Die Schilderung der Freundschaft, die David mit Jonathan verband, ist eine der ergreifendsten im Wort Gottes. Ich denke nicht, dass in der ganzen Weltliteratur ein anderes, ebenso rührendes Beispiel einer so reinen, edlen und jeder Selbstsucht freien Freundschaft zu finden ist.
Und doch haben sich, ohne dass es zwischen ihnen je die geringste Auseinandersetzung gegeben hätte, ihre Beziehungen schrittweise abgekühlt, und ihre Wege sind auseinandergegangen. Wenn dies unter den Menschen auch häufig vorkommt, so handelt es sich hier doch um einen inspirierten Bericht und nicht um irgendeine schöne Seite der Literatur, und Gott will uns dadurch eine nützliche Lektion erteilen.
Die Liebe Jonathans zu David ist ein Bild der Zuneigung des Gläubigen zu Christus, die gefährlich nachlassen und abnehmen und zu einem völligen Sich-von-Ihm-Entfernen führen kann. Zweifellos ist es vorzüglich, sich mit der Liebe Christi zu uns zu beschäftigen; aber unsere Liebe zum Herrn ist ebenso sehr eine Wirklichkeit von höchster Bedeutung. Es ist wohl wahr – wie jemand gesagt hat –, dass unsere Liebe zu Ihm, gemessen an seiner Liebe zu uns, nicht einmal mit einem Kerzenlicht vor den Strahlen der Sonne verglichen werden kann, und Er selbst hat ja dieses schwache Licht angezündet; aber der Glanz seiner Liebe lässt es völlig verblassen, ohne es jedoch auszulöschen. Nichtsdestoweniger misst Er unseren Zuneigungen einen grossen Wert bei, und Er empfindet jedes Nachlassen unserer Liebe. Darum ist also die Geschichte Jonathans so voller Belehrung für uns.
Lasst uns nach der verborgenen Ursache forschen, die Jonathan veranlasste, David aufzugeben, nachdem er ihn am Anfang so sehr geliebt und bewundert hatte! Prüfen wir das erste und das letzte Zusammentreffen der beiden jungen Leute etwas näher (1. Sam 18 und 20).
In Kapitel 17 erfocht der junge David einen glänzenden Sieg über den Riesen Goliath. Nach vierzig Tagen der Furcht, der Demütigung und der Spannung, während denen sich der über drei Meter grosse Riese morgens und abends vor die Schlachtreihen stellte (Vers 16), entsteht nun eine Explosion der Freude, Siegesgeschrei und eine Niederlage der Philister (Vers 52). Sobald aber der glorreiche Sieger vor Saul und Jonathan erscheint, spielt sich eine intimere Szene ab. Der Sohn des Königs betrachtet mit Bewunderung den jungen Hirten, der die Zeichen seines Sieges – das Haupt und die Waffen Goliaths – mit sich trägt. Er fühlt sich von der Person und der moralischen Schönheit Davids noch mehr angezogen als von seinem Sieg. «da verband sich die Seele Jonathans mit der Seele Davids; und Jonathan liebte ihn wie seine Seele» (1. Sam 18,1). Die Eifersucht spielt in den menschlichen Beziehungen eine ungeheure Rolle; und je näher die Menschen der Quelle der Macht sind, desto fühlbarer werden der Einfluss und die Verheerung der Eifersucht. Aber hier empfindet der Sohn des Königs, der kurz zuvor im Kampf gegen die Philister durch Glauben einen grossen Sieg errungen hat (1. Sam 14), keinerlei Gefühle des Neides oder der Bitterkeit, wenn er sich in der Gunst des Volkes so plötzlich übertroffen sieht; im Gegenteil, er gesteht sich seine Nichtigkeit ein und entäussert sich dessen, was er besitzt: Seines Oberkleides, seines Waffenrocks, seines Schwertes, seines Bogens und seines Gürtels, um es dem Sieger als Huldigung darzubringen. Eigenartiges Schauspiel! Der einfache Hirte, durch Samuel schon im Geheimen zum König gesalbt (1. Sam 16,13), wird hier mit allen königlichen Rangabzeichen bekleidet.
