieden zu eng sei. Was sie verleugneten, war nicht der christliche Glaube, sondern die Lehre des Paulus, die er selbst verkörperte: ein himmlisches Christentum, das auf der Erde Schmach, Verfolgungen, Leiden, vielleicht sogar den Tod nach sich zog. Die übrigen, die man zählen konnte, waren solche, die seine Lehre genau erkannt hatten (2. Tim 3,10) und darin lebten: ein Timotheus, ein Lukas und vielleicht noch einige andere in Rom (2. Tim 4,11.21), wie auch dieser verborgene Gläubige Onesiphorus, dem der grosse Apostel hier ein kurzes und glänzendes Zeugnis gibt.
Dieser Mann, dessen Name «Nutzenbringer» bedeutet, war bekannt als einer, der schon in der Stadt Ephesus viel gedient hatte (2. Tim 1,18). Er war von denen, die, weil «sie wohl gedient haben, sich eine schöne Stufe und viel Freimütigkeit im Glauben erwerben, der in Christus Jesus ist» (1. Tim 3,13). So sehr, dass der Herr, nachdem Er ihn so zubereitet und seine Treue im Kleinen auf die Probe gestellt hatte, ihm Grösseres anvertrauen konnte: nichts weniger als die Tröstung eines Apostels.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Diensten, sollte dieser Dienst, zudem ein gefährlicher, in Rom ausgeübt werden, weit weg von Ephesus, wo Onesiphorus sein «Haus» hatte, so dass dieses während seiner langen Abwesenheit besondere Barmherzigkeit nötig hate. Paulus unterliess es nicht, vor dem Herrn daran zu denken (2. Tim 1,16). Er beauftragt Timotheus, den Gliedern dieser Familie, die aus Liebe zu ihm Trennung und Besorgnis auf sich nahmen, besondere Grüsse zu übermitteln (2. Tim 4,19). Die doppelte Botschaft des Apostels zeigte ihnen, dass dies nicht umsonst war: der Dienst, mit dem sie sich durch ihr Opfer verbunden hatten, brachte wohltuende Früchte. Und dieses Beispiel ist sehr ermunternd für die Familien unserer Brüder, die das Werk des Herrn beruft, von den Ihren weit fortzureisen. Gattin und Kinder, so verbunden mit dem Dienst unter den Gläubigen und am Evangelium, können mit einer ganz besonderen Barmherzigkeit seitens des Herrn rechnen, jetzt und «an jenem Tag», dem Tag der Vergeltung (2. Tim 4,8).
Nein, Gott ist nicht ungerecht, dieses Werk zu vergessen und die für seinen Namen bewiesene Liebe, da sie den Heiligen gedient haben und noch dienen (Heb 6,10). In der Tat, Onesiphorus und sein Haus dienten dem Herrn, wenn sie den Heiligen in Ephesus und dann auch der Person des Paulus in Rom dienten. Daher wird «an jenem Tag» vom Meister das Wort der Anerkennung an sie gerichtet werden: «Ich war im Gefängnis, und ihr kamt zu mir» (Mt 25,36).
Wir haben keinerlei Anlass zu denken, dass Onesiphorus eine besondere Gabe gehabt habe. Und wenn es so gewesen wäre, so hätte er sie in jenem Augenblick gewiss nicht ausgeübt. Es stand ihm nicht zu, den Apostel Paulus zu unterweisen oder aufzuerbauen, vielmehr hätte ihn dieser belehren und auferbauen können. Was war denn der Dienst, den dieser einfache Gläubige gegenüber dem grössten Apostel zu erfüllen imstande war? Wozu konnte Paulus diesen bescheidenen Bruder nötig haben, der nicht zu seinen gewohnten Mitarbeitern zählte? Ganz einfach: «er hat mich oft erquickt», kann der Gefangene im Herrn bezeugen, indem er so durchblicken lässt, oftmals Trost nötig gehabt und geweint zu haben. Ach, wie wertvoll sind Besuche, einfache Besuche, ohne vorgefasstes Programm, ohne vorbereitete Rede, in der Abhängigkeit von Gott gemacht – und dies ist wichtig – in der guten Weise und im rechten Augenblick, das heisst dann, wann die Tröstung dem Bedürfnis nach Trost entspricht!
Einst hatte der Herr selbst seinen Apostel besucht, in einem anderen Gefängnis, in einer Stunde der Entmutigung (Apg 23,11). Diesmal sandte Er ihm einen seiner Knechte, von dem Er wusste, dass er moralisch zubereitet war, um Ihn zu ersetzen, dass er gekennzeichnet war durch drei notwendige Züge für diesen besonderen Dienst: durch Liebe, Mut und Ausharren.
