Menschlicher Verstand und christlicher Glaube

Römer 1,20

Der Verstand, womit Gott sein Geschöpf ausgerüstet hat, ist eine wichtige Fähigkeit. Aber der Mensch kann – wie von allen Gaben des Schöpfers – einen schlechten Gebrauch davon machen. Warum? Weil er nicht immer dessen Grenzen anerkennen will. Diese Fähigkeit ist auf dem menschlichen Gebiet unerlässlich (vgl. 1. Kor 2,11); da kann sie sich oft sehr hoch erheben. Um dies zu beweisen, brauchen wir nicht Beispiele anzuführen; vom Altertum bis zu unseren Tagen gab es ungezählte Menschen, die durch ihre Talente oder ihr Genie hervorgetreten sind.

Der Verstand ist sogar fähig, gewisse Eigenschaften Gottes zu erkennen: Der Apostel Paulus bezeugt, dass es dem Menschen möglich sei, «sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit» wahrzunehmen (Röm 1,20), d.h. sich davon Rechenschaft zu geben, dass das «Gemachte» durch ein Wesen entstanden ist, das uns unendlich überlegen ist. Man weiss ja, dass unter den griechischen und römischen Heiden mehrere Philosophen waren, denen die Betrachtung der Natur bewies, dass es eine schöpferische Kraft geben müsse.

Da aber ist, wenn es sich um göttliche Dinge handelt, die Kraft des Verstandes am Ende. Er ist unfähig, die wahre Natur Gottes, sein Wesen zu erfassen. In der Tat, wie könnte ein begrenztes Wesen den Unendlichen begreifen? «Unergründlich ist sein Verstand» (Jes 40,28). «Seiner Einsicht ist kein Mass» (Ps 147,5). Und wie könnte anderseits ein Sünder den erfassen, der die Heiligkeit selbst ist?

Diese Feststellung, die uns zur Verzweiflung treiben müsste, wenn wir nur auf die eigenen Mittel angewiesen wären, lässt uns die unbedingte Notwendigkeit einer göttlichen Offenbarung erkennen. Der Gläubige weiss, dass sie im Wort Gottes enthalten ist. Gott offenbart uns darin vor allem seinen Sohn, und dies auf eine Weise, die nicht aus der menschlichen Überlegung hervorkommt: «Fleisch und Blut», sagt Jesus zu Petrus, «haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist» (Mt 16,17; vgl. Joh 6,44). Tatsächlich, vor sein Angesicht gestellt, fühlen wir uns von Ihm ergriffen; Er steht in einer erhabenen Autorität vor uns, der wir nicht widerstehen können, und wie Petrus rufen wir aus: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes» (Mt 16,16). Und wenn wir uns in seiner heiligen Gegenwart als verlorene Sünder bewusst werden, begrüssen wir Ihn als den Heiland unserer Seele. Der Sohn seinerseits führt uns zu Gott, den Er uns als den Vater kundmacht (Mt 11,27; Joh 14,6).

Diese geheimnisvolle Weise, in der wir zur Offenbarung des Sohnes und des Vaters gelangen, bedeutet das Ende der Behauptungen unserer privaten Auffassung von Gott, denn diese Offenbarung wurde nicht den «Weisen und Verständigen» gegeben, sondern den «Unmündigen» (Mt 11,25).

Durch den Glauben, dieser Gabe Gottes, ist es uns geschenkt worden, diese so erhabenen Dinge zu erkennen, und indem wir sie erkennen, können wir durch den Glauben als Christen leben. Der Grundsatz des Lebens des Gläubigen ist in dieser Beziehung derselbe wie der seiner Bekehrung. Der Glaube ist es, nicht der Verstand, der uns ermöglicht, in die Gegenwart Gottes einzutreten: «Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, um die Dinge zu kennen, die uns von Gott geschenkt sind» (1. Kor 2,12). Daher müssen wir uns auf diesem Gebiet vor unserem gewohnten Vorgehen der Ergründung der Dinge hüten: «Vertraue auf den HERRN mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich nicht auf deinen Verstand» (Spr 3,5).

Die göttliche Offenbarung anzuerkennen, erscheint dem natürlichen Menschen als unzumutbare Verleugnung seiner Vernunft. Aber für den Glaubenden ist es ein Grund tiefer Freude, auf diese Weise durch die Gnade Gottes Zutritt zu haben zu einem Gebiet der Erkenntnis, die unendlich erhaben und gesegnet ist. Seine Gesinnung ist erneuert (Röm 12,2). Er unterwirft seine Vernunft; aber nur um befähigt zu werden, sie auf eine ganz neue Weise zu gebrauchen, die endlich den Gedanken Gottes entspricht. Von seiner unbedingten Unfähigkeit überzeugt, sich durch die eigenen Mittel bis zu Gott zu erheben, ist er Ihm dankbar, dass Er sich in seiner Gnade herabgelassen hat, ihn auf eine erhabene Weise zu erleuchten und sich ihm zu offenbaren, indem Er ihn durch das Erlösungswerk des Kreuzes errettet hat. Denn diese Offenbarung bringt ihm mit dem Frieden des Herzens eine unversiegbare Quelle der Glückseligkeit und der Kraft. «Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!» (2. Kor 9,15).