Ist Jonathan nicht ein schönes Bild eines Gläubigen, der, nachdem er die Grösse des Sieges des Herrn am Kreuz über die Macht Satans erkennt, sich an die Person seines Heilands anschliesst? Innige Bande, tiefe Zuneigung und Gemeinschaft entstehen durch die Betrachtung seiner verschiedenen Herrlichkeiten, seiner unendlichen Vollkommenheiten. Wie gerne möchte man doch sehen, dass viele junge Christen von ihrer Bekehrung an von ganzem Herzen dem Herrn anhingen (Apg 11,23), mit derselben Begeisterung, demselben Eifer wie ein Jonathan, dessen Seele sich mit der von David verband. Wer wagte die Aufrichtigkeit und die Tiefe dieser gegenseitigen Zuneigung in Zweifel zu ziehen? Sie war für David inmitten seiner Trübsale wie Balsam. und als er den Tod Jonathans auf dem Gebirge Gilboa vernahm, da stimmte er eine herzzerreissende Klage an. Ein Dichter hat gesagt: «Die Gesänge tiefster Verzweiflung sind die schönsten; ich kenne solche, die wie blosses Schluchzen anzuhören sind.» Treffen diese Worte nicht auf den Schmerz Davids zu: «Mir ist wehe um dich, mein Bruder Jonathan! Holdselig warst du mir sehr; wunderbar war mir deine Liebe!» (2. Sam 1,26).
Doch wird dieser gleiche Jonathan, dessen tiefe Zuneigung unleugbar ist, David nicht bis zum Ende folgen und wird mit seinem Vater Saul ins Verderben hineingezogen werden. Eines fehlte ihm, und seine Geschichte lehrt uns, dass eine wahre und aufrichtige Liebe für die Person des Christus nicht genügt, um Ihn bis zum Ende unseres Laufes zu ehren. Betrübende Feststellung, die uns viel über die ernste Lektion nachsinnen lässt, die uns Gott mit dem Leben Jonathans geben will. Wir hätten gewünscht, dass seine Geschichte mit dem Auftreten in 1. Samuel 18 abgeschlossen wäre; aber Gott teilt uns zu unserer Unterweisung nicht nur die ersten, sondern auch die letzten Handlungen seiner Knechte mit (2. Chr 25,26; 26,22).
Die erste Geschichte Jonathans ist ein erhebendes Beispiel; die letzte, in Kapitel 20, ist überaus schmerzlich. Gewiss, er hat in den dazwischen liegenden Kapiteln 18 und 19 verschiedene Male versucht, bei seinem Vater als Vermittler einzutreten. Wenn David ausruft: «Was habe ich getan? Was ist meine Ungerechtigkeit und was meine Sünde vor deinem Vater, dass er nach meinem Leben trachtet? … Nur ein Schritt ist zwischen mir und dem Tod!» – So ist Jonathan, verblendet durch seine natürliche Liebe zu seinem Vater, dadurch nicht so aufgeschreckt, sondern verspricht nur, Saul auszuforschen (Vers 12) und dessen Absichten David mitzuteilen. Er scheint bei seinem Vater immer noch mit einem Gesinnungswechsel zu rechnen; er hat das völlige Verderben des Fleisches noch nicht begriffen.