Die Liebe des Onesiphorus
In einer Zeit, in der in Ephesus die erste Liebe schon abnahm, in der Asien (wovon Ephesus das Zentrum war) das traurige Signal zu einem allgemeinen Niedergang gab, hat die Liebe dieses Ephesers ihn zu Paulus geführt, dem armen greisen Gefangenen, der von allem entblösst war, um sich im Dienst für ihn zu verwenden. Denn die Liebe gibt lieber als dass sie nimmt. Es wird uns nicht gesagt was Onesiphorus mit seinem sensiblen und hingebenden Herzen für den Gefangenen getan hat – vermutlich brachte er ihm materielle Hilfe, aber es wird nicht gesagt – auch nicht, was er ihm sagen konnte mit der Zunge der Belehrten, die den Müden durch ein Wort aufzurichten weiss. Aber wir wissen, was er für den Apostel gewesen ist, was ihm seine Gegenwart gebracht hat: einen Trost von dem Gott allen Trostes, der ihn in seiner Drangsal zu trösten vermochte (2. Kor 1,3). Ein von Gott gelehrter Takt, eine Hingabe, die umso mehr geschätzt wurde, als der Apostel allein war – das war die Sprache der göttlichen Liebe, die der Apostel verstehen konnte.
Der Mut des Onesiphorus
Es war zu einer Zeit unter Nero, in der sich die Verfolgung gegen die Christen verstärkte. Paulus aufsuchen, hiess, sich als solchen zu erkennen geben; in sein Gefängnis eindringen, hiess Gefahr laufen, zurückbehalten zu werden. Trotzdem hat er «sich meiner Kette nicht geschämt», bezeugt der Apostel, und man kann verstehen, dass dieser Mut an sich schon tröstend war für ihn, als so viele schlechte Soldaten Jesu Christi sich weigerten, an den Leiden teilzunehmen und «umkehrten am Tag des Kampfes» (Ps 78,9). Zu der Ermahnung an Timotheus, sich seiner, des Gefangenen im Herrn nicht zu schämen (2. Tim 1,8), konnte er dieses Beispiel des Onesiphorus anführen, der viel weniger im Vordergrund stand als Timotheus, aber der statt der Kette des Paulus dessen Krone beachtete (2. Tim 4,8), und der sich eins machte mit dessen Schmach, wissend, dass er einst auch an der Herrlichkeit teilhaben wurde. «Gedenkt der Gefangenen als Mitgefangene», lesen wir im Hebräerbrief (Heb 13,3). Neunzehnhundert Jahre später fährt die Welt in vielen Ländern fort, die Träger des Namens Jesu einzukerkern. Dies gibt uns Gelegenheit, im Geist und im Gebet an ihren Fesseln teilzuhaben. Versäumen wir nicht, es zu tun, und unterlassen wir nie, in unseren Gebetsversammlungen an diese verfolgten Geschwister zu denken! Lasst uns auch ganz allgemein nicht aus dem Auge verlieren, dass wir hier auf der Erde nicht nur mit gefangenen Dienern eins gemacht sind, sondern auch mit einem gekreuzigten Herrn, und ermahnt sind, uns weder ihrer Ketten noch des Kreuzes Jesu Christi zu schämen.
Das Ausharren des Onesiphorus
Es erglänzt in doppelter Weise. Zuerst darin, dass er den Gefangenen «sehr sorgfältig» (franz. Übersetzung) gesucht hatte – ein Beweis, dass man diesen von jedem äusseren Kontakt abgeschlossen hatte. Er hatte sein Suchen und seine Nachforschungen solange fortgesetzt, bis er ihn fand. Darauf liess er es nicht mit einer kurzen Begegnung mit dem Apostel bewenden, sondern hat seine Besuche wiederholt, solange es nötig war, bis der Trost «überreichlich» wurde (2. Kor 1,5). «Er hat mich oft erquickt», sagt der Apostel. Welch ein Beispiel für uns, die wir uns oft für kurze Zeit in einen Dienst gegenüber anderen stürzen, im Impuls unserer Gefühle, die uns schnell verlassen, weil es fleischliche Gefühle sind. Das Ausharren ist im Gegensatz dazu das Wesen des Glaubens. «Ihr aber, Brüder, ermattet nicht, Gutes zu tun», schrieb der Apostel den Thessalonichern (2. Thes 3,13).
Liebe, Mut, Ausharren, jeder dieser Züge, wiederholen wir es, erfordert keine besondere Fähigkeit. Lasst uns nicht meinen, es brauche die Gnade eines Hirten oder man müsse in den Schriften bewandert sein, um einem Kranken oder einem Bedrängten einen Besuch zu machen. Jeder Bruder, jede Schwester mit einem mitfühlenden, hingebenden Herzen, die die Bedürfnisse ihrer Geschwister ihren eigenen Interessen voranzustellen weiss, ist geeignet für einen solchen Dienst. Die Liste der «verschiedenen Gnadengaben», die denen gegeben werden, die nach Römer 12 ihre Leiber als lebendige Schlachtopfer darstellen, schliesst mit der Erwähnung dessen, «der da Barmherzigkeit übt», ein Dienst, der in der Reichweite aller Heiligen ist. Und vergessen wir nicht die Verheissung des Herrn: «Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteilwerden» (Mt 5,7). So wenig wie gegen Onesiphorus, wird sie auch gegenüber den Seinen nicht fehlen: «Der Herr gebe dem Haus des Onesiphorus Barmherzigkeit … Der Herr gebe ihm, dass er … Barmherzigkeit finde.»
Aber schon in der Erfüllung solcher Dienste liegt eine gegenwärtige Segnung. Zweifellos hat Onesiphorus, dieser «Nutzenbringer», dabei selbst Nutzen empfangen und hat dieses Gefängnis glücklich verlassen. Ohne Zweifel hat er Erfahrungen gemacht von der in Römer 1,12 erwähnten Gegenseitigkeit: «Um mit euch getröstet zu werden in eurer Mitte, ein jeder durch den Glauben, der in dem anderen ist, sowohl euren als meinen», sagt der Apostel. Und wie oft ist diese Erfahrung bei den Besuchen, die man machen kann, erneuert worden! Man glaubte, etwas zu bringen und kehrte mit erfülltem Herzen zurück, selber auferbaut, durch die Festigkeit, die Unterwürfigkeit, den Glauben, das Ausharren dessen, den der Herr aufrecht hält, und der, weil er Ihn durch seine Trübsal besser kennengelernt hat, den Besucher an seiner Erfahrung teilnehmen lässt. Man begibt sich zu ihnen und findet dort Jesus. Wie viele Krankenzimmer, Trauerhäuser und dunkle Kerker sind für einige Augenblicke zum Himmel auf der Erde geworden, für die Gläubigen, die sich dort begegneten!
Paulus und Onesiphorus, davon sind wir überzeugt, haben sich nicht über unnütze Dinge unterhalten, wie dies leider bei unseren Besuchen geschehen kann. Worüber konnten sie sich unterreden, wenn nicht von dem, was ihnen am Herzen lag, dem einen wie dem anderen: der Dienst unter den Heiligen und am Evangelium? Wessen konnten sie gedenken, wenn nicht des Herrn «Jesus Christus, auferweckt aus den Toten …»? (2. Tim 2,8), der grosse Gegenstand, der der Mittelpunkt der Unterredungen der Kinder Gottes sein sollte, wenn sie sich begegnen. Wir können auch vermuten, dass Onesiphorus das Vorrecht hatte, aus dem Mund des Dieners des Herrn das Wesentliche dessen zu vernehmen, was er in diesem Brief an Timotheus schriftlich niedergelegt hat. Schliesslich zweifeln wir nicht, dass diese beiden Brüder auch miteinander gebetet haben.
Mehrere hatten die Ehre, Mitarbeiter des Werks des ersten der Apostel zu sein; andere wurden seine Begleiter. Hier aber haben wir einen, der einfach sein Genosse war im Leiden, der ihn in der Stunde der Trübsal zu finden wusste, um diese mit ihm zu teilen und ihm etwas Stärkung vom Herrn zu bringen, indem er ihm etwas zu trinken gab vom Wasser aus «dem Bach auf dem Weg» (Ps 110,7).
Wir lieben es, in diesem zweiten Brief an Timotheus die unbezwingliche Energie und den unerschütterlichen Glauben zu betrachten, die darin, als eine Frucht dieses Trostes erglänzen, den er zuvor durch die Besuche dieses Bruders empfangen hat. Und die drei Verse, bei denen wir uns aufgehalten haben, zeigen uns gleichzeitig, dass Paulus keineswegs ein Übermensch war und nicht ein Mann, der unempfindlich war gegenüber Prüfungen, sondern ein Gläubiger, der zu seiner Stunde, wie wir, diesen «Trost der Liebe» benötigte, den unser treubesorgter Herr den Seinen so oft durch eine Zwischenperson zukommen lässt.
Möge der Herr, der uns in seinem Wort dieses Beispiel gegeben hat, uns oft zum Trost der Seinen gebrauchen!