Beim Mahl des Neumonds fragt Saul: «Warum ist der Sohn Isais weder gestern noch heute zum Mahl gekommen?» (Vers 27). Wenn er gegen seinen Schwiegersohn Gedanken des Hasses und des Mordes hegt, gibt er ihm den verächtlichen Namen: «der Sohn Isais», der an seine bescheidene Herkunft erinnert (1. Sam 20,27.30.31; 22,7.13); wenn er aber eine vorübergehende Reue empfindet, nennt er ihn: «mein Sohn David» (1. Sam 24,17; 26,17.21.25). Jonathan antwortet ruhig auf diese Frage, aber der König, unfähig, länger an sich zu halten, beschimpft seinen Sohn und seine eigene Gattin: «Sohn einer widerspenstigen Verkehrten! Weiss ich nicht, dass du den Sohn Isais auserkoren hast zu deiner Schande?» (Vers 30). Und wenn Jonathan den Mut hat, für David offen Partei zu nehmen: «Warum soll er getötet werden? Was hat er getan?» (Vers 32), wirft Saul den Speer nach ihm, um ihn zu treffen. Das Wort fügt hinzu: «Jonathan stand vom Tisch auf in glühendem Zorn … denn er war betrübt um David, weil sein Vater ihn geschmäht hatte» (Vers 34). Nie war Jonathan grösser, edler als in diesem Augenblick, da er die Sache des verachteten David verteidigt! Er erwähnt nicht die Schmähung, die ihm und seiner Mutter widerfuhr, sondern fährt auf bei der Beschimpfung Davids.
Welche Lektion für uns, die wir oft viel mehr geneigt sind, unsere Rechte zu verfechten, statt die des Herrn, die wir durch die geringste persönliche Schmähung tief verärgert oder beleidigt sein können, es aber ertragen, dass man den Namen und die Rechte des Herrn in den Schmutz zieht. Dieser glühende Zorn über die Verhärtung seines Vaters war gottgemäss (vgl. damit den Zorn Moses in 2. Mose 11,8 und den des Herrn in Markus 3,5).
Jonathan hat seine letzten Illusionen verloren. Sein Verlassen des Saals ist ein offener Bruch mit seinem Vater, und wer zum ersten Mal von dieser Szene liest, könnte sich fragen: Was wird jetzt geschehen? Wird jetzt Saul seinen Sohn Jonathan ebenso sehr verfolgen wie David? Wird Jonathan von jetzt an David zur Seite stehen, indem er die Schmach Davids für grösseren Reichtum hält als allen Reichtum des Hofes? Das ist ein kritischer Punkt in seinem Leben, eine Stunde der Entscheidung; von seiner jetzigen Haltung wird der Lauf seines weiteren Lebens abhängen.
Er geht zu David aufs Feld hinaus. Beide sind sich in diesem erhabenen Augenblick bewusst, dass diese Begegnung vielleicht die letzte sein wird. David wird fortan das Leben eines Verbannten, eines Verfolgten, eines Heimatlosen führen. Und wenn David auf sein Gesicht zur Erde fällt und sich dreimal niederbeugt, zeigt das nicht, dass er sich völlig unter die geheimnisvollen Wege stellt, die Gott mit ihm geht? In unserem Geist taucht da das Bild eines Grösseren als er auf, das des wahren David, der im Garten Gethsemane auf sein Angesicht fällt und zu seinem Vater sagt: «Dein Wille geschehe», und dreimal dieselben Worte betet. Wenn sich David, ein schwaches Vorbild von Christus, auf seinen Weg der Leiden begibt, empfindet er in seiner Seele die Bitterkeit der Verlassenheit, der Vereinsamung. Er verspürt im Voraus die Ängste, die ihn erwarten. «Sie weinten miteinander, bis David über die Massen weinte» (Vers 41). Wir täuschen uns kaum, wenn wir annehmen, dass die Ursache des tiefen Schmerzes in der Tatsache liegt, dass er diesen Weg der Verwerfung allein zu gehen haben wird, ohne seinen Freund Jonathan.
Für diesen wird die Stunde der Entscheidung zur Stunde der Trennung. Welche Enttäuschung, ihn zu David sagen zu hören: «Geh hin in Frieden! Es sei, wie wir beide im Namen des HERRN geschworen haben. Und David machte sich auf und ging weg; Jonathan aber kam in die Stadt» (1. Sam 20,42-21,1). Ist das jener Jonathan, der sich allem entäusserte, um seinen Freund damit zu bekleiden und der ihn bei seinem Vater auf Gefahr seines Lebens verteidigte? Er hat hier die äusserste Grenze der Hingabe erreicht, deren er fähig ist. Er sieht nicht, dass es ein unvergleichliches Vorrecht wäre, die Leiden und die Verwerfung mit David zu teilen. Eins fehlt ihm: Er ist nicht bereit, Vater, Familie und Haus zu verlassen, um sich mit seinem verachteten David eins zu machen. Ohne Zweifel macht ihm seine Stellung am Hof und seine Achtung für den Vater eine solche Entscheidung sehr schwierig – und wir werden uns hüten, ihn schnell zu verurteilen – aber es ist offensichtlich, dass ein lebendigerer und tieferer Glaube ihn veranlasst hätte, anders zu handeln.
«Und David ging von dort weg und entkam in die Höhle Adullam» (1. Sam 22,1). Dorthin sandte ihm Gott 400 Genossen, die seine Verwerfung mit ihm zu teilen wünschten. Wie oft hat David von seiner Bergfestung denen entgegengeblickt, die daher kamen, um Zuflucht bei ihm zu suchen, in der Hoffnung, Jonathan könnte unter ihnen sein! Wie hat ihn dessen Abwesenheit geschmerzt! Gewiss, Jonathan hat ihn nicht völlig vergessen; er kannte sogar seinen verborgenen Zufluchtsort in der Wüste Siph. Ungeachtet des Zorns seines Vaters kam er, um ihm zu sagen: «Fürchte dich nicht; denn die Hand meines Vaters Saul wird dich nicht finden. Und du wirst König werden über Israel, und ich werde der Zweite nach dir sein» (1. Sam 23,17). Diese Aussage war vermutlich nach den Gedanken Gottes … wenn Jonathan sich mit dem verworfenen David verbunden hätte. Aber auch hier wieder «blieb David im Wald, und Jonathan ging in sein Haus» – Armer Jonathan, statt der Zweite nach David auf dem Thron zu sein, wird er der Erste in dem schrecklichen Gericht sein, das über seinen Vater kommen wird (1. Sam 31,2).
Liebe junge Freunde, welch feierlich ernste Warnung ist doch das Ende der Geschichte Jonathans! Er wurde vor eine Wahl gestellt, wie auch wir so oft, und trotz seiner wahren Zuneigung zu David hat er falsch gewählt. Wie oft kann eine wichtige Entscheidung (die Wahl einer Gattin, eines Gatten, einer Laufbahn usw.) den Lauf unseres Lebens völlig ändern. Probleme können eintreten, die nach menschlichen Begriffen unlösbar scheinen, aber sind wir bereit, Christus nachzufolgen, was immer es auch kosten mag? Wie viele Junge haben wir gekannt, die anfänglich eine wirkliche Liebe zum Herrn an den Tag gelegt, sich dann aber der Welt zugewandt haben, um hier auf der Erde der Schmach des Christus zu entgehen! Wie viele christliche Eltern denken mit Schmerz an ihre Kinder, die in der Stunde der Entscheidung gewählt haben, Christus den Rücken zuzukehren und sich vom Ort der Segnung zu entfernen! Denen, die die Neigung haben könnten, zur Welt abzugleiten, rufen wir mit Trauer die schmerzerfüllten Worte des Herrn an seine Jünger in Erinnerung: «Wollt ihr etwa auch weggehen?» (Joh 6,67). Hat der Prophet Jeremia nicht diesen herzbewegenden Aufruf ergehen lassen: «Kehre zurück, du abtrünnige Israel, spricht der HERR; ich will nicht finster auf euch blicken. Denn ich bin gütig, spricht der HERR, ich werde nicht in Ewigkeit nachtragen. Nur erkenne deine Schuld» (Jer 3,12).